Deutsche Kanzler
So unterschiedlich ihre Charaktere und politischen Überzeugungen waren, so sehr ähnelten sie sich in ihrem Engagement für einen Staat, der auf den Trümmern des Größenwahns der NS-Ideologie aufgebaut wurde und alles daran setzte, eine Wiederholung der unseligen Vergangenheit zu vermeiden. Jeder von ihnen hatte große Bewährungsproben zu bestehen und nicht selten wuchsen sie mit diesen Herausforderungen und gewannen an politischer Größe. Die sieben Kanzler stehen für mehr als 50 Jahre, in denen die Bundesrepublik Deutschland zu einem friedliebenden und stabilen Teil der europäischen Friedensordnung geworden ist.
Konrad Adenauer – der Alte
Konrad Adenauer machte seinem Beinamen „der Alte“ von Anfang an alle Ehre. Am 15. September 1949 war es seine Stimme, die entschied, dass er der erste Kanzler der jungen Bundesrepublik wurde. Als Vorsitzender des Parlamentarischen Rates hatte er an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitgewirkt und war über die Grenzen seiner Köln-Bonner Heimat bekannt geworden. Seine unbestritten größte politische Leistung war die Integration der jungen Bundesrepublik in die westliche Werte- und Schutzgemeinschaft. Beginnend mit der Montanunion setzte er im März 1957 seine Unterschrift unter die Römischen Verträge und sorgte so dafür, dass die Bundesrepublik Teil des freien europäischen Binnenmarktes wurde. Dieser politische Kurs war nicht unumstritten, weil viele Menschen fürchteten, durch eine zu enge Bindung an den Westen, die in der DDR und Teilen von Polen befindlichen „deutschen Ostgebiete“ für immer zu verlieren. Tatsächlich integrierte sich die DDR spiegelbildlich in die östliche Wertegemeinschaft einer sozialistischen Wirtschaftsordnung. Als am 15. Oktober 1963 Adenauers 14-jährige Amtszeit endete, war das Verhältnis zwischen den beiden Staaten von Misstrauen und Konflikten gekennzeichnet.
Ludwig Erhard – Vater der sozialen Marktwirtschaft
Als Ludwig Erhard am 16. Oktober 1963 zum Bundeskanzler gewählt wurde, warnte er vor dem „Weg in die Zukunft, der voller Gefahren“ bleibe und „Mut, Gewissen und Solidarität“ erfordere. Er war ein Vertrauen erweckender rundlicher Mann – stets mit einer qualmenden Zigarre im Mund -, dem der Ruf vorauseilte, der „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ zu sein. Dieses Erfolgsmodell der Nachkriegszeit hat den Deutschen innerhalb weniger Jahre einen erstaunlichen Wohlstand gebracht. Das „Wirtschaftswunder“ war natürlich nicht allein auf Erhard zurückzuführen, aber er konnte die Politik jener Jahre am besten erklären und somit „verkaufen“. Ludwig Erhard und die brummende Wirtschaft sind Synonyme. Die Deutschen vertrauten ihm und bescherten dem Kanzler bei der Bundestagswahl 1965 umjubelten Wahlsieg für die Union: 47,6 Prozent war das zweitbeste Ergebnis seit 1949. Aber es dauerte nicht lange, bis seine politische Karriere einen Knick bekam, von dem er sich nicht mehr erholte. Der Grund war eine Wirtschaftskrise, die ausgerechnet jener Mann managen musste, der seit fast 20 Jahren nichts anderes als ökonomische Erfolgsmeldungen kannte. Aber nun stand er vor scheinbar unlösbaren Problemen und musste erkennen, dass sich die Stimmung selbst in seiner eigenen Bundestagsfraktion gegen ihn verkehrt hatte. Am 1. Dezember 1966 zog Ludwig Erhard die Konsequenzen und trat - nicht ganz freiwillig, aber auch nicht im Groll - zurück.
Kurt Georg Kiesinger – Kanzler der großen Koalition
Mit Kurt Georg Kiesinger trat Ende 1966 ein beliebter baden-württembergischer Ministerpräsident das Amt des Kanzlers an. Er übernahm die Regierungsgeschäfte in turbulenter Zeit. Die CDU hatte lange mit seinem Vorgänger Ludwig Erhard gehadert, der Dauerkoalitionspartner FDP ließ die Regierungskoalition wegen eines Streits um Steuererhöhungen platzen, ging in die Opposition, reformierte ihr Parteiprogramm und wählte Walter Scheel zu ihrem neuen Vorsitzenden. Anstelle der FDP trat die SPD in die Regierung ein. Damit war die erste große Koalition entstanden, die zwar häufig als ein „Übergang“ zwischen der von Beginn an regierenden CDU/CSU zur SPD bezeichnet wird. Aber sie war weit mehr als das. Kanzler Kiesinger und Außenminister Brandt begannen den Aussöhnungsprozess mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten Europas, der in der sozial-liberalen Koalition ab 1969 in die Ostpolitik mündete. Kurt Georg Kiesinger stand aber nicht nur für die erste große Koalition, sondern er war wegen seiner seit 1935 bestehenden NSDAP-Mitgliedschaft bei Teilen vor allem der jüngeren Generation Ziel von Spott und Hass. Mit Beginn des Krieges war Kiesinger in der Rundfunkabteilung des Außenministers dienstverpflichtet worden und zum Abteilungsleiter aufgestiegen. Zwar entlastete ihn ein Sitzungs-Protokoll des Reichssicherheitshauptamtes, aber den Ruf des „alten Nazis“ wurde er nicht mehr los.
Willy Brandt – Kanzler der Aussöhnung
Als Willy Brandt am 28. Oktober 1969 mit den Stimmen der FDP zum neuen Kanzler gewählt wurde, lagen fünf Lebensjahrzehnte hinter ihm, die ihn nicht nur persönlich, sondern auch politisch geprägt hatten. Als Angehöriger einer linken Jugendorganisation, später der SPD musste er vor den Häschern der Nationalsozialisten nach Norwegen fliehen. Dort überlebte er den Zweiten Weltkrieg und die Verfolgungen politisch Andersdenkender. Zurück in der Bundesrepublik engagierte er sich im Berliner Senat, wurde SPD-Abgeordneter und schließlich als Nachfolger von Otto Suhr am 3. Oktober 1957 zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Er erlebte hautnah die Konsequenzen der geteilten Stadt, den Mauerbau und das Leid der vielen getrennten Familien. Gemeinsam mit seinem Sprecher Egon Bahr entwickelte er das Konzept einer Ostpolitik, die von der Idee „Wandel durch Annäherung“ getragen war. Diese Ostpolitik setzten Willy Brandt als Regierungschef und Walter Scheel als Außenminister zwischen 1969 und 1972 in die Tat um. Sie schlossen Verträge mit der UdSSR, Polen und der CSSR, sowie einen deutsch-deutschen Grundlagenvertrag und erreichten, dass die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ein neues Viermächteabkommen schlossen. Die Ostpolitik der Regierung Willy Brandts und die Westintegration der Regierung Adenauer sind die beiden Pfeiler, auf denen die Politik der Bundesrepublik seit mehr als 50 Jahren steht. Zudem ist die deutsche Wiedervereinigung ohne diese beiden politischen Grundentscheidungen nicht vorstellbar.
Helmut Schmidt – Manager der Macht
Als Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 vom Deutschen Bundestag zum Nachfolger des zurückgetretenen Willy Brandt gewählt wurde, war er sich keineswegs sicher, der richtige Mann für das Amt des Bundeskanzlers zu sein. Parteifreunde hatten ihn gedrängt und darauf verwiesen, dass er vorher schon Verteidigungs-, Finanz- und Wirtschaftsminister gewesen sei. Dabei wurden von ihm ganz andere Qualitäten gefordert, als erwartet. Der „deutsche Herbst“ 1977 war von zahlreichen Terroranschlägen der „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) und Entführungen gekennzeichnet. Besonders die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer stellte Staat und Politik auf die Probe. Kanzler Schmidt machte in einer TV-Ansprache den Entführern klar, dass der Staat nicht erpressbar sei und entsprechende Verhandlungen nicht stattfinden würden. Trotz einer großangelegten Suchaktion, bei der haarsträubende Fehler gemacht wurden, konnte Hanns Martin Schleyer nicht gefunden werden. Am 18. Oktober 1977 wurde seine Leiche im Kofferraum eines im elsässischen Mühlhausen abgestellten Autos gefunden. Helmut Schmidt war hart geblieben, hat sich als Manager einer Krise bewährt, in der es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben konnte. Eine zweite Krise meisterte er nicht. Als auf sein Betreiben der NATO-Doppelbeschluss gefasst wurde, durch den unter Androhung einer weiteren Aufrüstung des Westens der Osten zu einer beiderseitigen Abrüstung von nuklearen Mittelstreckenraketen gebracht werden sollte, verlor er den Rückhalt in seiner Partei. Eine Mehrheit der SPD rebellierte gegen den Doppelbeschluss und leitete damit das Ende von Schmidts Kanzlerschaft ein. Er wurde am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum von Helmut Kohl im Amt des Bundeskanzlers abgelöst.
Helmut Kohl – Kanzler der Einheit
Helmut Kohl wurde am 1. Oktober 1982 mit dem zweiten konstruktiven Misstrauensvotum der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zum Kanzler gewählt. Der erste Versuch war 1972 gescheitert, als der CDU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel den damalige Kanzler Willy Brandt ablösen wollte. Später stellte sich heraus, dass einige Unionsabgeordnete vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit bestochen worden waren. Die Rolle des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Wienand, bei dieser Bestechungsaffäre konnte nie ganz aufgeklärt werden. Nachdem der erste Teil seiner Kanzlerschaft von einigen Pannen gekennzeichnet war und es sowohl in der eigenen Partei als auch in der Bevölkerung rumorte, konnte er sein politisches Image durch den mit dem Fall der Mauer beginnenden Prozess der deutschen Einheit drastisch verbessern. Helmut Kohl wurde zu einem in der Welt geachteten Staatsmann, der mit Geschick und einem ausgeprägten Gespür für das politisch Mögliche die deutsche Wiedervereinigung organisierte. Aber der „Kanzler der Einheit“ wird kurz nach dem Ende seiner Amtszeit von einer Spendenaffäre eingeholt, die ihn als Sammler von illegalen Spenden für die CDU auswies. Auch als klar wurde, dass seine Partei davon in Mitleidenschaft gezogen würde und er den Ehrenvorsitz aufgeben musste, schwieg er über die Herkunft der Gelder bis zu seinem Tod. Er habe den Spendern sein „Ehrenwort“ gegeben, das er unter keinen Umständen brechen werde.
Gerhard Schröder – Kanzler der Reformen
Gerhard Schröder wurde bei der Bundestagswahl 1998 zum Kanzler gewählt. Damit löste die SPD in einer Koalition mit den Grünen den seit 1982 amtierenden Kanzler Helmut Kohl ab. Schröder ist in die Geschichte des Landes als Kanzler der Reform des Arbeitsmarktes und der Deregulierung des Finanzmarktes eingegangen. Beides hat langfristige Folgen nach sich gezogen, die das Land verändert haben. Während es am unteren Ende der sozialen Skala eine wachsende Zahl von Menschen in prekären Verhältnissen gab und gibt, nimmt am oberen Ende der Einkommensskala die Zahl der Superreichen immer mehr zu. Noch Jahre nach seiner Kanzlerschaft, die 2005 endete, spürt die SPD den ungeheuren Vertrauensverlust, den die „Hartz IV“ – Reformen bei dem ehemals der SPD nahe stehenden Klientel angerichtet haben.