Davongekommen


Davongekommen

Ich habe bei meiner journalistischen Arbeit viele Menschen kennengelernt. Manch ein Prominenter war dabei, der mich beeindruckt hat. Viele hatten Außergewöhnliches geleistet, standen vor großen Herausforderungen, waren große Musiker und Literaten oder galten einfach als populär und wichtig. 

Drei Menschen ragen auch viele Jahre später noch heraus: Klara Nowak, Carlotta Marchand und Herbert Westenburger, genannt „Berry“. Ihre Lebensgeschichten sind in diesem Buch versammelt. Sie sollen den nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen eine Mahnung und Erinnerung zugleich sein, dass sich ein solcher Krieg und damit verbunden der Holocaust niemals wiederholen dürfen. Die heute und in Zukunft Lebenden sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass es keinen deutschen Staat geben wird, der seine Nachbarn in kriegerischer Absicht überfällt und mit der gesamten Macht eines Staates eine bestimmte Menschengruppe egal ob alt oder jung, krank oder gesund, Mann oder Frau umbringt. 

Klara, Carlotta und Berry waren Zeugen dieses kollektiven Wahnsinns – und sie haben überlebt, obwohl sie aus unterschiedlichen Gründen zu den Verfolgten des NS- Regimes gehörten und eigentlich dessen Opfer hätten werden sollen. Aber sie haben sich gerettet und mir ihre Geschichte erzählt. 

Klara Nowak, die im Buch „Katharina M.“ heißt, wurde Opfer der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“, die die Menschen in „lebenswert“ und „lebensunwert“ einteilte. Das Raster für diese Einteilung stammte aus der Biologie, wo das Schwache vom Starken dezimiert wird. Wie bei der Vernichtung von Unkraut sollten all jene Menschen umgebracht oder zumindest sterilisiert werden, die nach Ansicht der NS-Rassehygieniker kein „lebenswertes Leben“ vor sich hatten. Wegen einer vermeintlichen Behinderung wurde Klara Nowak zwangssterilisiert. Sie litt darunter - nicht nur körperlich - ihr ganzes Leben. In der Bundesrepublik war sie 1987 Mitbegründerin des „Bundes der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten“. 

Carlotta Marchand fiel als Jüdin unter die nationalsozialistischen Rassengesetze. Die 1918 in Brüssel geborene Belgierin heiratete 1940 einen „arischen“ Holländer, aber auch das schützte sie nicht. Die folgenden fünf Jahre lebte sie in Angst und Schrecken und in wechselnden Verstecken. Sie mussten erleben, wie ihre gesamte Familie von Nazi-Schergen aufgebracht, verhaftet und in die Vernichtungslager nach Sobibor und Auschwitz geschickt wurde. Carlotta überlebte im Untergrund und blieb Jahrzehnte lang stumm, dann erzählte sie ihre Geschichte. 

Herbert Westenburger gehörte der bündischen Jugend an, genauer gesagt erst dem „Nerother Wandervogel“ und dann der „deutschen jungenschaft vom 1.11“. Jene kurz dj 1.11 genannte Bewegung war zahlenmäßig klein aber von großer Wirkung. Bis in die Hitler-Jugend stießen Elemente dieser Gruppierung vor. Aber die dj 1.11 sorgte auch dafür, dass ihre Mitglieder einen besonderen Umgang untereinander pflegten, die „Gemeinschaft“ über die „Gesellschaft“ stellten und den meisten politischen Parteien skeptisch gegenüberstanden. Statt Parteiarbeit frönte „Berry“ dem Kosakenkult mit den Liedern des Chors von Serge Jaroff, trug selbstgeschneiderte Blusen, die russischen Rubaschkas, Stiefel und Pelzmützen und trank den Tee aus einem russischen Samowar. Im Taunus baute er mit Gleichgesinnten eine Hütte als Treffpunkt aus. Zur Absicherung wurde der „Bündische Selbstschutz“ als ein Netzwerk aus sicheren Übernachtungsmöglichkeiten bei Freunden, verschwiegenen Zeltplätzen und den zu ihnen führenden geheimen Pfaden aufgebaut. Das reichte aus, um ihn auf die Fahndungslisten erst des „HJ-Streifendienstes“ und dann der Gestapo zu bringen. Er wurde verhaftet und wegen so genannter „bündischer Umtriebe“ in U-Haft gesteckt. Herbert Westenburger überlebte die NS-Zeit als Soldat einer Wehrmachtseinheit in Nordafrika und berichtete von seinen Erlebnissen bis zu seinen letzten Tagen.  

Im Vorwort habe ich 1990 zusammengefasst, was den dreien widerfahren ist: „Mit willkürlichen Begründungen wurde sie ihrer Freiheit beraubt, missachtet und gequält. Sie haben überlebt, andere nicht. Carlotta Marchand, Klara Nowak und Herbert Westenburger haben sich in schmerzliche Zeiten zurückversetzt. Ihre Erinnerungen sollen bewahrt werden, sie sind Gedenken und Mahnung zugleich. Faschismus darf sich nicht wiederholen.“ 

Dem ist auch Jahrzehnte später nichts hinzuzufügen.