Die Verunsicherte Nation |
erscheint März 2025
DIE VERUNSICHERTE NATION
Europa: Der Kontinent der Migration
Die Frage, wo wir Deutschen und wo die Europäer eigentlich herkommen, ist von jeher für von Forschung und Wissenschaft von großem Interesse gewesen. „Die Deutschen und ihre historische Herkunft“ ist ein Thema, das in nahezu allen denkbaren Varianten beschrieben worden ist. Die einen lassen „die Deutschen“ vor rund 1000 Jahren auf der Weltbühne erscheinen und attestieren ihnen eine „erfolgreiche Geschichte“. Die anderen stützen sich zum Beispiel auf den römischen Geschichtsschreiber Tacitus, in dessen „Germania“ der Anfang der Germanen in die Zeit der griechischen Mythologie verlegt wird. Beides ist falsch und dient allenfalls der Konstruktion von Mythen, die etwa bei Tacitus den kampfesmutigen, trinkfesten und uneingeschränkt loyalen germanischen Waldbewohner entstehen lassen. Wieder andere nutzen die Stämme der Germanen zur willkürlichen Herleitung einer „Volkskultur“, die antike Germanen und zeitgenössische Deutsche miteinander verbindet. Der Tübinger Althistoriker Mischa Meier stellt dazu treffend fest, dass dies zwar romantisch und attraktiv ist, aber dennoch jeglichem empirischen Befund widerspricht. Die Verschmelzung von „Germanen“ und „Deutschen“ zu einem über die Zeiten hinweg agierenden Volk bietet lediglich Verklärungen auf vermeintliche Heldentaten oder Ereignisse, die sich in Zeiten eines zunehmenden Nationalismus bestens instrumentalisieren lassen.[1]
Genetisch betrachtet sind die Europäer – und damit natürlich auch die Deutschen - Produkt einer vor rund 40.000 Jahren begonnenen Wanderungsbewegung, die zigtausend Menschen auf der Suche nach Nutzflächen für Ackerbau und Viehzucht von Afrika, aus Anatolien oder der russischen Steppe nach Europa brachte. Diese Migration steht am Anfang der Geschichte des europäischen Kontinents und aller Einwohner, die er beherbergt. Von dieser Migration sind die Völker Europas in ihren Wurzeln geprägt worden. Neben der Suche nach neuen und besseren Lebensräumen verließen die Menschen ihre Siedlungsgebiete nach Unwetterkatastrophen, wegen kriegerischer Ereignisse oder weil ihre Gruppe nach einer neuen Bleibe Ausschau halten wollte. Eine lineare Entscheidungslogik schließt sich angesichts dieser Erkenntnis aus. Migration hat Europa geprägt und war für die Zeitgenossen aller Epochen eine spürbare und normale Tatsache, die mal mehr, mal weniger Probleme verursacht hat.
20-50-30 – der europäische Bodyindex
Forscher des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena haben die genetische Zusammensetzung der Ureinwohner Zentraleuropas untersucht und festgestellt, dass sie das Ergebnis eines „wilden genetischen Durcheinanders“[2] sind. Die Europäer verdanken alle ihre Fähigkeiten, ihre große Kreativität und ihren unbändigen Forscherdrang den genetischen Vorfahren, die von überall aber nicht aus Europa kamen. Die Mixtur unserer Vorfahren lässt sich mit dem europäischen Bodyindex 20-50-30 beschreiben. Vor rund 40.000 Jahren kamen die ersten Migranten aus Afrika, die sich zunächst mit den Neandertalern vermischt und sie schließlich verdrängt haben. Belegt wird diese Aussage mit archäologischen und paläoanthropologischen Forschungsergebnissen, die darauf schließen lassen, dass 20 Prozent unserer Vorfahren aus dieser Gruppe afrikanischer Einwanderer stammen.
Die nächste größere Einwanderungsbewegung erlebte der europäische Kontinent in der Epoche der Jungsteinzeit, also im 6. Jahrtausend vor Christus. In dieser Übergangsphase von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen wanderten anatolische Ackerbauern nach Kontinentaleuropa ein und machten rund 50 Prozent der heutigen europäischen DNA aus. Damit, so Johannes Krause vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, ist die Hälfte der Gene der Menschen Zentraleuropas asiatischer Herkunft. Die letzten 30 Prozent des europäischen Bodyindex lieferten schließlich vor etwa 5.000 Jahren Einwanderer aus der russischen Steppe, was den asiatischen Anteil am Gesamtmix noch einmal verstärkt hat. Diese Migrationsbewegungen, aus denen im Verlauf der Jahrtausende sowohl Germanen als auch Deutsche hervorgegangen sind, sind in alle Teile des Kontinents vorgedrungen. Deshalb sind sich die Europäer genetisch sehr ähnlich, eigentlich sind sie Verwandte.
Antike Migration
Derartige Migrationsbewegungen sind seit der Antike bekannt, sie waren komplex und vielfältig begründet. Mitunter folgte die Migration eigenen Motiven, manchmal wurden Migranten von bestehenden Reichen angelockt, weil es dort an Arbeitskräften oder Soldaten mangelte. So wäre das Imperium Romanum ohne den Mix aus Abschottung gegen äußere Gefahren und Integration von Fremden nicht zu erklären. Zeitweilig dürfte Rom als erste Millionenstadt der Geschichte und Mittelpunkt der damaligen europäischen Welt so ausgesehen haben wie der moderne „melting pot“ New York. Alteingesessene Römer werden in Anbetracht eines groß gewachsenen, blonden Germanen in den Straßen ihrer Stadt nicht schlecht gestaunt haben. Jedenfalls war das Völkergemisch, das damals in Rom anzutreffen war, nicht anders als das in den modernen Metropolen des 21. Jahrhunderts.
Der Druck auf die Grenzen des Imperium Romanum hat seit dem Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts spürbar zugenommen, als Kimbern und Teutonen ihre kalten und schwer zu bewirtschaftenden Länder im Norden verließen, um sich in den fruchtbareren Gegenden des europäischen Südens niederzulassen. Die beiden germanischen Stämme blieben bis zu ihren militärischen Niederlagen 102 v. Chr. bei Aix-en-Provence und ein Jahr später im norditalienischen Vercellae in „Gallia transalpina“, also im östlichen Alpenraum. Der griechische Schriftsteller Plutarch sorgte rund 150 Jahre später für eine Beschreibung, die über Jahrhunderte hinweg das Bild der Germanen prägte: sie seien zahlreich gewesen, schrecklich anzusehen und glichen mit ihren lauten Stimmen eher einem Tier als einem Menschen. Damit war den Germanen der Stempel des gewalttätigen, kriegerischen Kämpfers aufgedrückt, der zu keiner Zeit der Wirklichkeit entsprochen hat. Ganz im Gegenteil waren Germanen sowohl Söldner in Diensten Roms als auch Siedler des Imperium Romanum. Seit Caesars Regentschaft, die kurz nach den Kriegen gegen Kimbern und Teutonen begann, handelten die Römer zweigleisig. Zum einen engagierten sie germanische Hilfstruppen und ließen sie in teilweise großen Verbänden für sich und die Sache Roms kämpfen. Zum anderen siedelten sie aber auch germanische Zuwanderer an und gliederten sie in die römische Gesellschaft ein. Die ersten germanischen Siedler waren die Ubier, deren Spuren noch heute in der alten Römerstadt Köln zu finden sind.
Das aus heutiger Sicht als „Völkerwanderung“ bezeichnete Migrationsphänomen war für die antiken Zeitgenossen eher die Regel als die Ausnahme. Migration war omnipräsent, wurde als Normalzustand angenommen und prägte über die Jahrhunderte hinweg den gesamten Kontinent. Deshalb ist es auch falsch, Analogien zwischen einer antiken „Völkerwanderung“ und der modernen „Flüchtlingskrise“ zu ziehen. Die antike Migration taugt weder für Schlussfolgerungen auf die Konsequenzen einer ungeregelten Einwanderung heute, noch lassen sich Warnungen vor dem eigenen Untergang – wie einst dem des Imperium Romanum – ableiten. Die so genannte „Völkerwanderung“ begann gegen Ende des 4. Jahrhunderts mit dem Einfall der Hunnen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre ursprüngliche asiatische Heimat verließen, nach Europa kamen und dort offenbar einen Verdrängungsmechanismus in Gang setzten. Das belegen archäologische Funde, die auf Schlachten und Plünderungen hinweisen und somit die Verdrängungsthese stützen. Dabei waren aber keine Völker unterwegs, sondern Heeresverbände, in deren Gefolge waren zwar auch Frauen und Kinder, das allein aber macht noch kein Volk aus und belegt auch nicht, dass aufgeschreckte Germanenvölker das Imperium Romanum niedergemacht hätten.
Mit der Assoziation, dass die „Völkerwanderung“ den Untergang Roms herbeigeführt habe, kann man allerdings die politische Debatte unserer Tage emotional aufheizen und Angstgefühle erzeugen. So attestierte der AfD-Politiker Alexander Gauland bei einer Demonstration in Berlin im November 2015 der Europäischen Union einen „totalen Kontrollverlust“, der Europa, „destabilisiert“ habe. Dann stellte er einen historischen Vergleich an, der nichts weiter als Angst erzeugen sollte: „Nicht zu Unrecht werden in diesen Tagen die Bilder vom Untergang des weströmischen Reiches aufgerufen, als die Barbarenstämme den Limes überrannten.“[3] Diese gezwungene Suche nach historischen Analogien ist nicht nur vordergründig, sondern verdreht auch die wahren Ereignisse in ihr Gegenteil. Das ist rechtsextreme Panikmache, die von der demokratischen Zivilgesellschaft zurückgewiesen werden muss.
Der Weg der in „Germania Magna“ siedelnden Germanen von der Spätantike über das frühe Mittelalter in die Neuzeit war widersprüchlich und in vielerlei Hinsicht überaus bemerkenswert. Dabei spielte ihr Verhältnis zum Imperium Romanum eine wichtige Rolle. Sie verteidigten ihre Dörfer gegen römische Invasoren, mal erfolgreich wie im Jahr 9 im Teutoburger Wald gegen die römischen Legionen des Feldherrn Varus, mal weniger erfolgreich wie 235 bei der Schlacht am Harzhorn. In beiden Fällen hatten sich die germanischen Stämme zur Abwehr eines äußeren Feindes zusammengetan, was die Ausnahme und nicht die Regel war. Zwar gab es gemeinsame Rituale und Begräbniszeremonien, mitunter trafen sich die Anführer einzelner Stämme zu einer Ratsversammlung, aber eine Einheit der „germanischen Völker“ gab es nicht. Vermutlich werden die an der unteren Elbe siedelnden Langobarden die im slowakisch-österreichischen Grenzgebiet lebenden Markomannen kaum zu Gesicht bekommen haben, wenn es nicht gegen einen gemeinsamen Feind ging. Damit weisen uns die alten Germanen auf einen Umstand hin, der bis heute Gültigkeit hat: Sie lebten zwar in einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum, legten aber auf ihre Selbstständigkeit mehr wert als auf eventuelle Gemeinsamkeiten.
Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn eine gemeinsame Identität hatten die Germanen nicht. Die Kategorisierung, dass auf der rechtsrheinischen Seite die Germanen und entlang des linksrheinischen Ufers die Gallier oder Kelten lebten, ist durch Caesar zwar vorgenommen, aber durch nichts begründet worden. Gleichwohl hat sich diese Einteilung über die Jahrhunderte gehalten. Dabei wollten die Römer lediglich die Menschen, die im außerrömischen Gebiet lebten, in Kategorien einteilen. Sie nannten diesen Raum „Barbaricum“ und meinten damit den geographischen Raum, der von Menschen bewohnt wurde, die nicht ihre lateinische Sprache verwendeten und die sie deshalb nicht verstehen konnten. In den Ohren der Römer klangen ihre Sätze wie „rabaraba“, woraus sich das Wort „Barbar“ ableitete. Gallier, Barbaren oder Germanen waren pauschale Kategorien, die nicht unbedingt etwas mit der Lebensrealität der so bezeichneten Menschen zu tun haben mussten. (...)
[1] Meier, Mischa: Die „Völkerwanderung“. Aus Politik und Zeitgeschichte, Juni 2016
[2] Redl, Bernadette: Wo wir Europäer genetisch herkommen. Der Standard, 22. August 2018
[3] Laak, Claudia van: „Als die Barbarenstämme den Limes überrannten“, Deutschlandfunk, 7. November 2016