Das lange 19. Jahrhundert



Das lange 19. Jahrhundert

Biedermeier und Romantik 

Die Härte, mit der die Staatsmacht gegen so genannte Demagogen, Studenten, Hochschullehrer, Geistliche oder nationale Intellektuelle vorging, löste bei vielen Menschen Schrecken aus und bewirkte ihren Rückzug ins Private. Die deutsche Öffentlichkeit war wie gelähmt, Zensur und polizeiliche Maßnahmen hatten das Leben von der Straße in die Privatsphäre verdrängt. Viele Menschen zogen sich in die Innerlichkeit zurück, wurden zunehmend apolitisch, suchten ihr Glück im Idyll des Biedermeier und diskutierten politische Ereignisse nur noch im Privaten. Besonders in Österreich, wo die Restauration mit polizeistaatlichen Mitteln durchgesetzt wurde, verschwanden viele in den Nischen der Privatsphäre. Die Administration des „geistigen Kopfes“ der Karlsbader Beschlüsse – Metternich – führte ein hartes Regiment gegen alle „liberalen und nationalen“ Bestrebungen in Österreich. Das massive Vorgehen der österreichischen Sicherheitsorgane, ein flächendeckendes Überwachungssystem und ein perfekt funktionierender Spitzelapparat überzogen Österreich und machten aus dem Land einen Polizeistaat, der seine Macht hemmungslos zur Schau stellte: Zahlreiche Studenten mussten ihr Studium aufgeben und oft jahrelange Haftstrafen absitzen, Professoren verloren ihre Lehrstühle und landeten mit vielen prominenten Literaten in österreichischen Gefängnissen. Zensur und Polizeistaat sorgten für Veröffentlichungsverbote, Bespitzelungen und eine konsequent durchgeführte Gesinnungskontrolle (Hahn und Berding, 2010). 

Biedermeier 

Die Zeit des Biedermeier löste kulturgeschichtlich die Epochen des Barock und des Rokoko ab und dauerte bis zur Mitte des Jahrhunderts. Die diese Epoche prägende Geisteshaltung war ein Reflex auf die von vielen empfundene Entfremdung und Sinnentleerung des Lebens. Die „kalte“ Aufklärung und deren Rationalität waren das Gegenteil der idyllischen, nach Harmonie strebenden Lebensphilosophie des Biedermeier. Die Familie des Biedermeier war der Ort, an dem man die Eruptionen der beginnenden Industrialisierung und die Folgen der Restaurationspolitik überstehen konnte. Viele Menschen zogen sich ins Private oder in die Natur zurück, weil sie hier Schutz vor der harten Realität der Restauration und den Folgen der beginnenden Industrialisierung fanden. Im Mittelpunkt dieser Kultur stand die Familie. Sie war der Hort der Gemütlichkeit und gleichzeitig Heim für den zahlreichen Nachwuchs. Sonntags zeigte sich der beschaulich gekleidete Familienvater nebst Gattin und Kinderschar beim Spaziergang. Nichts schien diese Idylle stören zu können. Unter der Aufsicht eines Polizeistaats machte sich eine zur Schau gestellte oberflächliche Heiterkeit breit, die über die Beschwernisse des alltäglichen Arbeitslebens hinwegtäuschte. In den Ländern des deutschen Bundes und in Österreich war die Frustration über die Ergebnisse des Wiener Kongresses und die Karlsbader Beschlüsse zumindest bei denen groß, die nationalen oder liberalen Ideen anhingen. Die Angehörigen des Bürgertums waren in Österreich von politischen Funktionen ausgeschlossen – ganz gleich ob sie zu Ansehen und Geld gekommen waren. Das bewirkte wie bei den deutschen Nachbarn neben dem Rückzug ins Private eine massenhafte Flucht in die unpolitischen Räume von Gemeinden, Zünften oder Vereinen. 

Der Begriff „Biedermeier“ geht zurück auf eine Parodie der Texte von Samuel Sauter, dessen Gedichte und Erzählungen seine Kritiker ermunterten, ihn als „Gottlieb Biedermeier“ zu charakterisieren. Sie gaben damit einer Epoche den Namen einer erfundenen Kunstfigur. Der „Biedermann“ hielt Fleiß, Ehrlichkeit, Treue, Pflichtgefühl und Bescheidenheit als bürgerliche Tugenden hoch und erhob sie zu den allgemeinen Prinzipien eines geordneten menschlichen Zusammenlebens. Die biedermeierliche Familienstruktur war patriarchalisch und am Beginn des 19. Jahrhunderts noch von der unangefochtenen Rolle des Mannes als Ernährer und Patriarch geprägt. In dieser aus dem 18. Jahrhundert stammenden Struktur verfügte der Mann über das Familieneinkommen und übte die uneingeschränkte Autorität in der Familie aus. Von seiner Frau erwartete er die Anerkennung seiner Position, eine perfekte Haushaltsführung und die Erziehung der zahlreichen Kinder zu respektvollen und vor allem frommen Menschen. Die Kinder standen in der Familienhierarchie ganz unten, sie hatten zu gehorchen und sich den mitunter willkürlichen Entscheidungen des Familienoberhauptes klaglos zu fügen. Zu Beginn des Jahrhunderts gehörte väterliche Gewalt zum Alltag, die alleinige Entscheidung über Schul- und Berufsausbildung ebenso. Prügelstrafen brauchten weder erklärt noch verteidigt zu werden. Emanzipation der Ehefrauen war in dieser Familie genauso undenkbar wie ein Mitspracherecht der Kinder. 

Männer unterlagen im privaten Bereich keinerlei Einschränkungen oder Kontrollen. Viele waren sich über die Zahl ihrer Kinder oder Fehlgeburten der eigenen Frau um Unklaren (Nipperdey, 1984). Sollte eine Ehefrau das Kindbett nicht überlebt haben oder aus anderen Gründen vor ihrem Gatten verstorben sein, hatte die oft unmittelbar folgende neue Ehe den Anstrich eines „Austausches“ oder der Wiederbesetzung einer Funktion innerhalb des Haushaltes. Aber diese nicht in Frage gestellte Familienstruktur zeigte während des Biedermeier erste Risse. Zuerst im wohlhabenderen Bildungsbürgertum standen die Familienstrukturen auf dem Prüfstand. Denn der Rückzug ins Private, die Suche nach dem Glück in den eigenen vier Wänden und die Flucht  vor der restaurativen Politik im öffentlichen Leben, veränderten als Konsequenz auch die Familien und die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Nach und nach hielten neue pädagogische Konzepte Einzug in den Biedermeier-Familien, die allmählich ihre patriarchalischen Strukturen und sachlich-pragmatischen Umgangsformen über Bord warfen. 

Familienleben 

Zunächst aber war die Familienstruktur von einer klaren Rollenverteilung zwischen den Ehegatten geprägt. Das Reich der Frau war die häusliche Umgebung, sie war für die gute Stube, dem Mittelpunkt des Familienlebens im Biedermeier, zuständig. Während der Mann das Familieneinkommen zu sichern hatte, kümmerte sich die Frau um den Haushalt und die Kinder. Die Zahl der Geburten stieg rapide, als habe es einen Knopfdruck gegeben, der den biologischen Ausgleich für die Verluste der vorangegangenen Kriege in die Wege leitete. Aber mit der steigenden Geburtenzahl stieg auch die Zahl der Kinder, die früh starben oder schon tot zur Welt kamen. In Bayern lag die Säuglingssterblichkeit zwischen 1820 und 1870 bei knapp einem Drittel; in Österreich war sie im gleichen Zeitraum nur wenig darunter, während in Preußen die Sterblichkeit von Säuglingen mit „nur“ 20 Prozent beziffert wird. Bei unehelichen Schwangerschaften stieg das Risiko einer Fehlgeburt vor allem in den unteren Schichten. In Erfurt lag sie 1848 mit über 30 Prozent „doppelt so hoch wie in der Mittelschicht (und) viermal so hoch wie in der Oberschicht“ (Nipperdey, 1984). 

Die Welt der bürgerlichen Familie wurde gegenüber der Realität abgegrenzt und zu einer Art „heiligem Ort“ erklärt, an dem sich die Familienmitglieder wohl fühlen konnten. Hier waren sie frei von Anforderungen der Arbeitswelt oder den Repressionen des restaurativen politischen Systems. In einer Welt, in der polizeiliche Willkür herrschte, fungierte die Biedermeier-Familie als Ersatz und Fluchtpunkt zugleich. Die Familie war das soziale Netz, das Halt bot, Geborgenheit bereithielt und die sozialen und ökonomischen Umwälzungen des frühen 19. Jahrhunderts aus den eigenen vier Wänden verbannte. Deshalb wurden Familienfeste mit großem Aufwand gefeiert. Die „Biedermeier“ zelebrierten Weihnachten als zentrales Ereignis des Kalenderjahres, das auch ansonsten in eine Chronologie von Festen eingeteilt war. Den Großeltern wurde besondere Wertschätzung entgegengebracht. Sie waren die lebenden Objekte für die Flucht in die Vergangenheit. Ihre Geschichten aus den „guten, alten Zeiten“ brachten eine willkommene Ablenkung von der als lähmend empfundenen Gegenwart. Die Wertschätzung der Großeltern ging jedoch einher mit dem allmählichen Ende der Großfamilie. Wo jeder seine „gute Stube“ hatte, wurde das Haus, in dem mehrere Generationen lebten, immer mehr verdrängt. 

Der Biedermann war am liebsten zu Hause, wo seine „heile Welt“ ihn vor der Außenwelt abschirmte. Entsprechend richteten die Familien ihre private Idylle ein. Schlichte, aber reichlich ornamentierte Holzmöbel, geschwungene Sofas mit farbigen, oft blumigen Bezügen und ausladende Sessel standen in den Wohnungen. Die Wände waren auffällig tapeziert, an den Stuck verzierten Decken hingen schwere Kronleuchter. Die Mode der Biedermeier-Familie zeigte den Mann im Frack, ein „Vatermörderkragen“ umklammerte seinen Hals und ließ kaum Platz zum Atmen. Die gestreifte Weste durfte ebenso wenig fehlen wie eine kunstvoll geknotete Krawatte oder ein Zylinder. Die Frauen steckten in stark taillierten Kleidern, die mit einem Korsett erst eng und dann mit einem Reifrock wieder weit gemacht wurden. Abgerundet wurde die Erscheinung einer eleganten Dame des Biedermeier durch flache Schuhe, einem Hauben ähnlichen Hut und einem Sonnenschirm. War die Biedermeier- Familie zu Geld gekommen, beschäftigte sie eine Köchin, einen Kutscher, eine Kinderfrau manchmal auch einen Hauslehrer. Die durchschnittliche Familie konnte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings keine großen Sprünge machen. Sie litt unter den wirtschaftlichen Schäden der Kriege und der beginnenden Industrialisierung, die mehr und mehr das Land erfasste. Trotz einer Aversion gegen die Ideen und Denker der französischen Aufklärung wurden vor allem die Biedermeier-Familien mit höheren Bildungsgraden von ihr beeinflusst. Die Appelle des französischen Reformers und Pädagogen Jean- Jacques Rousseau, der in seiner Abhandlung über die fiktive Erziehung eines Jungen namens „Emile“ neue Erziehungsideale festgehalten hatte, brachten in einigen Familien die festgefahrenen Erziehungsvorstellungen ins Wanken. An Stelle von erschreckender Gleichgültigkeit und Härte der Eltern traten nun Wärme und spontane Zuwendung (Nipperdey, 1983).

Kinderziehung stand fortan im Vordergrund und hatte das reine Verwahren und Großziehen des Nachwuchses verdrängt. Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern – und im Besonderen auch die Beziehung der Väter zu ihren Kindern – wandelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark. Es wurde mehr Liberalität praktiziert, Lob und Ermunterung ersetzten die Strafen, die vorher nahezu willkürlich ausgesprochen worden waren. Folgerichtig wurde 1841 der erste Kindergarten eingerichtet, um überlastete Familien zu unterstützen und der Neuorientierung der Kindererziehung Ausdruck zu verleihen. Zum ersten Mal gab es die Unterscheidung in eine Kinder- und eine Erwachsenenwelt, was einer „Entdeckung der Kindheit“ gleichkam. Als Konsequenz dieser Entwicklung bekamen Kinder nun auch mehr Mitspracherechte bei Berufswahl und der eigenen Eheschließung. 

Ein weiteres Merkmal der sich erneuernden bürgerlichen Familie war die innerfamiliäre Privatheit, die sich mit dem geänderten Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern herausbildete. Wer es sich leisten konnte, gewährte jedem Familienmitglied ein eigenes Zimmer als Ausdruck der individuellen Privatheit. Es entstanden die ersten Kinderzimmer, Damensalons, Herren- oder Musikzimmer. Neue Wohnungen und Häuser wurden mit einem Korridor versehen, der das Durchqueren anderer Räume erübrigte und die Privatheit der Familienmitglieder – nahezu automatisch – respektierte. Aus diesen Veränderungen entwickelte sich eine charakteristische Familienkultur in der Biedermeier-Gesellschaft. Die Familie spiegelte nun den verstärkten Gemeinsamkeitssinn ihrer Mitglieder, die viel Zeit miteinander beim Lesen, Musizieren, Spielen oder Wandern verbrachten. Väter und Mütter wandten sich dabei ihren Kindern zu und signalisierten ihnen damit ihre Bedeutung für die Familie. Die neue Geselligkeit herrschte auch zwischen den Familien und 

sorgte für Zusammenhalt in der unmittelbaren Umgebung. In den Zeiten der Unterdrückung durch die restaurative Politik, war diese neue Form des Zusammenlebens Halt und Glücksbringer zugleich. 

Bürgertum 

Die tragende gesellschaftliche Schicht des 19. Jahrhunderts war das Bürgertum, so jedenfalls lautet die Schlussfolgerung des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl, der zur Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete, dass „das Bürgertum unstreitig im Besitz der überwiegenden materiellen und moralischen Macht“ sei. Somit sei „unsere Zeit (von) einem bürgerlichen Charakter“ geprägt. Das war zwar übertrieben und galt nur für die größeren Städte, denn auf dem Land verhinderten verkrustete und feudale Strukturen die Herausbildung einer neuen „homogenen Sozialform“ (Wehler, 1989/II). Gleichwohl gehörten Beamte, Professoren, reichere Handwerker, Lehrer, Ärzte oder Künstler dem Bürgertum an, das die Städte prägte und sich von den Adeligen ebenso abheben wollte wie von den Bauern. Obwohl während der Biedermeierzeit politisch einflusslos, erlangte das sogenannte Bildungsbürgertum mit der Verbreitung seiner an humanistischer Bildung, Literatur und Wissenschaft, Kunst und Musik orientierten Ideale im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Art Deutungshoheit. Dabei entwickelte sich ein eigener Lebensstil, der sich immer weiter ausbreitete und mitunter von den alten Eliten übernommen wurde. Für den Bildungsbürger gehörten „Fleiß, Rechtschaffenheit, Zuverlässigkeit, Redlichkeit, Anstand, Pflichterfüllung, auch kaufmännischer Wagemut und unternehmerische Initiative“ (Schildt, 1989) zum Kanon der erstrebenswerten Tugenden. Darin unterschied sich das Bürgertum von der adligen Feudalklasse, die sich zwar immer noch auf ihren Reichtum und eine mitunter ruhmreiche Vergangenheit berufen konnte, aber nicht imstande war, die selbstgeschaffenen - und eben nicht ererbten - Leistungen des Bürgertums zu übertrumpfen. Teile der alten Führungseliten fanden Gefallen am „bürgerlichen“ Lebensstil und übernahmen die „bourgeoisen“ Einstellungen, zumal sie erkennen mussten, dass die Bourgeoisie in stärkerem Maße von dem wirtschaftlichen Aufschwung der beginnenden Industrialisierung profitierte als sie selbst. 

Romantik 

Kunstgeschichtlich begleitete zunächst der schon sehr viel ältere Klassizismus die Zeit des Biedermeier. Der Klassizismus drückte sich durch künstlerische Rückgriffe auf die ästhetischen Ideale der Antike mit klaren Formen in Architektur und Malerei aus. „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es  möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, schrieb Johann Joachim Winckelmann in seinen „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke“ bereits 1756. Besonderes Kennzeichen der nachzuahmenden Meisterwerke der Antike seien „eine edle Einfalt, und eine stille Größe“. Dem klassizistischen Repräsentationsbedürfnis zollte vor allem die Architektur des Biedermeier Rechnung, aber auch die zeitgenössischen Möbel und repräsentativen Familienportraits folgten dem Gebot der Nachahmung klassischer Vorbilder. Die Literatur der Romantik versuchte schon früh, sich von dieser als beengend empfunden Vorbildhaftigkeit der Antike zu befreien: Der „Sturm und Drang“ von Schiller und Goethe waren ebenso Ausdruck dieser Befreiungsversuche wie die Werke einer Gruppe junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Jena um Friedrich und Dorothea Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) oder Ludwig Tieck, die versuchten, Naturphilosophie, Theologie und Poesie miteinander zu verbinden und eine völlig neue Art von Literatur entstehen zu lassen. 

Die Suche nach der „blauen Blume“ 

Eines der wichtigsten Symbole der Romantik war die „blaue Blume“, die erstmals im 1802 erschienenen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis auftaucht - als Ziel eines „unaussprechlichen Verlangens“. In einem Traum erblickt Heinrich im Kelch der blauen Blume das Gesicht Mathildes, die ihn später im Laufe der Romanhandlung küssen wird. So symbolisiert die „blaue Blume“ das Verlangen nach Liebe, genauer: nach der Liebe einer Frau. Im Verlauf des Romans stellt sich heraus, dass die „blaue Blume“ das „Verlangen nach der Liebe einer Frau“ mit „Naturpoesie“ verbindet. Ein weiterer Traum Heinrichs zeigt den Tod Mathildes. Dieses Ereignis wird als Übergang aus der „ehemaligen Welt“ in eine „künftige Welt“ interpretiert. Die Komplexe „Liebe“ und „Naturpoesie“ werden also noch um einen dritten Komplex erweitert: den des „Übergangs zwischen zwei Welten“ oder der „Transzendenz“. Friedrich von Hardenberg hat die Wirkung seines Romans „Heinrich von Ofterdingen“ nicht mehr erlebt, er starb mit 29 Jahren. Aber seine Grundthemen „Verlangen“, „Liebe“, „Naturpoesie“ und „Transzendenz“, seine an Volksmythen, Märchen und Traumerzählungen ausgerichtete Schreibweise wurden von den ihm nachfolgenden Autorinnen und Autoren der Romantik immer wieder aufgegriffen. 

Die Protagonisten der Romantik glaubten an die Macht der Ahnungen und Intuitionen. Sie priesen das Reich der Phantasie und des Traums. Die dunklen Seiten der Seele waren ihnen nicht fremd. Die Nacht war nicht abschreckend, sondern geheimnisvoll und inspirierend. Nur die Nacht, glaubten sie, könne das  Irrationale hervorheben und die letzten Geheimnisse des Seins erschließen. Die Dunkelheit der Nacht verlieh der Epoche eine besondere Magie und übte auf viele Leser große Anziehungskraft aus. Eduard Mörike ließ die Nacht „träumend an der Berge Wand“ lehnen und durch „ihr Auge die goldene Waage“ sehen. In der Nacht, so war es durch Mythen und Sagen überliefert, trieben angeblich Dämonen und Hexen ihr Unwesen. Der Teufel, so war in den Sagen zu lesen, herrsche zwischen Mitternacht und Morgengrauen über die Erde und übe eine magische Anziehungskraft aus. Die Autoren spannten mit ihren Lesern ein geheimnisvolles Netz aus gemeinsam geteilten Überzeugungen, sie pflegten eine in sich geschlossene Welt, die sie für „rein“ und „ursprünglich“ hielten. Gemeinsam begeisterten sich Literaten und Leser an der Schönheit und Wildheit der Natur, in der sie den Bauplan für das Leben erkannten. Gleichzeitig entwarfen sie ein Gegenbild zu den mit Zirkel und Lineal konstruierten höfischen Gärten des Absolutismus. 

In der romantischen Malerei tauchten immer wieder nebelverhangene Täler, mittelalterliche Klosterruinen, Mythen und Märchen der Vorfahren oder verklärende Darstellungen der ungezähmten Natur auf. Die Leinwände der Maler zeigten Menschen, deren Blicke sehnsuchtsvoll in die Ferne schweiften und dem Betrachter das Gefühl vermittelten, an seiner statt die „blaue Blume“ zu suchen. Was bei Novalis noch ein Symbol für den Prozess der 

Selbsterkenntnis und für die Hoffnung auf eine Zukunftspoesie war, wurde jedoch im Laufe der Biedermeierzeit mehr und mehr zu einem Fluchtpunkt im Imaginären. Am Ende des 19. Jahrhunderts war von Novalis anspruchsvollem Symbol der blauen Blume kaum mehr übrig geblieben als ein Label für die Wandervogelbewegung, die 1896 von Schülern und Studenten in der Nähe von Berlin gegründet wurde: „Es blühet im Walde tief drinnen die blaue Blume fein, die Blume zu gewinnen, zieh‘n wir in die Welt hinein. Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss, und wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein“ (Helwig, 1980). 

Die Menschen in Deutschland fürchteten sich vor Entwicklungen, die gleichzeitig geschahen und die Gewissheit vermittelten, dass nichts so bleiben würde wie zuvor. Die Welt des 19. Jahrhunderts war unruhig und revolutionär, weil ein Kampf entbrannt war zwischen jenen, die die Errungenschaften der Französischen Revolution verteidigen wollten und jenen, die sie als Teufelswerk für immer zu verbannen suchten. Biedermeiner und Romantik bildeten in dieser Zeit einen Kokon, der nicht nur Schutz und Geborgenheit bot, sondern auch einen entgegengesetzten Lebensentwurf bereithielt. Beide Pole bedingten einander: Ohne die Welt der Revolution und Restauration hätte es keinen Rückzug in den Biedermeier und die Romantik gegeben. Zu den bedeutenden Autorinnen und Autoren der Romantik gehörte der Österreicher Franz Grillparzer, dessen Texte von einem „grüblerischen Weltschmerz“ durchzogen waren. Zu seinen Werken zählen "Die Jüdin von Toledo“, "Das Goldene Vlies" oder "Ein Bruderzwist in Habsburg". Annette von Droste-Hülshoff portraitierte in der Novelle „Die Judenbuche“ 1842 eine westfälische Welt, in der Menschen gefangen waren in ihren Milieus. Sie waren getrieben von materieller Not und konnten nicht wirklich handeln, sondern nur noch reagieren. Daneben thematisierte Droste-Hülshoff soziale Vorurteile, Judenfeindlichkeit und die unterschiedlichen Lebenswelten von Gutsbesitzern und den einfachen Menschen. Clemens Brentano und Achim von Arnim publizierten zwischen 1805 und 1808 die Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ und widmeten sich der germanischen Vergangenheit und deren Mythen und Sagen. Während Brentano und von Arnim in der Vergangenheit schwelgten, machte Adalbert Stifter die gegenwärtige Natur zum Mittelpunkt seiner Werke. Seine Texte thematisierten die Hinwendung zum Alltäglichen als Kern einer Humanität, die sich einer sittlichen Ordnung nach dem Vorbild der Natur unterwarf. 


Heimatgefühl und Rheinromantik 

Mit ihrer poetischen Betrachtung des Lebens trafen die Dichter der Romantik den Nerv der Zeit, was mit einer großen Popularität einherging. Ihr schriftstellerischer Hang zum Magischen, ihre Rückbesinnung auf Vergangenes, Mystisches und nur mit dem Gefühl zu Erfassendes und schließlich die Orientierung am christlichen Glauben, die mit einer starken Betonung von Geist und Seele einherging, traf auf eine große Akzeptanz bei den Lesern. Die Autoren der Romantik hielten engen Kontakt zu Vertretern anderer Kunstrichtungen. Viele namhafte Musiker wie Franz Schubert, Robert Schumann oder Felix Mendelssohn-Bartholdy vertonten die Gedichte der Romantiker und brachten insbesondere mit dem deutschen Kunstlied, das sich großer Beliebtheit erfreute, die Literatur der Romantik zu einem neuen Publikum. Der vermutlich bekannteste Text, der vertont und dadurch sehr populär wurde, stammt aus der Feder von Heinrich Heine, der 1824 das „Loreley-Gedicht“ verfasste. In der musikalischen Fassung von Friedrich Silcher war das Gedicht der Höhepunkt der Rheinromantik, die Clemens Brentano einige Jahre zuvor begonnen hatte. In der Rheinromantik wurde nicht nur die Schönheit des Flusses thematisiert, sondern der Rhein zu einem Symbol der  nationalen Identität der Deutschen gemacht. Die Anziehungskraft dieses „deutschen Stromes“ für die Kunst fand ihren Niederschlag auch in einem musikalischen Monument der frühen Moderne, dem vierteiligen Opernzyklus „Der Ring der Nibelungen“, den Richard Wagner 1874 an den Rhein verlegte. 

Weltanschauung der Romantik 

Den meisten Literaten der Romantik hatten eine gemeinsame Erfahrung: Sie waren enttäuscht von den Ergebnissen des Wiener Kongresses. Das politische Geschacher um Macht und Einfluss im Deutschen Bund, die Restauration der alten, vorrevolutionären Ordnung in Europa und die polizeistaatliche Überwachung, die unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen einsetzte, hatten sie misstrauisch gegen die Politik werden lassen. Ihre Kunst war dementsprechend „unpolitisch“ und von wenig Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse gekennzeichnet. Darin waren sich die Literaten mit ihrem Publikum einig, denn die meisten Deutschen begrüßten die Stabilität und Sicherheit, die in den ersten Jahren nach der Befreiung von der französischen Besatzung in die Länder des Deutschen Bundes einzogen. Während politische Themen fehlten, setzten sich die Romantiker aber gleichwohl mit sozialen Problemen auseinander. 

Sie prangerten das reine Gewinnstreben und das Handeln nach Nützlichkeitserwägungen an. Den an Bedeutung gewinnenden Naturwissenschaften hielten sie entgegen, die Welt und ihre inneren Zusammenhänge insofern falsch zu verstehen, als sie sie lediglich mit dem Verstand erklärten und ausschließlich auf Nützlichkeit und Verwertbarkeit untersuchten, anstatt ihr mystische Geheimnisse zu belassen. Eines der wesentlichen Merkmale der Romantiker war die Sehnsucht und Suche nach der „heilen Welt“, die sie im christlich geprägten Mittelalter zu finden hofften. Damals waren die Menschen Teil der „Universitas Christiana“. Die Päpste regierten die Welt und erklärten sie nach den Regeln des christlichen Glaubens. Dabei boten sie eine metaphysische Erklärung der Welt an, in der jeder den Platz habe, der ihm von Gott zugewiesen worden sei. Diese mittelalterliche religiöse Gebundenheit erschien einigen Romantikern als Vorbild, hier glaubten sie die gesuchte Einheit von Seele und Geist zu finden. Joseph von Eichendorffs 1816 verfasste Novelle „Das Marmorbild“ schilderte den inneren Zwist des jungen Dichters Florio, der sich am Scheideweg zwischen Wollust und Heidentum oder Frömmigkeit und Christentum befindet. Es ging dabei nicht nur um „den Gegensatz von Gesittung und Ausschweifung, sondern auch um den übergreifenden Kontrast von Christen- und Heidentum“ (Pokorny, 2009). Eichendorff sieht im Christentum – verkörpert durch den Sänger „Fortunato“  („Der Glückliche“) – das erstrebenswerte Ziel und lässt am Ende seinen Helden auf den rechten, also christlichen Weg einschwenken. 

Eichendorff und andere Dichter der Romantik waren in der christlichen Lehre verwoben und sahen in einem starken Glauben einen möglichen Ausweg aus irdischen Problemen. Auch der früh an Tuberkulose verstorbene Novalis gilt als Vertreter einer von religiösen Vorstellungen beeinflussten Autorengeneration der Romantik. In seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa“ entwarf er ein politisches Programm, aus dem ein Europa auf christlicher Basis entstehen sollte. Während sich bei Eichendorff, Novalis und anderen religiöse Motive 

finden lassen, nahmen andere Autoren der Romantik aber auch politische Themen ihrer Zeit auf und schlossen sich der deutschen Nationalbewegung an. Der spätere Herausgeber des „Rheinischen Merkur“ Joseph Görres war glühender Anhänger der Französischen Revolution, wandte sich aber nach den Exzessen der jakobinischen Terrorherrschaft von ihr ab. In seinen Schriften agitierte er gegen die napoleonische Herrschaft über Europa und die Kriege des französischen Kaisers. Enttäuscht von den Ereignissen in Frankreich zog Görres sich von seinen politischen Aktivitäten zurück, wurde Privatdozent und lernte dabei führende Literaten der deutschen Romantik kennen. Seine nun verfassten Texte waren einerseits von der Romantik beeinflusst und andererseits politische Agitation für die deutsche Nationalbewegung, weswegen Napoleon ihn als „fünfte feindliche Großmacht“ bezeichnete. 

Aber auch nach der französischen Besatzung mussten die Autoren, die sich in die politischen Debatten einschalteten mit einer harten und unerbittlichen Zensur auseinandersetzen. Heinrich Heine, der die deutsche Romantik mit luzider Lyrik und feuilletonistischen Reiseberichten bereicherte, musste nach    seiner Begeisterung für die Julirevolution in Frankreich 1831 nach Paris emigrieren. 

Georg Büchner wurde sogar steckbrieflich gesucht, nachdem er im „Hessischen Landboten“ unter der Überschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ im Juli 1834 die Bevölkerung zum Widerstand gegen Armut und Ungerechtigkeiten aufgefordert hatte. Bettina von Arnim, eine der bedeutenden Vertreterinnen der deutschen Romantik, veröffentlichte 1835 das Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“, welches die Goethe-Rezeption ihrer Zeitgenossen maßgeblich beeinflusste und noch im 20. Jahrhundert Literaten wie Milan Kundera inspirierte. Vor allem aber schrieb sie sozialkritische Texte und setzte sich mit der Armut in ihrer Zeit auseinander. 1843 verfasste Bettina von Arnim das Werk „Dies Buch gehört dem König.“