Akte Europa
Akte Europa
Ein Überfall mit Folgen – das Reich Karls des Großen
732 - 816
... und sie ahnen natürlich nicht, was sich im fernen Petersdom zu Rom zur gleichen Zeit ereignet. Ihr König, der etwa 50Jährige Karl, ist Gast des Papstes in der Basilika des Apostel Petrus. Die beiden wollen aber nicht nur das Weihnachtsfest gemeinsam feiern. Vielmehr gibt es handfeste politische Gründe, die den Frankenkönig veranlasst haben, den beschwerlichen Weg über die Alpen zum heiligen Vater in Rom an- zutreten. Das Treffen der beiden Potentaten wird nicht nur historische Bedeutung erlangen, sondern es hat auch eine Vorgeschichte.
Leo III. wird am 26. Dezember 795 zum Papst gewählt. Als erste Amtshandlung übergibt der frisch gebackene apostolische Oberhirte den Schlüssel zum Grab des Heiligen Petrus als Zeichen seiner Treue dem fränkischen König Karl und das Banner der Stadt Rom, auf das der Besitzer des Banners „Herr der römischen Miliz“ werde. Das ruft den Zorn einiger römischer Familien hervor, die fortan dem armen Mann das Leben schwer machen. Am Markustag, dem 25. April 799, wird Leo III. während einer feierlichen Bittprozession von Häschern seiner Feinde in vollem Ornat vom Pferd gerissen und in den Staub vor St. Peter gestürzt. Die Angelegenheit wird lebensbedrohlich, als die Täter damit beginnen, die päpstliche Zunge herauszuschneiden und ihn zu blenden. Sie lassen den Gequälten zunächst in seinem Blut liegen, bevor sie ihn in ein nahe gelegenes Kloster verschleppen. Aber die Angreifer sind nicht brutal genug vorgegangen, den dem apostolischen Oberhirten bleiben sowohl die Sprechfähigkeit als das Augenlicht erhalten, was Zeitgenossen und Historikern als Wunder erscheint. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat flieht Leo III. im April 799 nach Paderborn, wo er sich mit dem Frankenkönig trifft. Die Annalen berichten von intensiven Gesprächen zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Herrscher, über deren Inhalt aber - offensichtlich erfolgreich - Stillschweigen bewahrt wird, denn bis heute wissen wir nicht genau, worüber die beiden tatsächlich gesprochen haben. Vermutlich diskutieren sie über die politische Lage in Rom und die Vorwürfe, denen sich Leo III. ausgesetzt sieht: Meineid und Ehebruch! Zudem geht es unter vier Augen wohl um die Beziehungen zwischen den beiden, denn Karl, der König der Franken, strebt nach mehr Macht und Einfluss und dabei kann ihm ein wohl gesonnener Papst nur Recht sein.
Zurück in Rom holt der Ärger seiner Widersacher den Papst wieder ein. Jene finsteren Zeitgenossen lauern ihm eines Tages auf, reißen den frommen Mann von seinem Pferd, verprügeln ihn, schneiden Teile der päpstlichen Zunge heraus, blenden seine Augen und bringen den so geschundenen Körper in ein nahe gelegenes Kloster. Ein Überfall mit weltpolitischen Folgen! Die Urheber dieses Frevels spekulieren nämlich darauf, den missliebigen Papst auf diese Weise los zu werden und einen anderen auf den Stuhl Petri zu hieven. Sie haben aber nicht mit der Courage eines Kämmerers des Papstes gerechnet, der unter höchster Gefahr für Leib und Leben einen Boten zum König der Franken mit einer entsprechenden Botschaft schickt. Als Karl von dieser Tat erfährt, beschließt er dem in Not geratenen obersten Christen zu helfen und holt ihn zu sich in ein Heerlager. Dort garantiert Karl dem verängstigten Papst Hilfe und komplimentiert ihn wieder nach Rom zurück – mit dem Versprechen, alsbald vor den Toren des Kirchenstaates zu erscheinen, um die aus dem Lot geratenen politischen Verhältnisse rund um den Petersdom wieder zu ordnen.
Kaiserkrönung
Zur Einlösung dieses Versprechens kommt es im Herbst 800. Leo III. sendet erneut ein Hilfeersuchen an den fränkischen König Karl, der sich - wie versprochen - Ende November 800 nach Italien aufmacht. Der Papst eilt ihm entgegen und begrüßt ihn eine knappe Tagesreise von Rom entfernt mit „höchster Verehrung“, wie überliefert ist. Nach einem guten Essen reist Leo III. wieder zurück in die „ewige“ Stadt, wo er seinen Retter am nächsten Tag mit den Bischöfen und dem gesamten Klerus auf den Stufen der Basilika des Apostel Petrus empfängt. Nach Beendigung der Formalitäten macht sich Karl daran, die Vorwürfe gegen den Papst zu prüfen. Seine Gegner halten dem Papst Meineid und – wie es noch häufiger auch bei anderen Päpsten geschehen wird – sexuelle Ausschweifungen vor. Diese Vorwürfe werden durch einen selbst- reinigenden Eidesschwur des Beklagten aus der Welt geschafft und dem großen Ereignis am nächsten Tag steht nichts mehr im Wege.
In den „Reichsannalen“ des fränkischen Herrschers ist festgehalten, was sich an jenem denkwürdigen und für die Geschichte Europas folgenschweren Weihnachtstag des Jahres 800 vor dem Altar der Peterskirche in Rom abgespielt hat: „Als er (Karl) am hochheiligen Weihnachtstag die Basilika des heiligen Apostels Petrus zur Messefeier betreten hatte und vor dem Altar geneigt stand, setzte ihm Papst Leo unter Beifallsrufen des gesamten römischen Volkes eine Krone aufs Haupt.“ Nachdem Leo III. dem betenden Karl, wie zur Überraschung, von hinten die Krone des römischen Kaisers aufs Haupt gesetzt hat, wirft er sich auf die Knie und huldigt dem neuen Kaiser. Während Karl mit scheinbar erstauntem Gesichtsausdruck Mittelpunkt dieses Spektakels ist, beginnen im gleichen Moment die Geistlichen mit der Krönungslitanei, die anwesenden Bürger Roms mit heftigem Applaus und der Papst mit der rituellen Fußsalbung. Mit dieser Zeremonie ist aus dem König der Franken ein römischer Kaiser geworden, dessen Machtbereich sich über ganz Europa ausbreitet! Ein wahrhaft historischer Moment, der von einem Mann überliefert ist, der keinen Millimeter von der Seite seines Herrn weicht und jede seiner Regungen für die Nachwelt festgehalten hat: Karls Hofschreiber Einhart.
Einhart ist eine schillernde Figur, dessen Texte in den nachfolgenden Jahrhunderten mehrfach gefälscht werden. Zu Lebzeiten des Frankenkönigs bastelt der Hofschreiber jedenfalls an einem Image seines Herrn, das aus Karl einen mittelalterlichen Superstar macht. In seiner Biographie über den großen Franken liest sich der Vorgang im Petersdom so: „Zuerst war er (Karl) sehr dagegen, er versicherte, hätte er die Absicht des Papstes gekannt, so hätte er an diesem Tage die Kirche überhaupt nicht betreten.“ Vorgeblich ist Karl von dem Plan des Papstes überrascht. An dieser Darstellung sind aber Zweifel angebracht, auch wenn Kaiser Karl nicht müde wird über Einhart verbreiten zu lassen, der Papst habe ihn überrumpelt und er sei – quasi gegen seinen Willen – mit diesem hohen Amt betraut worden. Zutreffender ist wohl, dass Karl sehr wohl mit der Kaiserkrone spekuliert und er bei seinen diversen Treffen mit dem Papst darüber gesprochen hat, wie der Coup erst eingefädelt und dann durchgezogen werden könnte. Zudem werden in den Tagen zuvor kunstvolle Lobgesänge eingeübt, die einen erheblichen Lärm verursachen. Es ist kaum vorstellbar, dass nicht irgendein Franke von den musikalischen Bemühungen etwas mitbekommt und seinem König davon berichtet. Nutznießer dieser Aktion sind jedenfalls beide: Der römische Kaiser an seiner Seite, so hofft Leo III., würde seine eigene Position – und die seiner Nachfolger - in Rom stärken. Mit dem Krönungscoup hat der Papst die weltliche und militärische Gewalt an die geistliche Macht zum Schutz des Kirchenstaats gebunden. Und für Karl beginnt am heiligen Abend 800 ein neuer Abschnitt seiner Herrschaft: Als fränkischer König hat er die Basilika betreten, als römischer Kaiser, der nicht mehr „Patricius“, sondern „Augustos“ genannt wird, verlässt er sie wieder. In dem Moment, in dem der Papst dem König der Franken die Kaiserkrone aufs Haupt setzt, tritt der europäische Kontinent aus dem Schlagschatten des Römischen Reichs heraus. Das vom antiken Rom hinterlassene Machtvakuum ist beendet und es beginnt eine historische Epoche, die eine wechselvolle Geschichte für die Deutschen mit sich bringen wird. Für das neue Jahrhundert scheint sich die Krönung in Rom zunächst einmal segensreich auszuwirken: Geistliche und weltliche Macht sind vereint und für einige Jahre kehrt Ruhe ein – sowohl im Frankenland als auch in Oberitalien, in dessen Mitte der Kirchenstaat liegt. Karl der Große ist mit der Kaiserkrone auf dem Haupt Herrscher über einen Flächenstaat von bis dahin ungekannten Ausmaßen.
Die Karolinger
Über das Geburtsjahr Karls sind sich die Historiker nicht ganz einig, fest steht, dass er zwischen 740 und 750 geboren wird. Seinen jüngeren Bruder Karlmann kann er nicht ausstehen und als beide Brüder nach dem Tod ihres Vaters Pippin III. Könige werden, halten sie möglichst großen Abstand zwischen sich. Der frühe Tod seines Bruders Karlmann nährt seit je her die Spekulation, Karl habe ihn ermorden lassen. Wie auch immer: Karl sichert sich nach dem Tod seines Bruders die Alleinherrschaft und schiebt – eine damals gern gewählte Methode - dessen Familie in ein möglichst weit entfernt gelegenes Kloster ab. Karl spricht den althochdeutschen, fränkischen Dialekt, der schon zu seiner Zeit als „lingua theodisca“ („Sprache des Volkes“) oder „deutsch“ bezeichnet wird. Zudem spricht er fließend Latein und etwas weniger flüssig auch Griechisch. Lesen und Schreiben gehören nicht zu seinen Stärken, dafür hat er seine Leute – zum Schreiben und zum Vorlesen. Der Frankenkönig ist um die Jahrhundertwende zweifellos der mächtigste Mann in Europa. Kaum ein Stammesherzogtum kann seinem wilden Ansturm widerstehen. In vielen, grausamen Schlachten unterwirft der Franke alles, was um sein eigenes Stammland versammelt ist: Die Langobarden, die Bayern, die Awaren, auch Friesland wird in das fränkische Herrschaftsgebiet nach brutalen Kämpfen eingegliedert.
Einzig die Sachsen machen ihm Schwierigkeiten: Die Kriege mit ihnen dauern bis 804. Die Sachsen werden von ihrem Herzog Widukind angeführt, der dem Frankenkönig an der Ostgrenze seines Reiches schwere Verluste zufügt. Der blutige Höhepunkt der fränkisch-sächsischen Kriege findet im Jahr 782 statt, nachdem sächsische Heere im fränkischen Grenzgebiet schwere Verwüstungen angerichtet haben. Als Revanche lässt Karl in Verden an der Aller nahezu 5.000 sächsische Krieger hinrichten. Diese wahnsinnige Bluttat bringt ihm nicht ganz zu Unrecht später den Namen „Sachsenschlächter“ ein. Nachdem ihr Widerstand bis 804 endgültig gebrochen ist, werden auch die Sachsen Teil des fränkischen Reiches von Karl dem Großen. Karl ist der Enkel von Karl Martell, der später mit dem schmückenden Beinamen „der Hammer“ versehen wird, weil jener Karl Martell in einer opfervollen Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahr 732 arabische Heerscharen geschlagen und so das Frankenreich vor einer muslimischen Eroberung bewahrt hat. Zum ersten Mal verwendet 732 ein unbekannter Chronist dieser Schlacht den Begriff Europäer für die Streitmacht Karl Martells. Die „europenses“, so berichtet er, hätten die muslimischen Invasoren, die sich von Spanien nach Aquitanien und in die Provence vorgekämpft hatten, in die Flucht geschlagen und seien anschließend wieder in ihre verschiedenen „patriae“, also Heimatländer, zurückgegangen. Auch wenn Franken, Sachsen und Bayern oder Alemannen, Burgunder und Aquitanier sonst nicht viele Gemeinsamkeiten haben und sich kaum kennen, identifizieren sich die Bedrohten als Angehörige einer Gruppe – als Europäer. Der Chronist hat festgehalten, was die Menschen in der Mitte des europäischen Kontinents noch viele Jahrhunderte kennzeichnen wird: Sie verstehen sich als Thüringer, Sachsen oder Franken und nicht als „Deutsche“.
Das oströmische Kaisertum in Konstantinopel
Die Geschichte der oströmischen Kaiser beginnt mit der Regentschaft Konstantins I., der Konstantinopel, das antike Byzanz, im 4. Jahrhundert n. Chr. zur Hauptstadt der östlichen Hälfte des mächtigen Römischen Reiches macht. Die oströmischen Kaiser müssen in der Folgezeit ihr Augenmerk gen Osten richten, denn vor dort rücken persische Heere gegen sie vor. Nach dem Ende des (west-)römischen Reichs bleibt der oströmische Kaiser noch lan- ge das juristische und politische Oberhaupt der Päpste, gleichwohl diese sich nicht besonders gut beschützt fühlen. Der Weg von Konstantinopel nach Rom ist zu weit, zumal die langobardischen Widersacher der Päpste in Oberitalien sozusagen vor der Haustür des Vatikans stehen. Ein innerkirchlicher Streit über die Heiligendarstellung führt im 8. Jahrhundert dazu, dass der oströmische Kaiser Leon III. durch Konfiskationen und harte Steuern den Vatikans an den Rand des Ruins bringt. Das bringt – notgedrungen - die Päpste näher an die fränkischen Könige. Zwischen 800 und dem Ende des 12. Jahrhunderts erlebt Konstantinopel den Höhepunkt seiner Macht. Die Araber werden in Kleinasien zurückgeschlagen, Russland und Bulgarien christianisiert. Unter dem Kaiser Basileios II. wird Konstantinopel zur Großmacht und erweitert seinen Besitz in Armenien, Georgien und Bulgarien. Den oströmischen Kaisern gelingt es zwar die Perser zurück zu drängen, doch erwächst ihnen im eben entstandenen Islam ein neuer, sehr viel hartnäckigerer Gegner. Zu- dem sind Zerfallserscheinungen nicht zu übersehen: Großgrundbesitzer bereichern sich auf Kosten von Soldaten und Bauern; die Währung verfällt, die Staatseinnahmen gehen zurück, weil Klöster und Großgrundbesitzer keine Abgaben zahlen; Handel und Wirtschaft gehen immer mehr zu Grunde. Die Kreuzzüge, die 1096 beginnen und rund 200 Jahre andauern, belasten das oströmische Kaiserreich. Gleichzeitig können Einfälle der Normannen nicht mehr abgewehrt werden, in Griechenland gehen 1185 das Seiden-Monopol und das Handelszentrum Thessaloniki verloren. Das oströmische Reich ist instabil und durch Wirtschaftskrisen zerrüttet, als im April 1204 die Hauptstadt Konstantinopel von aufgebrachten Kreuzrittern erobert und ge- plündert wird. Mit der darauf beschlossenen Teilung des oströmischen Reiches ist der spätere Untergang vorprogrammiert.
Im 14. Jahrhundert kommt es noch mal zu einer bescheidenen Blüte, die Macht der oströmischen Kaiser beschränkt sich aber auf die Stadt selbst und auf die engere Umgebung der einstigen Metropole. Am 29. Mai 1453 wird Konstantinopel durch Sultan Mehmet II. eingenommen. Das markiert das endgültige Ende des alten byzantinischen Reichs und die Durchsetzung der osmanischen Herrschaft in Südosteuropa. Zahlreiche Künstler und Intellektuelle fliehen nach Europa, wo sie die aufkommende Renaissance und den Humanismus befruchten.
Wahrscheinlich gehört die Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahr 732 zu den bedeutendsten des Jahrhunderts, weil sie das weitere Vordringen der Erben Mohammeds ins Frankenreich verhindert. Muslimische Heere haben sich im 7. und 8. Jahrhundert im Mittelmeerraum, in Syrien, in Ägypten, in Spanien und Teilen Afrikas festgesetzt. Ihr Einbruch in die christliche Welt Europas und in den von der mächtigen Stadt Konstantinopel beherrschten asiatischen Raum hat zu einer neuen Mächtekonstellation geführt, in der die Kalifate von Bagdad und Kairo zu einer Bedrohung für die christliche Welt geworden sind. 732 jedenfalls gilt Karl Martell als „Retter des Abendlandes“ offensichtlich in der Annahme, dass ein muslimisches Europa die schlechtere Alternative ist. Er ist nicht der letzte europäische Feldherr, der gegen die „Ungläubigen“ – wie es die christliche Lehre verkündet – zu Felde zieht. Seine Heldentaten machen ihn zum unumstrittenen Anführer der Franken. Karl der Hammer verleibt seinem Reich anschließend noch diverse rechtsrheinische Stammesgebiete ein, sodass er seinem Sohn Pippin III. ein ziemlich machtvolles, aber noch nicht so großes Reich vererben kann. Groß wird das Reich erst, als jener Pippin III. einen in seinen Augen unfähigen Merowinger vom Königsthron stürzt und so das Frankenreich vereinigt. In der mittelalterlichen Gedankenwelt sind gewonnene Schlachten das eine, das andere ist der geistliche Segen, der einer jeden weltlichen Herrschaft verliehen werden muss. Und dafür ist der Papst in Rom zuständig. So trifft es sich für Papst Stefan II. prächtig, dass Pippin III. die apostolische Legitimation durch das Oberhaupt der römischen Kirche wünscht und er sich deshalb an den fränkischen König mit einem Kuhhandel wenden kann. Er, der Papst, würde Pippin III. (und seine Söhne gleich mit) salben und ihm den Titel „patricius romanorum“ verleihen, wenn er, Pippin III., ihm Schutz gegen den Langobardenfürsten Aistulf gewährt. Angesichts der wilden Entschlossenheit der Langobarden, sich des Nordens der italienischen Halbinsel zu bemächtigen, sind die Sorgen des Papstes zu Recht groß, schließlich ist er verantwortlich für den Fortbestand einer angemessenen Repräsentanz seines Herrn auf Erden. Würde die Stadt Rom eingenommen und vielleicht noch einmal – wie bei den Vandalen im Jahr 455 – geplündert werden, könnte das Ende der religiösen Oberhoheit über das christliche Abendland eingeläutet sein.
Die apostolische Angst ist real, denn die Langobarden, die 741 Ravenna schon eingenommen haben, liegen nun – im Jahr 754 – mit ihren Truppen in bedrohlicher Nähe vor den Toren Roms. Der Verlockung des geistlichen Segens kann Pippin III. nicht widerstehen, sodass er dem besorgten Papst einen Feldzug gegen den langobardischen Fiesling Aistulf garantiert, den er in den folgenden Jahren auch erfolgreich durchführt. Dieser Schutzdeal, der 754 zwischen Pippin III. und Papst Stefan II. geschlossen wird, ist die „Pippinsche Schenkung“. Nach erfolgreichen Schlachten ge- gen die Langobarden übereignet der fränkische König nämlich dem Papst die Städte Rom und Ravenna, sowie die so genannte Pentapolis, ein Gebiet in Mittelitalien zwischen Rimini und Ancona. Das ist fortan der Kirchenstaat, der - immer wieder um- kämpft – in seinen Restbeständen noch heute besteht. Ab 754 ist der fränkische König also de facto der Schutzherr des Papstes und erhält als Gegenleistung die Unterstützung des obersten Christen. Auf den ersten Blick ist das ein gelungener Coup für beide Seiten: Der Papst kann sich in Sicherheit wiegen und der König hat die Macht der Kirche für sich gewonnen.
Karl der Große – Gotteskrieger und Lebemann
Karl ist ein religiöser Mensch und akzeptiert die Vorstellung einer Einheit zwischen den beiden Mächten. Das entspricht der Denktradition seiner Zeit, die die Welt von Gott geleitet sieht. Karls Kriege dienen dementsprechend einerseits seiner Machterweiterung, andererseits aber auch der Ausbreitung des Christentums. Zu diesem Zweck lässt er seine Gegner nach jeder gewonnenen Schlacht zwangsweise taufen. Karl ist ein regelrechter Gotteskrieger und strahlt auf die schlichten Gemüter seiner Zeitgenossen den Nimbus des Unbesiegbaren aus. Während er einerseits den religiösen Geboten gehorcht, lebt er privat durchaus weltlich. Karl ist verheiratet mit Hilmitrud und ehelicht gleichzeitig auf Betreiben seiner Mutter die langobardische Prinzessin Desiderata. Darüber hinaus erfreut er sich der Aufmerksamkeit vieler an- derer so genannter „Friedelfrauen“. Solche Konkubinen sind in dieser Zeit des Mittelalters nicht ungewöhnlich. Derartige Verbindungen lassen sich unproblematisch auflösen, wobei die Partner wieder in den Schoß ihrer Familien zurückkehren. Der Mann hat lediglich für die Kinder einer solchen Nebenehe zu sorgen. Offensichtlich hat Karl von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch gemacht, denn nachdem er so- wohl Hilmitrud als auch Desiderata verstoßen hatte, werden noch drei weitere Ehen überliefert, die bedauerlicherweise alle mit dem Ableben der Frauen enden. Karl ist kein Kind von Traurigkeit und Politik ist nicht alles in seinem Leben. Das Leben wird für Karl auch zudem gewisse Freuden bereitgehalten haben, weil er die uneingeschränkte Macht im Frankenreich hat und weil er diese für sich durchaus zu nutzen weiß.
Wenn man davon absieht, dass der Papst sich als oberster Christ und Stellvertreter des Herrn auf Erden fühlen darf, lebt Karls Gastgeber am 1. Weihnachtstag 800 eher spartanisch. Er sitzt in seinem Kirchenstaat wie ein Gefangener, ist abhängig von den jeweils herrschenden politischen Gegebenheiten in Oberitalien und sieht seinen Einfluss auf den europäischen Kontinent auf Grund dieser misslichen Lage zunehmend schwinden. Diesen Zustand haben auch schon seine Vorgänger beklagt, die nach dem Untergang des römischen Reiches – rund 350 Jahre zuvor - zwar die geistliche Vorherrschaft über den Kontinent beansprucht haben, aber niemanden um sich hatten, der diesem Anspruch auch die entsprechende weltliche Durchsetzungskraft zur Seite stellte. Als die Römer in der Antike noch weite Teile des europäischen Kontinents beherrschen, ist der Sitz des apostolischen Stuhls in Rom im Zentrum der weltlichen Macht angesiedelt und somit sicher. Seit sich aber der politische Schwerpunkt der Welt über die Alpen in nördliche Richtung verflüchtigt hat, sitzen die Päpste abseits und beklagen dies lautstark. Mit dem Krönungscoup des Weihnachtsabends 800 hat sich diese missliche Lage schlagartig verbessert: Papst und Kaiser sitzen in einem Boot und stellen eine in der mittelalterlichen Welt unangreifbare Einheit dar. Der Papst wiegt sich in Sicherheit und der Kaiser herrscht über ein riesiges Reich, das zu regieren ihn aber vor zunächst Probleme stellt.
Das Karolingerreich
Nach der Krönung zum römischen Kaiser umfasst das Reich Karls des Großen das heutige Deutschland, Frankreich, die nördlichen Teile Spaniens, mehr als die Hälfte Italiens, Holland, Belgien und Luxemburg, weite Teile Österreichs, Kroatiens und der tschechischen Republik. Der politische und militärische Einfluss dürfte besonders im Nordosten sogar noch etwas weiter gegangen sein. Karl muss dieses Riesen- reich mit starker Hand regieren. Eine Zentralgewalt, wie wir sie heute kennen, gibt es nicht. Seine Anweisungen lässt er durch Königsboten verbreiten, die auch sorgsam über deren Einhaltung wachen. Er besitzt keine feste Residenz, eine Hauptstadt hat in der Gedankenwelt des mittelalterlichen Kaisertums keinen Platz. Mit seinem Gefolge zieht er von Ort zu Ort und regiert von verschiedenen Stellen. Grundlage seiner Macht sind die Pfalzen - große bäuerliche Güter, die den Kaiser mit seinem gesamten Gefolge während eines Aufenthaltes mit allem versorgen, was das kaiserliche Herz begehrt. Diese Anwesen sind groß genug, um angemessen regieren zu können. Festlichkeiten und Versammlungen mit weltlichen und kirchlichen Würdenträgern finden hier ebenso statt wie Gerichtstage. Hier stellt der Kaiser Urkunden aus und empfängt Gesandte fremder Mächte. Die wichtigsten Pfalzen stehen in Ingelheim, Nimwegen und Aachen, wo er sich wegen der warmen Wasserquellen am liebsten aufhält. Aachen wird mit pracht- vollen Bauten ausgestattet und zur Kaiserpfalz erklärt. Nach dem Vorbild byzantinischer Großbauten entsteht die achteckige Pfalzkapelle mit einem aus Marmor geschlagenen Kaiserthron, der heute noch den Mittelpunkt des altehrwürdigen Aachener Münsters bildet. Das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Rathaus steht ebenda auf dem Fundament der alten fränkischen Königshalle. Das Frankenreich ist kein Willkürstaat, es gibt eine klare und gesetzlich verbriefte Ordnung, die sich in den so genannten „Kapitularien“ festgehalten ist. Mit dieser Gesetzessammlung ist das Reich Karls des Großen in sämtlichen administrativen, rechtlichen, politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Fragen einheitlich geregelt. Zumindest auf dem Papier besteht also ein einheitlicher Staat mit gültigen Regeln für alle seine Mitglieder. Karl, der selbst wie die meisten seiner Untertanen nicht schreiben kann, setzt dennoch auf ein hohes Maß an Schriftlichkeit bei der Organisation des Reiches. Angesichts der wenig verbreiteten Fertigkeit des Lesens und Schreibens mag man Zweifel an der Wirksamkeit der „Kapitularien“ haben.
Ein anderes Problem ist der Umgang mit den Stämmen, die er in vielen Kriegen unterworfen und dem Reich einverleibt hat. De facto hat Karl der Große in Zentraleuropa einen Vielvölkerstaat geschaffen, der auf die Belange seiner Mitglieder eingehen muss, wenn die staatliche Einheit nicht unentwegt durch innere Konflikte gefährdet werden soll. Karl lässt die Stammesrechte aufschreiben, macht sie dadurch überprüfbar und schützt sie vor missbräuchlicher oder willkürlicher Auslegung. So respektiert er die alten Rechtsordnungen und Eigenarten der Salier, der Alemannen, der Bayern, der Sachsen, der Thüringer oder der Friesen und kann sie dennoch als Teil des Frankenreiches halten, das durch allgemein gültige Gesetze geordnet ist, die den Stammesrechten durchaus widersprechen konnten. Aber besonders im östlichen Teil des fränkischen Reiches – der Bundesrepublik von heute – haben sich solche Eigenarten erhalten. Bald kann man darin eine der frühen Wurzeln des deutschen Föderalismus erkennen, den es in dieser Form in Europa kein zweites Mal gibt.
Das Reich Karls des Großen
Das Reich Karls erstreckt sich von Zaragossa und Pamplona im Norden des heutigen Spaniens, über Korsika und einer Linie rund 100 Kilometer südlich von Rom, nach Kärnten und weiter in Teile des heutigen Ungarn, über Gebiete der Slowaken, von Böhmen und Mähren im nord-östlichen Teil des Reiches, weiter bis Magdeburg und ganz im Norden zu dem kleinen Handelsplatz namens Haithabu. Im Jahr 800 leben Franzosen, Italiener, Holländer, Belgier, Luxemburger, Böhmen, Österreicher und Deutsche in einem Reich vereinigt, dessen Ausmaße damalige Vorstellungen bei weitem überschritten haben dürfte. Das Frankenreich unter Karl dem Großen dominiert den europäischen Kontinent und sorgt für die Ausbreitung des Christentums in allen seinen Landesteilen. Damit wird eine der wesentlichen Charaktereigenschaften Europas festgeschrieben: Europa ist ein christlicher Kontinent. Das Frankenreich hat zudem eine politische und militärische Bedeutung, die den Kaiser auf eine Stufe mit dem damals mächtigen Kaiser von Konstantinopel und den Kalifen von Bagdad und Kairo stellt. Das Reich ist für damalige Verhältnisse gut organisiert. Hätte es damals schon Urlaubsorte an der französischen Atlantikküste gegeben, die Urlauber aus fast ganz Europa hätten dort mit dem gleichen Geld bezahlen können wie in ihrer Heimat. Sie hätten sich in vielen Fällen auf die gleichen Gesetze berufen können, die sie zu Hause ebenfalls anwandten. Es gibt Pfalzgerichte, die überall im Lande Recht sprechen. Sie sorgen für eine Gleichbehandlung aller Bewohner des fränkischen Reiches vor dem Gesetz. Dennoch bleiben kulturelle Eigenheiten und die Gesetze der unterworfenen Stämme erhalten. Der Grundstein für den „typisch deutschen“ Föderalismus ist damit gelegt.
Dieses fränkische Reich ist nahezu identisch mit dem Kerngebiet der Europäischen Gemeinschaft. Die EG wird durch die römischen Verträge am 25. März 1957 aus der Taufe gehoben. Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Deutschland sind die Teilnehmer dieses Vorläufers der heutigen Europäischen Union. Ist das Zufall oder spielen hier uralte, durch Kriege und gegenseitige Zerstörungen verschüttete Gemeinsamkeiten eine Rolle? Zeigt sich am Reich Karls des Großen, dass europäische Einigungsbemühungen auf eine lange Tradition zurückblicken können? Und noch etwas prägt das Reich Karls des Großen: Seit geraumer Zeit sind die zu Fuß kämpfenden Heere von Ritterkontingenten abgelöst worden. Durch diese militärtaktische Neuerung werden die traditionellen, nur für eine begrenzte Zeit benötigten, Fußtruppen in den Hintergrund gedrängt. An ihre Stelle treten die Ritter und mit ihnen ein neuer Typ des Berufskriegers. Der aber braucht im Gegensatz zum einfachen Soldaten eine angemessene Ausstattung und vor allem ein gesichertes Dienstverhältnis, das ihn und seine Familie auch in Friedenszeiten ernährt. Die Antwort auf diese Neuerung heißt Lehenswesen und begründet für viele Jahrhunderte den Feudalismus in Europa.
Das Lehnswesen kommt sowohl dem Interesse des Kaisers nach langfristig verfügbaren Gefolgsleuten entgegen als auch dem Streben der Ritter nach entsprechender materieller Ausstattung für ihren aufwendigen ritterlichen Lebensstil, der für ihren Berufsstand nach und nach ebenso obligatorisch wie legendär wird. Das Lehensverhältnis wird mit einem feierlichen Symbolakt geschlossen und begründet zwischen den Partnern ein Gefüge wechselseitiger Rechte und Pflichten. Der Lehensmann - oder auch „Vasall“ - verpflichtet sich zu Gehorsam und Dienst, insbesondere zur Leistung von Ritterdiensten, während der Lehnsherr seinem Vasallen ein Stück Land oder ein Amt als Lehen zur dauernden Nutzung überlässt. Dieses Rechtsverhältnis steht unter einer gegenseitigen Treuepflicht, die den Vasallen genauso wie den Herrn bindet. Es endet erst mit dem Tod oder durch die Untreue eines der Partner.
Alltag im Frankenreich
Die Menschen des frühen Mittelalters leben in Familienverbänden, die ausschließlich das Überleben seiner Mitglieder sichern sollen. Eine Heirat hat nichts mit einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau zu tun - sie wird vom Grundherrn arrangiert. Diese Zweckgemeinschaften umfassen mehrere Generationen, die in einem Raum in Pfahlbauten leben. Das sind kleine Stroh gedeckte Holzhütten, die teilweise auf Pfosten stehen, um gegen Hochwasser und wilde Tiere Schutz zu bieten. Als Stühle dienen Holzblöcke, der Boden ist gestampfter Lehm, auf pritschenähnlichen Gestellen wird geschlafen. Meist stehen bis zu zehn solcher Pfahlbauten zusammen - sie bilden die ersten kleinen Siedlungen, in denen bis zu 150 Personen leben. Trotz aller Anstrengungen und trotz der Einführung der Dreifelderbewirtschaftung gibt es nie genug zu essen. Sind die Winter zu streng, erfrieren die Menschen, sind sie zu mild, nimmt das Ungeziefer überhand und sie müssen deshalb hungern. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt bei 44, die von Männern bei 47 Jahren. 40 Prozent der Kinder sterben bei der Geburt. Die Bevölkerungsdichte beträgt 8 Menschen pro Quadratkilometer.
Die Bauern sind „Freie“, leben aber in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihrem Herren, der ihnen das zu bewirtschaftende Land gibt. Als Gegenleistung müssen sie einen bestimmten Anteil ihrer Ernte abgeben. Falls ihr Land überschwemmt wird oder sich als unfruchtbar herausstellt, weißt ihnen der Landesherr eine neue Stelle zu, an der sie sich niederlassen dürfen. Kleine Siedlungen finden sich entlang der Handelsstraßen ebenso wie an Flussläufen oder in der Nähe von ersten größeren Dörfern, die durch eine Befestigungsanlage gesichert sind. Der Genuss Fleisch zu essen ist ein Privileg der Wohlhabenden. 80 Prozent der freien Bevölkerung des Frankenreichs sind Bauern, die von dem leben, was sie anbauen: Getreide (vor allem Hirse und Gerste) und Gemüse (vor allem Kohl, Mohrrüben, Erbsen, Linsen und Mohn). Im Wald finden sie verschiedene Sorten wild wachsender Beeren, Hagebutten, Eicheln und Haselnüsse. Wer in der Nähe eines Flusses wohnt, kann mit einer Tuchkonstruktion nach Fischen angeln. Dabei wird das an Stöcken befestigte Tuch entweder durch das Wasser gezogen oder auf den Grund gelegt und dann hochgezogen. Was vom Fischen und von der Ernte übrig bleibt, tragen die Bauern auf den Markt, um es gegen andere Lebensmittel oder landwirtschaftliche Geräte zu tauschen. Märkte sind im 9. Jahrhundert nicht nur Tauschbörsen, sondern auch der Platz, an dem Nachrichten und Legenden verbreitet werden.
An Markttagen, die ein oder zweimal im Jahr stattfinden, kommen auch Prediger und Pilger oder Händler aus fernen Ecken des Frankenreichs, die Lebensmittel zum Tausch oder Kauf anbieten. Verboten ist der Handel mit Waffen, dennoch gibt es illegale Waffenhändler. Obwohl der Sklavenhandel offiziell abgeschafft worden ist, werden auch Sklaven zum Kauf angeboten. Der Handel auf den Märkten ist durch die gemeinsame Währung transparent. Es gelten feste Preise und mit dem Frankendenar eine feste Tauscheinheit.
Karl packt auch das Problem einer gemeinsamen Währung für seinen Vielvölkerstaat an und legt fest, in welchem Münzfuß die Währungseinheiten zueinander stehen. Fortan gilt überall im Reich, dass aus einem Pfund Silber 240 Franken-Denare geschlagen werden müssen, ein Denar also ein Gewicht von 1,6 Gramm hat. Auf der Vorderseite ist ein Königsportrait zu sehen, auf der Rückseite prangt ein Kreuz. Diese erste europäische Währungsunion fördert den Handel, macht Preise transparent, schafft einen großen Raum, in dem man mit einer einzigen Währung wirtschaften kann und bringt den Bewohnern Europas ähnliche Vorteile wie der Euro heute. Das Reich Karls des Großen breitet sich nahezu über den ganzen europäischen Kontinent aus. Die Menschen können sich frei bewegen, Handel treiben und sich – mit gewissen Einschränkungen - dort niederlassen, wo es ihnen gefällt. Die persönliche Niederlassungsfreiheit ist lediglich an die uneingeschränkte Zustimmung der dort schon wohnenden Zeitgenossen gebunden. Die „salischen Gesetze“ bieten die Rechtsgrundlage dieses Prinzips: "Will jemand in ein fremdes Dorf zuziehen, so darf er dies nicht, wenn nur einer dagegen Einspruch erhebt, mögen ihn auch mehrere andere von jenem Dorf bei sich aufnehmen wollen.“ Wie man sieht, sind Einwanderung und Niederlassungsfreiheit schon damals Probleme, mit denen sich die Europäer herumschlagen müssen!
Die Reiselust der Franken nimmt viel Zeit in Anspruch und stößt nicht selten auf Widrigkeiten, die bis zur Bedrohung von Leib und Leben ausufern können. Wer beispielsweise von Aachen nach Rom pilgern will, muss nicht nur mehrere Monate einkalkulieren und viele Entbehrungen auf sich nehmen, sondern auch die Alpen überqueren – zu Fuß, allenfalls auf dem Rücken eines Pferdes und das bei jedem Wetter. Die Reisenden können sich aber schon auf kleinen Wegen, Pfaden und Straßen fortbewegen, denn das Land der Franken ist durchzogen von Handelsrouten und Pilgerwegen. Manche Wanderer lassen sich nieder, gründen bäuerliche Gemeinden oder kleine Handelsplätze. Von Ost nach West, von Nord nach Süd schlängelt sich ein erstes Verkehrsnetz über den Kontinent, das nicht nur für einen regen Warenaustausch sorgt. Da nur wenige Menschen lesen und schreiben können, ist das gesprochene Wort der – wie wir heute sagen würden – „Transmissionsriemen“ zwischen den Volksgruppen des fränkischen Reiches. Mit den Händlern kommen auch Informationen vom anderen Ende des Kontinents unter die Leute. Kulturelle Traditionen, Sitten und Bräuche, Lieder und Geschichten, politische Informationen und christliche Erbauungen machen die Run- de in der mittelalterlichen Welt der Franken.
Die Mitte Europas
Mit der Gründung des großen Frankenreiches rückt die Mitte des Kontinents zum ersten Mal ins Zentrum der Macht. In dieser geographischen Mitte leben Stämme und Völker, aus denen später die „Deutschen“ hervorgehen. Ein „deutsches“ Bewusstsein gibt es am Beginn des 9. Jahrhunderts noch nicht, dafür sind die unterworfenen Stämme und Völker noch zu sehr ihren eigenen Traditionen verhaftet. Das Frankenreich ist für sie allenfalls ein entferntes, abstraktes Gebilde, über dessen Sinn oder Unsinn sie nicht nachdenken. Die Mühen des Alltags, der eigene überschaubare Lebensraum und – immer wieder – kriegerische Auseinandersetzungen bestimmen den Rhythmus ihres Lebens. Ihr Siedlungsgebiet grenzt an allen seinen Seiten an fremde Völker und deren Kulturen. Die „Deutschen“ werden – zwangsläufig - auf Grund der geographischen Lage ihres Landes zu einem Mittler zwischen der slawischen und der romanischen Welt. Ihr Land liegt im Schnittpunkt aller Verbindungslinien zwischen den Polen des Kontinents und wird – ob seine Bewohner es wollen oder nicht - zum wichtigsten Durchgangsland für Handel, Wirtschaft und Verkehr. Die Beherrschung dieses Raums sichert eine bedeutende Position in Europa – ein Umstand, der in den kommenden Jahrhunderten prägend für die Entwicklung Deutschlands ist. Mit der Einheit des fränkischen Reiches ist die „deutsche Frage“ fürs erste geklärt, aber jede Veränderung des Status Quo in Zentraleuropa spült auch den Wunsch nach der Beherrschung des kontinentalen Herzens nach oben.
Christliches Weltbild
Das christliche Weltbild spielt - in Ermangelung einer Alternative - die entscheidende Rolle. Dieses Weltbild sieht nicht nur die Erde als unbewegliche Scheibe in der Mitte eines ansonsten beweglichen Universums, sondern hält den Papst ausschließlich dazu auserkoren, die Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Abendland zu bestimmen. Die Sonne geht am Abend im Westen unter, um am Morgen vom Osten kommend wieder aufzugehen. Aus dieser Betrachtung entsteht für Europa der Begriff „Abendland“. Der Orient im Osten heißt folglich „Morgenland“. Das apostolische Definitionsmonopol drückt dem Abendland, das aus eben diesem Grund das „christliche Abendland“ genannt wird, seinen bis heute spürbaren Stempel auf. Dabei entwickeln der christliche Glaube und sein von starker Frömmigkeit gekennzeichnetes Weltbild soziale Bindekräfte. Die Menschen bekommen eine überirdische Erklärung des Sinns ihres manchmal leidvollen Lebens angeboten, die aus damaliger Sicht logisch und nachvollziehbar ist. Solange dies nicht in Frage gestellt wurde und die Menschen sich fügten, war die christliche Glaubenslehre der rote Faden, an dem sich alles andere ausrichtet. Das geht einige Jahrhunderte gut, bis die ersten Zweifel aufkommen und die Kirche mit ganz und gar unchristlicher Härte auf jene einschlägt, die es wagen, ihre Zweifel in Worte zu fassen. Zunächst aber gilt, dass der Mensch den Platz, den er durch göttliche Bestimmung zugewiesen bekommt, nicht verlassen darf. Erst im Himmel – und nicht früher – könne man auf Erlösung von irdischen Einschränkungen hoffen. Freiheit im Jenseits heißt das apostolische Credo und dafür soll der Mensch leben.
Das Europa Karls des Großen
Das Frankenreich ist durch die militärische Unterwerfung anderer Stämme entstanden. Das darf nicht vergessen werden, wenn vom „Vater Europas“ die Rede ist. Zweifellos hat Karl einen Weg gefunden, Eigenheiten und Traditionen der unterworfenen Reichsteile am Leben zu erhalten und sie gemeinsam in eine neue historische Epoche zu führen. Am Ende seiner Regentschaft sind die Anfänge einer ersten Infrastruktur Europas mit Handelsstraßen und einer der Zeit angemessenen Mobilität von Mensch und Waren geschaffen. Karls enge Anbindung an den Papst in Rom und seine Krönung zum „römischen Kaiser“ legen für die nächsten Jahrhunderte die Verantwortung der deutschen Kaiser für den Erhalt des „patrimonium petri“ fest und sichern gleichzeitig die noch lange unumstrittene Position des heiligen Stuhls. Das Europa Karls des Großen ist durch einen regen kulturellen Austausch geprägt, der in der so genannten „karolingischen Renaissance“ Teile der antiken Überlieferungen mit der mittelalterlich-germanisch-römischen Welt verbindet. Das daraus entstandene bunte Gemisch aus unterschiedlichen Menschen, Auffassungen und Lebensweisen ist bis heute geblieben und prägt nach wie vor den Kontinent, der ebenso falsch wie gerne als „alt“ abqualifiziert wird.
Zwar gibt es im fränkischen Reich eine einheitliche Gesetzgebung und die Anweisungen des Kaisers sind für alle Untertanen bindend, aber Karl erhält die Eigenheiten und Traditionen der unterworfenen Stämme dadurch am Leben, dass er deren Rechte und Gesetze aufschreiben und damit nachprüfbar machen lässt. Dadurch stellt er die innere Homogenität seines Landes sicher. Die Anerkennung der Unterschiedlichkeit seiner Einzelteile garantiert zu seinen Lebzeiten den Bestand des fränkischen Reiches. Ein Prinzip, das sich auch für die Gestaltung des heutigen Europas geradezu anbietet!
Karl der Große ist für seine Zeit ein außergewöhnlicher Herrscher. Er krempelt die innere Struktur seines Riesenreiches um und schafft politische Einrichtungen, die zur Grundlage des abendländischen Europas werden. Die Poeten am Hofe Karls preisen den Herrscher als „pater europae“ – und daran hat sich bis heute wenig geändert. An das erste unter Karl dem Großen „Vereinigte Europa“ erinnert die Stadt Aachen mit dem alljährlich verliehenen Karlspreis. Diese Würdigung bezieht sich nicht nur auf den Politiker und Feldherrn Karl, sondern auch auf den „Vater Europas“, der dafür gesorgt hat, dass antikes Erbe, christliche Religion und germanische Gedankenwelt miteinander in Verbindung kamen und der Nachwelt erhalten blieben.