Meilensteine der Einheit

In den Monaten vor der Wiedervereinigung stand keineswegs fest, dass es wieder einen gemeinsamen deutschen Staat geben würde – die Akteure mussten noch zahlreiche Hürden nehmen. Die "Meilensteine der Einheit" erinnern an die wichtigsten Etappen - vom Besuch des Bundeskanzlers in Moskau Anfang Februar 1990 über die "2 plus 4" - Verhandlungen bis zu den Feierlichkeiten zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. 

Kohl Besuch in Moskau – 10. Februar 1990

Es war der entscheidende Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Moskau. Am Abend dieses 10. Februar 1990 hatten sich die beiden das Okay der Sowjetunion zur deutschen Einheit abgeholt. Bis dahin konnte man die Reaktionen des Kremls auf die Vorgänge in Deutschland unterschiedlich bewerten. Aber die Deutschen wollten Klarheit, ob sie sich vereinigen konnten und ob die Sowjetunion vielleicht unannehmbare Bedingungen stellen würde.  Am Ende dieses Tages flossen in einem Moskauer Hotel einige Tropfen edler Getränke. Grund genug gab es: Der Weg zur Einheit war frei!

Freie Wahlen in der DDR - 18. März 1990

Für die meisten Bürger der DDR war es das erste Mal: Sie durften frei wählen, sich zwischen verschiedenen Parteien und Politikern entscheiden. In den Wochen zuvor war das Land von einer Welle von Wahlkampfveranstaltungen überrollt worden. Auch das hatten die Menschen in der DDR noch nie erlebt: Freiwillig kamen bis zu 250.000 Zuhörer zu öffentlichen Auftritten Helmut Kohls oder Willy Brandts. Historisch betrachtet waren die Länder der DDR so etwas wie sozialdemokratisches Stammland. In Gotha und Erfurt haben die entscheidenden Parteitage der frühen SPD stattgefunden, in Weimar hoben Sozialdemokraten die erste deutsche Republik aus der Taufe. Und trotzdem gewann die „Allianz für Deutschland“ – ein Wahlbündnis der CDU - die Wahl und zwar haushoch: knapp 41 Prozent stimmten für den Spitzenkandidaten Lothar de Maizière, die SPD landete abgeschlagen auf Platz 2 mit knapp 22 Prozent.

Die Konstituierung der DDR-Volkskammer - 5. April 1990

Am ersten Arbeitstag der Abgeordneten der neuen DDR-Volkskammer war alles anders als sonst. Die allmächtige SED war verschwunden und deren Chefs bestimmten nicht mehr den Arbeitstakt des Parlaments, das nach westlichem Verständnis nicht mehr als eine Zustimmungsrunde war. Nun saßen Abgeordnete unterschiedlicher Parteien im Parlament, um eine Aufgabe, die kaum größer sein konnte, zu bewältigen: Den Zusammenschluss der beiden Deutschlands zu einem gesamtdeutschen Staat. Am Anfang gab es keine feste Geschäftsordnung, Regeln wurden nach Bedarf über den Haufen geworfen. Aber nach etwas mehr drei Monaten beschlossen die Abgeordneten selbst das Ende ihrer parlamentarischen Karriere: Sie stimmten am 23. August 1990 mit Mehrheit für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach dem Art. 23 des Grundgesetzes. Damit war das Ende der DDR politisch besiegelt.  

Beginn der "2 plus 4" – Verhandlungen in Bonn - 5. Mai 1990

Mitte Februar 1990 hatten die Außenminister der beiden deutschen Staaten mit ihren Amtskollegen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs während der Konferenz „Open Skies“ im kanadischen Ottawa verabredet, eine Verhandlungsrunde zu beginnen, die sich mit allen außenpolitischen und völkerrechtlichen Fragen eines vereinigten Deutschlands beschäftigen sollte. Erst schlugen die Alliierten die Bezeichnung „4 plus 2“ vor. Die Deutschen lehnten vehement ab und bestanden auf „2 plus 4“. Was nach einer sprachlichen Kleinigkeit aussieht, war tatsächlich Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins der beiden deutschen Staaten: 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollten die Deutschen mit den Alliierten sprechen und nicht andersherum. In vier Verhandlungsrunden – Bonn, Ost-Berlin, Paris und Moskau – wurden alle Fragen geklärt, die einer Souveränität Deutschlands bis dahin noch im Wege standen: Zugehörigkeit zur NATO, Grenzen des vereinigten Deutschlands, der Status der geteilten Stadt Berlin, die Truppenstärke der Bundeswehr und viele andere Fragen, die man unter dem Begriff „äußere Aspekte der deutschen Einheit“ – wie es der sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse formuliert hatte – zusammenfassen konnte.  

Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion - 18. Mai 1990

Der Prozess der deutschen Einheit war in vollem Gange, aber noch beabsichtigten viele Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Eines ihrer wichtigsten Argumente war die D-Mark. Die DDR-Bürger wollten ihre „Alu-Chips“, wie die Ostmark spöttisch genannt wurde, loswerden und gegen eine weltweit konvertierbare Währung eintauschen. Aber die entscheidende Frage war, in welchem Verhältnis werden die beiden Währungen gegeneinander getauscht. Während die DDR-Bürger für ein Verhältnis von 1 zu 1 für ihre Löhne und Renten, für staatliche Transferleistungen und ihr Vermögen plädierten, warnten westliche Finanzexperten – unter ihnen der Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl – davor, das tatsächliche Tauschverhältnis von etwa 1 zu 7 außer Acht zu lassen. Es wurde ein Kompromiss, der teuer war, aber offenbar die einzige Möglichkeit bot, sowohl die sozialen Aspekte in der DDR als auch die ökonomischen Sorgen in der Bundesrepublik zu berücksichtigen. 

Das Treffen im Kaukasus - 14. Juli 1990

Inzwischen waren Kohl und Gorbatschow nach anfänglichen Irritationen über einige Äußerungen des deutschen Kanzlers fast schon Freunde geworden. Aber nach wie vor ging es um wesentliche Fragen der deutschen Einheit. Wann würden die sowjetischen Truppen aus der DDR abziehen und zu welchem Preis, wie groß sollte eine zukünftige Bundeswehr sein und könnte sie in der NATO verbleiben. Und schließlich musste geklärt werden, wie viel Geld die UdSSR dafür haben wollte, dass sie die deutsche Einheit überhaupt erst möglich gemacht hat. Die Gespräche fanden an einem idyllischen Ort im Kaukasus statt: Archys. Irgendwo im Nirgendwo stand dem Kreml-Chef ein repräsentatives Haus zur Verfügung. Zwei Tage wurde geredet und am Ende in allen Punkten Einigkeit erzielt: Die Deutschen blieben in der NATO, reduzierten aber ihre Truppenstärke und die Sowjetunion erhielt einen in Milliardenbetrag , über dessen genaue Höhe erfolgreich Schweigen vereinbart wurde.

Der Beschluss der DDR-Volkskammer über den Beitritt zur BRD nach Art. 23 GG - 23. August 1990

Die Volkskammer hatte sich gerade mal drei Monate zuvor konstituiert und nun fasste sie den Beschluss, sich und ihr Land der Geschichte anheimfallen zu lassen. Die DDR-Bevölkerung hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die deutsche Einheit stattfinden sollte und zwar schnell. Aber es bestanden zwei Wege zu diesem Ziel, deren Vor- und Nachteile intensiv hätten abgewogen werden müssen. Aber dazu gab es zu wenig Zeit. Anfang Februar 1990 hatte der KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow eine Kreml-interne Opposition überwunden und konnte sich nach Wochen des Schweigens wieder um die DDR und andere sozialistische Ostblockstaaten kümmern. Später hieß es, das „Fenster zur deutschen Einheit“ habe sich in diesem Moment geöffnet, also war schnelles Handeln angesagt. Zumal sich dieses Fenster im Sommer 1990 wieder schloss und sich die internationale Aufmerksamkeit von der deutschen Wiedervereinigung zum Überfall des Irak auf Kuwait verlagerte. Und tatsächlich waren die wichtigsten internationalen Fragen der deutschen Einheit zwischen dem 10. Februar 1990 und dem 2. August 1990 geklärt.   

Deutsch – deutscher Einigungsvertrag unterzeichnet - 31. August 1990

Etwa eine Woche zuvor hatte die DDR-Volkskammer beschlossen, dass die DDR nach dem Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitreten sollte. Aber trotzdem bedurfte es eines umfangreichen Vertragswerks, um die Details dieses Beitritts zu organisieren. Welche Gesetze galten in welcher Form weiter, wie sollten die Eigentumsverhältnisse derjenigen geregelt werden, die aus den unterschiedlichsten Gründen die DDR verlassen hatten - oftmals nicht freiwillig. Die Liste derartiger Fragen ließe sich beinahe unendlich fortsetzen. Der Beitritt nach Artikel 23 benötigte einen Vertrag, der ebenfalls mögliche Beitritt nach Artikel 146 hätte bedeutet, dass sich beide Staaten eine neue und gemeinsame Verfassung hätten geben müssen. Es sprach vieles dafür, diesen Weg zu gehen – schließlich war das Grundgesetz als Provisorium bis zu dem Tag gedacht, „an dem in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands“ vollendet sein würde - so stand es in der Präambel des Bonner Grundgesetzes von 1949. Aber eine neue Verfassung hätte man nicht in wenigen Wochen schreiben können, es hätte eine Vielzahl von Staats- und Völkerrechtlern mit Arbeit versorgt und am Schluss hätte ein Entwurf von der Bevölkerung diskutiert werden müssen, bevor es schließlich vom Parlament oder in einer Volksabstimmung beschlossen worden wäre. Dafür hätte man mehrere Jahre veranschlagen müssen, in denen die beiden Staaten dann zwar gemeinsam, aber doch nach den jeweils eigenen Verfassungen agiert hätten.  

Die Unterzeichnung des "2 plus 4" – Vertrags - 12. September 1990

Die Unterschriften unter diesen Vertrag waren die „i-Tüpfelchen“ auf dem Weg zur deutschen Einheit. Und dieser Vertrag war in der Tat ein Meilenstein, weil er nicht nur alle außenpolitischen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung regelte, sondern auch zum Ausdruck brachte, dass die Unterzeichnerstaaten den Willen hatten, gemeinsam eine friedliche Zukunft in und für Europa zu gestalten.  Der Abend des 11. September 1990 verlief allerdings alles andere als ruhig. Immer wieder musste der britische Außenminister Douglas Hurt übermitteln, dass seine Chefin Margaret Thatcher aus 10 Downing Street, London unentwegt Veränderungen fordere, die von der Sowjetunion nicht zu akzeptieren waren. Bis weit nach Mitternacht beherrschte eine „Diplomatie im Bademantel“, wie es der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher genannt hat, die Moskauer Nacht. Am Mittag des nächsten Tages wurde dann doch die ursprüngliche Fassung unterschrieben. Aber das Gesicht Michail Gorbatschows auf den Photos nach der Unterzeichnung lässt den Stress erkennen, der auf ihm im September 1990 lastete. Und in der Tat: Er ging schweren Zeiten entgegen.       

Die Deutsche Einheit - 3. Oktober 1990

329 Tage hat es gedauert vom Fall der Berliner Mauer in der „Nacht der Nächte“ am 9. November 1989 bis zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. An jenem Tag lagen sich all jene staunend in den Armen, die in diesem Zeitraum einen historischen Prozess erlebt haben, den es so nicht noch einmal geben kann. Getrieben vom Ruf der Straße nach einer schnellen Einheit, eingepfercht zwischen weltpolitische Ereignisse, deren Fortgang die Deutschen nicht beeinflussen konnten, haben die Deutschen in Ost und West Erstaunliches geleistet. Sie haben sich in wenigen Monaten eine Ordnung gegeben, die im Osten mehr als im Westen das Leben veränderte. Sie haben den Sozialstaat in die fünf neuen Bundesländer exportiert, ohne dass dort je eine einzige Mark in die Kassen dieses Systems eingezahlt worden wären – wie denn auch. Sie haben bald danach einen Aufbauplan entworfen („Aufbau Ost“), mit dem die neuen Bundesländer viel Geld bekamen, um eine moderne Infrastruktur aufzubauen. Aber dabei haben sie etwas vergessen: Der Neubeginn in einem gemeinsamen deutschen Staat war nicht nur eine materielle Frage, wenngleich sie sehr wichtig war. Es hätte einer größeren Fürsorge von West nach Ost bedurft, mehr Anerkenntnis von ostdeutschen Lebensleistungen, die unter anderen Umständen gleichwertig mit den Leistungen in der alten Bundesrepublik waren. Im Westen waren die Veränderungen weniger tief und weniger schmerzhaft und meistens mit Geld zu regeln. Wenn man sich am Beginn der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts auf den Demonstrationen in Ostdeutschland aber umhört, dann kann man viel von diesem Frust finden, der in den Tagen der deutschen Einheit seinen Anfang nahm. Aber auch das gehört dazu: Es waren die Menschen in der alten DDR, die Jahre lang alles hinter sich lassen wollten, was auch nur annähernd nach der verhassten DDR roch oder schmeckte. Und das Ergebnis ist dann, dass tatsächlich nicht viel von der alten DDR übrig geblieben ist.