Die Welt im Krisenmodus
Die Welt im Krisenmodus
Die Welt ist an vielen Stellen aus den Fugen geraten. In den westlichen Demokratien sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch und versprechen einfache Lösungen für komplizierte Probleme. Bei den französischen Parlamentswahlen hat sich ein linkes Bündnis durchgesetzt, an dessen Spitze mit Jean-Luc Mélenchon ein Politiker steht, der antideutsche, antisemitische und antieuropäische Positionen vertritt. Die Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler hat damit zwar dem Rechtsextremismus eine Absage erteilt, dafür aber eine kaum weniger problematische politische Gruppierung gewählt. Auch in Deutschland sind die extremen Ränder gestärkt worden, knapp ein Fünftel der unter 25-Jährigen tendiert zur AfD, was einem Plus von 11 Prozent gegenüber 2019 entspricht. Viele von ihnen werfen der aktuellen Regierung Unfähigkeit vor, die vielen Probleme bei der Digitalisierung, der Mobilität, der Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft und bei der Bewältigung der Klimakrise generell zu lösen. Diese Politikverdrossenheit treibt sie in die Arme derer, die die Krisen entweder leugnen oder eine „Lösung“ auf Kosten von Sündenböcken – zum Beispiel Migranten – anstreben.
Die Attraktivität solcher Vermeidungsstrategien mag verständlich sein, führt man sich die schiere Zahl der Krisen vor Augen, die derzeit über die Menschen in Deutschland hereinbrechen. Das Klima schlägt weltweit bedrohliche Kapriolen und sorgt für katastrophale Wirbelstürme und Überschwemmungen. In Deutschland liegt die Infrastruktur am Boden, die Bundeswehr ist kaum verteidigungsfähig und die deutsche Wirtschaft, die eigentlich in eine grüne Zukunft transformiert werden soll, dümpelt entlang einer Rezession vor sich hin. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Bundesrepublik von den Reserven gelebt, kaum Reformen durchgeführt und es an wesentlichen Stellen versäumt, das Land zukunftsfähig zu machen. Die Folge: Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der Politik. Die hat sich freilich selbst in schweres Fahrwasser manövriert. Statt lediglich langfristige Rahmenbedingungen für den grünen Transformationsprozess vorzugeben, verheddert sich die Bundesregierung im Kleinklein von Vorschriften. Fehler im Detail hinterlassen den fatalen Eindruck von Ahnungslosigkeit im Großen und Unfähigkeit bei der Umsetzung. Unmut und Frustration entstehen auch durch eine ausufernde Bürokratie, die mit ihrer Regulierungswut selbst Gutmeinende zur Verzweiflung treibt. All das ließe sich verhindern oder zumindest reduzieren, wenn sich Politikerinnen und Politiker nicht in immer kleinteiligeren Vorschriften verzetteln würden.
Und so stehen die Deutschen vor einem veritablen Reformstau, der enormen Druck auf Politik und Gesellschaft ausübt. Aber auch die Europäische Union ist derzeit kaum mehr als ein wirtschaftlicher Zusammenschluss, der bei vielen politischen Entscheidungen an der selbst auferlegten Fessel einstimmiger Entscheidungen scheitert. Zudem werden in nächster Nachbarschaft wieder Kriege geführt, mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht und unverhohlen die Vernichtung des Gegners angekündigt. Die Generationen, die nach 1945 geboren sind, stehen vor einer neuen Situation, die ihnen Angst macht. Diese Angst ist angesichts multipolarer Bedrohungen zwar nachvollziehbar, taugt aber nicht als Ratgeber. Die Verunsicherung vieler Menschen hat die demokratischen Gesellschaftsordnungen in Europa destabilisiert und einen Kreislauf in Gang gesetzt, der einer self-fulfilling prophecy ähnelt: Die Verunsicherung löst den Ruf nach schneller Abhilfe aus, die aber nicht kommen kann, weil es schnelle Lösungen nicht gibt. Und das wiederum fördert die Verunsicherung und die Wahl von Parteien am rechtsextremen Rand, die schnelle Lösungen zumindest versprechen.
Die destabilisierende Wirkung dieses Kreislaufs nimmt zu, je mehr Konflikte aufkommen. Auch in ihrer unmittelbaren Umgebung erfahren Menschen, dass offensichtlich nichts mehr funktioniert. Verspätete Züge, jahrelange Reparaturarbeiten an Autobahnknotenpunkten mit den entsprechenden Staus oder eine ausufernde Bürokratie bei der Verlängerung eines Ausweises gehören zum Alltag der Bundesbürger, lassen viele von ihnen verzweifeln und am System insgesamt zweifeln. Neben der maroden Infrastruktur, mangelhaften Bildungsangeboten, fehlender Digitalisierung und einem offenbar nicht hinreichend ausgerüsteten Militär sorgt die Migrationspolitik bei vielen Menschen für ein Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Die Krisen überlagern sich und verstärken einander, weil sie nicht gelöst werden. Man spricht dabei von einer „Polykrise“. Und die stellt das politische System der Bundesrepublik auf den Prüfstand. Es ist keineswegs ausgemacht, dass die Demokratie diese Prüfung bestehen wird. Rechtsextremisten und Populisten aller Schattierungen nehmen „das System“ gezielt aufs Korn und locken die Menschen mit einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Derzeit gehen die viele Menschen auf die Straßen und lassen ihrer Wut freien Lauf, einer Lösung kommen wir mit Beschimpfungen jedoch nicht näher. Aus einer gesellschaftlichen Verunsicherung ist mittlerweile eine existenzielle Krise geworden, die in ihrem Ausmaß einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik ist.
In der gegenwärtigen Polykrise sind viele Demokratien in schwere Fahrwasser geraten. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung sind die Demokratien weltweit auf dem Rückzug, während die Zahl der autokratisch regierten Staaten wächst. Und auch bei den Menschen, die noch in einer vollwertigen Demokratie leben, nimmt die Akzeptanz dieser Staatsform ab. Die Zustimmung zu demokratischen Einrichtungen und Institutionen geht seit Jahrzehnten zurück und viele Menschen haben das Vertrauen in die Fairness freier Wahlen verloren. An die Stelle von Demokratien treten vielfach Autokratien, in denen die Macht auf eine Person konzentriert, Legislative und Judikative geschwächt und oppositionelle Politiker und Parteien behindert oder verboten werden. Die wachsende Zahl autokratischer Regierungen verläuft offenbar parallel zu den vielen Krisen. Diese zu bewältigen, wäre also gleichzeitig ein Schutz der liberalen Demokratien.
Viele Menschen in den westlichen Demokratien leben in einem gefährlichen Schwebezustand zwischen totaler Verweigerung jedweder Reform und dem zornigen Ruf nach mehr Tempo von Reformen. Ein Ausgangspunkt auf dem Weg zur gegenwärtigen Polykrise war die Pleite der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers im Jahre 2008. Kurz nach dem Lehman-Crash brachen weltweit Finanzgeschäfte zusammen. Von einem auf den anderen Tag standen Banken, Versicherungen und Immobilienfirmen vor dem Bankrott, der vielfach nur durch staatliche Unterstützung verhindert werden konnte. Kaum war dieser Schock verdaut, folgten in rascher Abfolge der arabische Frühling (2010), die Annexion der Krim durch die Russische Föderation (2014), die Flüchtlingskrise in Europa (2015), der vermutlich von russischen Hackern mit initiierte Brexit (2016), die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA (2017), die COVID-19-Pandemie (2020), die russische Invasion in die Ukraine (2022) sowie der Hamas-Überfall auf Israel mit dem anschließenden Krieg im Gaza-Streifen (2023) und einem direkten Raketenangriff des Iran auf Israel (2024). Die Welt befindet sich in einer sich zuspitzenden Dauerkrise, die Wohlstand vernichtet, Regierungen und Gesellschaften ins Wanken bringt. Und die nächsten Krisen drohen schon: auf der koreanischen Halbinsel oder mit der chinesischen Absicht, Taiwan zu annektieren. Über allem schweben die Klimakrise und der Versuch, mit Gewalt und Drohungen eine neue Weltordnung zu etablieren, die die bisherigen Kräfteverhältnisse auf den Kopf stellen würde. (...)