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In regelmäßigen Abständen veröffentliche ich einen Blogbeitrag zu historisch-politischen Themen. Dabei konzentriere ich mich auf die Zusammenhänge zwischen der aktuellen Politik und den historischen Ereignissen, die darin sichtbar werden. Die Aufzeichnungen protokollieren meine Sicht der Dinge und können dementsprechend einseitig und unvollständig sein.
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2024
blog | FEBRUAR 2024| afghanistan - das vietnam der sowjetunion 1979 - 1989
Afghanistan – das Vietnam der Sowjetunion
Das Ende der 1970er Jahre ist unruhig. Zwischen Ost und West herrscht Funkstille. Beide Seiten misstrauen einander, seit der Warschauer Pakt 1976 mit der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen begonnen hat. Im Deutschen Bundestag sitzen viele der jungen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und debattieren leidenschaftlich über diese neue Bedrohungslage durch die Sowjetunion. Seit jene SS-20 in Dienst gestellt sind, bedrohen sie im Fall eines Angriffs die Städte an Rhein und Ruhr ebenso wie Dresden oder Leipzig. Damit wird für die Bundesbürger die Bedrohung real, die Menschen begreifen schlagartig, dass sie nicht einer theoretischen Diskussion über einen Krieg auf einem anderen Kontinent beiwohnen. Die Reaktionen sind höchst unterschiedlich: Die einen fordern lautstark, eben solche Raketen gegen den Osten zu richten, andere fordern weltweite Abrüstung, da kein Einsatz einer Atomwaffe zu rechtfertigen sei und es deshalb am besten überhaupt keine gäbe.
NATO-Doppelbeschluss
Es ist der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der die Antwort an die Machthaber im Kreml formuliert: Der Westen würde mit atomaren Mittelstreckenraketen nachrüsten, wenn der Osten nicht bereit sein sollte, über eine Abrüstung dieser Waffen zu verhandeln. Dieser NATO-Doppelbeschluss verändert die Weltlage dramatisch und quasi über Nacht. In der Bundesrepublik, wo ein Teil der Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und der Marschflugkörper vom Typ BGM-109G Gryphon stationiert werden sollen, regt sich der Widerstand der Friedensbewegung. Zum ersten Mal erlebt die Bundesrepublik Demonstrationen mit mehr als einer halben Million Teilnehmer, es entsteht eine neue Partei, die sich als Teil der Friedens- und Ökologiebewegung versteht und fester Bestandteil der politischen Kultur Westdeutschlands werden sollte. Die „Grünen“ tragen den Streit in den Bundestag, können aber die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses unter dem neuen Bundeskanzler Helmut Kohl nicht verhindern. Die SPD ist an der Frage zerbrochen, ob sie als Partei des Widerstands gegen Hitler, des Antifaschismus und des Friedens für oder gegen die Stationierung sein soll und versagt ihrem Kanzler die Gefolgschaft, was zu dessen Sturz Anfang Oktober 1982 führt.
Kritisch ist die Situation auch im Kreml. Staatschef Leonid Breschnew ist kaum noch in der Lage das Land angemessen zu regieren. Das Alter und Jahrzehntelanger Alkoholkonsum sind nicht ohne Spuren an ihm vorbei gegangen. Der Kontakt zum Westen ist nahezu abgebrochen, nur die wirtschaftlichen Beziehungen laufen mehr oder weniger normal weiter. Öl- und Gaslieferungen werden – anders als heute - von der politischen Führung der Sowjetunion nicht als Waffe eingesetzt. Zudem hat die UdSSR mit massiven ökonomischen Problemen zu kämpfen, die Versorgung der Bevölkerung ist nicht immer gesichert und die marode Infrastruktur des über elf Zeitzonen reichenden Riesenlands tut ihr Übriges. Dennoch betreibt der Kreml weiter Hochrüstung, die zusammen mit dem Unterhalt einer viele Millionen Soldaten umfassenden Sowjetarmee den Löwenanteil der Staatseinnahmen auffressen.
Demokratische Volkspartei Afghanistans
Seit 1978 erreichen den Kreml Hilferufe aus dem Nachbarland Afghanistan. Dort hatte sich die kommunistische „Demokratische Volkspartei Afghanistans“ an die Macht geputscht und das Land nach sowjetischem Vorbild umgekrempelt: Eine Bodenreform stellte die – bis dahin zweifelfrei ungerechten - Eigentumsverhältnisse auf den Kopf, es fanden drastische Enteignungen der so genannten Oberschicht statt, die mit nackter Gewalt und ohne Rücksicht auf Verluste vonstattengingen. Es regte sich aber Widerstand in Afghanistan, dem die neuen Machthaber mit militärischen Mitteln begegneten. Dennoch konnten sie einen regelrechten Bürgerkrieg nicht verhindern. In dieser Situation wenden sich die Machthaber in Kabul an die sowjetische Führung mit der Bitte um Militärhilfe. Das wird im Kreml einige Male mit dem Hinweis abgelehnt, man müsse auf die Beziehungen zum Westen Rücksicht nehmen.
Mit dem NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 ist diese Rücksichtnahme nicht mehr sinnvoll oder notwendig. Nun kann die Kreml-Führung auch ein anderes Problem angehen: Die zentralasiatischen Sowjetrepubliken Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen an Afghanistan und haben einen großen muslimischen Bevölkerungsanteil. Mit einer militärischen Intervention der Sowjetarmee könnte nun ein Übergreifen des Bürgerkriegs von Afghanistan, wo eine muslimische Mehrheit gegen die neuen kommunistischen Machthaber kämpft, in die sowjetischen Randrepubliken verhindert werden. Zwei Wochen lang gibt es hektische Betriebsamkeit hinter den Mauern des Kreml, bis am 25. Dezember 1979 der Startschuss für eine Invasion der Sowjetarmee in Afghanistan ausgelöst wird. Genau zehn Jahre werden sowjetische Soldaten versuchen, das Land am Hindukusch in den sowjetischen Machtbereich zu integrieren. Es wird ein „Sovietnam“ [1].
„Sovietnam“
Der Westen reagiert vorhersehbar. Der amerikanische Präsident Jimmy Carter organisiert einen Olympiaboykott des Westens im Sommer 1980, als sich die „Jugend der Welt“ in Moskau versammelt. Die diplomatischen Beziehungen existieren nicht mehr, westliche und islamische Staaten verurteilen in seltener Eintracht die Invasion der Sowjetarmee. Leonid Breschnew hatte gedacht, es handele sich um eine Militäraktion von wenigen Wochen, denn die sowjetische Armee war den Aufständischen weit überlegen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sich rund 2/3 der regulären afghanischen Armee dem Aufstand anschließen und mit den Mudschahedin einen wirksamen und vom Westen unterstützten Widerstand gegen die Invasoren organisieren. Die Mudschahedin kämpfen einen Dschihad gegen die Ungläubigen und verteidigen ihr Land Zentimeter für Zentimeter. Dabei kommt ihnen entgegen, dass sie sich auskennen, die karge und teilweise extreme Landschaft für ihre Kriegsführung nutzen können.
Immer wieder geraten sowjetische Truppen in Hinterhalte. Die Sowjetarmee setzt im Laufe der kommenden zehn Jahre 115.000 Soldaten ein, die von 55.000 Soldaten der regulären, kommunistischen Armee des Machthabers Babrak Karmal unterstützt werden. Karmal ist eine Marionette Moskaus, der nach der Ermordung von Präsident Hafizullah Amin durch sowjetische Spezialeinheiten aus seinem Exil in der CSSR zurück geholt worden ist. Am Ende der Invasion am 15. Februar 1989 sind 18.000 afghanische und 14.500 sowjetische Soldaten getötet wurden, knapp 60.000 sind zum Teil schwer verwundet, die Opferzahlen auf Seiten der Mudschahedin sind nicht bekannt. Bis zu zwei Millionen afghanische Zivilisten haben ihr Leben in dieser Kriegsdekade verloren, insgesamt sind zehn Millionen innerhalb und außerhalb Afghanistans auf der Flucht.
Folgen
Das Desaster ist ähnlich umfangreich wie es die Amerikaner in Vietnam erfahren haben. Die militärischen Ziele wurden hier wie dort nicht erreicht. Vietnam wurde im Sommer 1976 als kommunistisches Land wiedervereinigt, kurz vorher waren etwa 50.000 missliebige Südvietnamesen von Nordvietnamesen ermordet worden. Die ehemalige Hauptstadt des Südens, Saigon, wurde zur Ho-Chi-Minh-Stadt und die Führungsschichte des ehemaligen Südvietnams in Umerziehungslagern eingesperrt. Mehr als sechs Millionen Menschen wurden als Kollaborateure „identifiziert“, sozial deklassiert und verfolgt. Mehr als eine Million Menschen flohen aus ihrer Heimat, etwa 200.000 ertranken bei der Flucht über das südchinesische Meer, andere kamen als „Boat People“ nach Europa.
So ähnlich ergeht es den Menschen in Afghanistan, als die Sowjetarmee ihr weitgehend ruiniertes Land nach zehn Jahren Krieg wieder verlassen. Aus den Mudschahedin-Gruppen, die mit westlichem Geld und westlichen Waffen erfolgreich gekämpft haben, entstehen die Taliban, die in den USA den eigentlichen Feind ausmachen und über Osama bin Laden den Anschlag des 11. September 2001 verüben. Dieser Anschlag ist für den US-Präsidenten George W. Bush Anlass, ein weiteres Mal in Afghanistan einzumarschieren. Zwar werden die Taliban schnell entmachtet, aber die darauf folgende Besatzungspolitik schafft es nicht, dem Land stabile Verhältnisse zu bringen. Als die Truppen einer internationalen Allianz am 27. August 2021 nach fast 20 Jahren wieder abziehen, ist nichts gewonnen, aber alles verloren: Die Taliban kommen wieder an die Macht und installieren ein geradezu mittelalterlich anmutendes Männerregime, in dem Gewalt und Scharia herrschen.
[1] Der Begriff stammt von Tanja Penter und Esther Meier: Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan 1979–1989. Schöningh, Paderborn, 2017
blog | januar 2024| das erbe karls des großen
blog | januar 2024| das erbe karls des großen
Das Erbe Karls der Große
Am 28. Januar 814 herrschte im Fränkischen Reich große Trauer. Der erste römisch-deutsche Kaiser Karl starb an diesem Tag und hinterließ ein riesiges und vor allem mächtiges Reich, das fortan sein Sohn Ludwig regieren sollte. Jener Ludwig war der letzte überlebende Sohn Karls. Pippin aus der ersten Ehe war 811 verstorben, aus der dritten Ehe mit Hildegard aus dem alemannischen Hochadel gingen neben Ludwig, der als Kleinkind verstorbene Lothar und ein weiterer Pippin hervor, der König von Italien war und 810 in Mailand starb. Zudem war Karl Vater von mindestens fünf Töchtern, die allerdings wegen des fränkischen Erbrechts als seine Nachfolgerinnen nicht in Frage kamen. Es mag Karl in seinen letzten Jahren schon gedämmert haben, dass sein Sohn Ludwig, genannt „der Fromme“ einen schweren Stand haben würde und die Einheit des Reiches gefährdet war. Aber es blieb nur Ludwig, der von seinem Vater schon am 11. September 813 zum Mitkaiser gekrönt worden war.
Das Erbe
Das Fränkische Reich mit einem deutsch-römischen Kaiser an der Spitze sollte die Nachfolge des Weströmischen Reichs antreten, das 475 einem Ansturm von Germanen unter der Führung eines gewissen Odoaker erlegen war. Allen voran Papst Leo III. war am Weihnachtsabend 800, als er Karl zum Kaiser krönte, überzeugt vom Ende der Welt, sollte das vierte Großreich untergehen. So wird es im Alten Testament prophezeit und vor dem Imperium Romanum (im Westen) waren schon das Reich Nebukadnezars, das Perserreich und das Reich Alexander des Großen untergegangen. Auf den Schultern des Frankenkönigs Karls sollte das weströmische Reich weiterleben und damit die Welt retten. Und tatsächlich umfasste das Fränkische Reich weite Teile des alten Weströmischen Reichs: Von Schleswig-Holstein im Norden, entlang von Elbe und Donau bis nach Österreich und Kroatien und dem nördlichen Teil Italiens bis zum Herzogtum Spoleto. Von dort ging es entlang der Mittelmeerküste Italiens und Frankreichs bis zu den Pyrenäen und weiter an der Atlantik- und Nordseeküste wieder nach Schleswig-Holstein. Das sollte Ludwig der Fromme zusammenhalten und regieren. Eine Aufgabe, an der er scheiterte, vielleicht scheitern musste.
Karls Erbe wurde nach familieninternen Zwistigkeiten in mehreren Verträgen so lange geteilt, bis im Vertrag von Ribemont 880 im Westen des alten Reichs das „westfränkische Reich“ (ungefähr das heutige Frankreich) und im Osten das „Ostfränkische Reich“ (ungefähr die heutige Bundesrepublik und Österreich) entstanden. Das „Königreich Italien“ bestand bis 1806, war aber in weiten Teilen Lehnsgebiet – und stand damit unter dem Einfluss – der römisch-deutschen Kaiser aus dem ostfränkischen Reich. Somit war das Erbe des 814 verstorbenen Karls rund 65 Jahre nach seinem Tod in drei Reiche aufgeteilt, die fortan die europäische Politik bestimmen sollten. 1957 gründete dieses europäische Kernland in Rom die Europäische Gemeinschaft: Frankreich, Deutschland, Italien und die BeNeLux-Staaten. Sie waren einst maßgebliche Teile des von Karl begründeten römisch-deutschen Reichs, aus dem später im östlichen Teil das „Heilige Römische Reich (deutscher Nation)“ hervorgehen sollte. Aber das Erbe Karls des Großen ist weit mehr als nur die Größe seines Reichs.
Eine Währung
Seit 771 gab es im Fränkischen Reich eine einheitliche Währung. Mit dem Denar konnte man überall im Land bezahlen, Preise vergleichen und Preise kalkulieren. Daneben galten gleiche Maße und Gewichte, durch die genau festgelegt werden konnte, welcher Münzfuß galt, also wieviel Edelmetall in einer Münze verarbeitet sein musste. Ein Schilling hatte den Wert von 12 Denaren, während ein Pfund 240 Denare ausmachte. Diese Vereinheitlichung löste nicht nur einen wirtschaftlichen Boom aus, sondern ermöglichte auch gerechtere Steuererhebungen, die transparent und nachvollziehbarer wurden. Nach und nach wurde alle Münzen in ihrem Erscheinungsbild vereinheitlicht: Auf der Vorderseite war ein Kreuz mit der Umschrift „Carlus Rex Fr(ancorum)“, auf der Rückseite war der Prägeort und das Herrschermonogramm „K-A-R-O-L-U-S“ zu finden. Mit dem so genannten Vollziehungsstrich (der untere Teil des K) versehen, zierte dieses Monogramm nicht nur die Münzen, sondern auch alle offiziellen Urkunden des Herrschers.
Eine Währung, gleiche Maße und gleiche Gewichte schützten sowohl Käufer, als auch Verkäufer vor Betrug, Wucher und ökonomischem Niedergang. Was im 9. Jahrhundert galt, gilt auch heute. Die Einführung einer europäischen Währung hat allen Unkenrufen zum Trotz im 21. Jahrhundert dasselbe bewirkt. Der Euro ist die Währung der größten und finanzstärksten Freihandelszone der Welt mit einer Bevölkerung von etwa 500 Millionen Menschen. Der Wegfall von Zöllen, der Verzicht auf Grenzkontrollen und der freie Warenverkehr waren Motor eines wirtschaftlichen Aufschwungs und sorgten nach Angaben der Europäischen Kommission zwischen 1993 und 2019 zu einem Wohlstandszuwachs in der Euro-Zone von mehr als 800 Milliarden Euro. Dieser Wohlstandsgewinn durch den Euro und den einheitlichen Binnenmarkt wird allerdings ungleich und damit ungerecht verteilt, so dass bei vielen Menschen der gegenteilige Eindruck entsteht.
Gleiches Recht für Alle
Viele nationale Gesetze müssen nach Entscheidungen der innerhalb der EU bzw. des Europaparlaments umgeschrieben oder ersetzt werden, weil in vielen Fällen europäisches Recht über dem nationalen Recht steht. Das hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass Rechtsgleichheit für alle EU-Bürger herrschen und - soweit es den Austausch von Waren und Dienstleistungen betrifft - identische Voraussetzungen für einen fairem Wettbewerb ermöglichen soll. Da zudem Freizügigkeit in der EU gilt, ist die Angleichung der gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedsstaaten unumgänglich.
Auch hier gibt es im Reich Karls des Großen ein Vorbild. Als übergeordnetes Recht waren Gesetze in den so genannten „Kapitularien“ gesammelt, die für alle Personen in allen Ecken des Reiches gleichermaßen galten. Die dort schriftlich festgehaltenen Gesetze betrafen militärische, kulturelle und kirchlich-religiöse Angelegenheiten. Sie waren eingeteilt in „Kapitel“ und gaben damit nicht nur dem Gesamtwerk seinen Namen, sondern waren auch öffentlich zugänglich. Jeder konnte sehen, was wie sanktioniert werden konnte. Ein Höchstmaß an Rechtssicherheit war dadurch gegeben, ebenso wie die Tatsache, dass die Territorialfürsten im Reich Karls des Großen jedem Gesetz ihre Zustimmung gegeben hatten.
Unabhängig davon behielten weite Teile der schon vor 800 existierenden Stammesrechte ihre Gültigkeit. In der burgundischen Gesetzessammlung „Lex Burgundionum“ oder in der „Lex Ribuaria“ aus der Zeit des austrasischen Königs Dagobert I., der am Beginn des 7. Jahrhunderts im Norden des fränkischen Reichs regiert hat, behielten das Ehe- und Erbrecht ihre Gültigkeit. Die „Lex Salica“, die vermutlich auf Geheiß des Merowingerkönigs Chlodwig am Ende des 5. Jahrhunderts aufgeschrieben worden war, legte fest, wie die Binnenmigration in den Stammesgrenzen der Salier geregelt werden sollte: „Will jemand in ein fremdes Dorf zuziehen, so darf er dies nicht, wenn nur einer dagegen Einspruch erhebt, mögen ihn auch mehrere andere von jenem Dorf bei sich aufnehmen wollen.“
Gleiche Schrift
Die Gesetze waren öffentlich und verschriftlicht – zwei unabdingbare Voraussetzungen für den sozialen Frieden im Land. Das war spätestens seit dem Zwölftafelgesetz bekannt, das 450 v. Chr. im Forum Romanum sowohl die Gesetze der Römischen Republik als auch die Strafen bei Nichtbefolgung der Öffentlichkeit bekannt machte. Das war Abschreckung und Schutz vor Willkür der Strafverfolgungsbehörden zugleich. Ähnlich agierte Karl der Große und schuf damit ein fundamentales Vermächtnis für das moderne Europa.
Die Gesetze waren öffentlich und in einer vereinheitlichten Schrift verfasst: der karolingischen Minuskel. Sie wurde in Klosterschulen gelehrt und musste in der Öffentlichkeit verwendet werden. Sämtliche Gesetzestexte waren in dieser Schrift verfasst, so dass jeder Lesekundige die Texte lesen, verstehen und falls notwendig vorlesen konnte. Damit war nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz öffentlich gemacht, sondern eine Bildungsoffensive gestartet, die in der „karolingischen Renaissance“ mündete.
Karolingische Renaissance
Damit wird ein kultureller Aufschwung bezeichnet, der ohne die Erneuerung des Bildungswesens, die Einführung einer neuen Schrift und die Versammlung von europäischen Gelehrter im Beraterstab von Karl dem Großen nicht vorstellbar ist. Neben dem wohl bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, dem Briten Alkuin, waren der Theologe Paulinus II. von Aquileia, der langobardische Theologe und Historiker Paulus Diaconus sowie Theodulf, der Bischof von Orleans, ständig an der Seite des Franken und leiteten die kulturelle Blüte ihrer Zeit ein. Karl schickte Emissäre mit dem Auftrag in die damals bekannte Welt, Zeugnisse und Schriften der Antike zu sammeln, abzuschreiben und zu katalogisieren, um sie der Nachwelt zu erhalten. Diese „karolingische Renaissance“ ist das Scharnier zwischen Mittelalter und Antike, ohne das die Gegenwart kaum etwas von ihren antiken Vorfahren wissen würde.
Wir haben an dieser Stelle schon oft festgehalten, dass historische Ereignisse und die Gegenwart nie in einem direkten oder unmittelbaren Zusammenhang stehen. Die Umstände sind unterschiedlich, die Motive, die zu einer Entscheidung geführt haben ebenfalls und die handelnden Personen sind nicht miteinander vergleichbar. Aber am 1210. Todestag des großen Franken Karl, der in Deutschland und Frankreich gleichermaßen als „pater patriae“ gefeiert wird, kann man festhalten, dass es erstaunliche Parallelen zwischen der Zeit am Beginn des 9. Jahrhunderts und heute gibt:
- Das Reich Karls des Großen ist der Kern jener Länder, die 1957 mit den Römischen Verträgen die „Europäische Gemeinschaft“ gründeten, aus der Anfang 1990 er Jahre die „Europäische Union“ hervorgegangen ist.
- Es gelten innerhalb der EU gleiche Rechte für alle EU-Bürger
- Mit dem Euro haben sich die Europäer eine gemeinsame Währung gegeben, die Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität sichert
Als wenn es das Jahr 814 wäre…
2023
blog | Dezember 2023 | die gründung der jungen pioniere
Die Gründung der "Jungen Pioniere" 1948
Wie in allen totalitären Systemen steckte auch in der DDR hinter der Gründung der „Jungen Pioniere“ am 13. Dezember 1948 der Gedanke, dass man die Jugend indoktrinieren muss, um das politische System zu stabilisieren. Die DDR-Führung – allen voran der starke Mann Walter Ulbricht – wollte es in allen Belangen dem „großen Bruder“ in Moskau gleichtun: Im April 1946 wurden KPD und SPD zwangsvereinigt zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Die übrigen Parteien wurden marginalisiert und im „antifaschistisch-demokratischen Block“ untergebracht, wo sie als „Blockparteien“ das Dasein eines Mauerblümchens fristeten. Alsdann ging es mit der Bodenreform nach sowjetischem Vorbild weiter. Das bourgeoise Großbauerntum, die adligen Landbesitzer und Großagrarier wurden zu Gunsten landloser Bauern enteignet. Anschließend wurden die neuen Landbesitzer drangsaliert, in eine „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ einzutreten. Eine Missachtung dieses „Wunsches“ zog massive Repressionen nach sich. Zigtausend Betroffene verließen das Land gen Westen und entzogen so der DDR-Wirtschaft Know How und gut ausgebildete Fachkräfte.
Blauhemd und aufgehende Sonne
Die DDR-Führung aber ließ sich nicht beirren und verfolgte weiter den Kopiervorgang der Errungenschaften der Sowjetunion, durch deren Gnaden sie überhaupt erst am Werke sein konnte. 1946 war die Gründung der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) erfolgt, bei der später der Schriftsteller Erich Loest im „Zeitzeugenportal“ der Stiftung „Haus der Geschichte“ eine „deutliche Tradition“ zur Hitlerjugend feststellte. Zwar reklamierte die DDR die Gründung und das Konzept der FDJ für sich, aber das war – wie vieles andere auch – nicht ganz die Wahrheit. Die ersten FDJ-Gruppen waren schon während des Zweiten Weltkriegs im englischen oder tschechischen Exil entstanden, wurden aber in der Gründungsgeschichte der DDR-Staatsjugend unterschlagen. In der FDJ waren Jungen und Mädchen ab 14 Jahren, ihre Mitgliedschaft war freiwillig. Nichtmitglieder hatten aber in der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit erheblichen Nachteilen sowohl bei der Zulassung zu weiterführenden Schulen als auch später beim Studium zu kämpfen.
Die FDJ war nach dem Vorbild des sowjetischen Komsomol aufgebaut. Hier wie dort sollten in diesen Nachwuchsorganisationen Jugendliche nach kommunistischen Idealen zu guten und ergebenen Staatsbürgern erzogen werden. Zum Komsomol gehörte die „Pionierorganisation Wladimir Iljitsch Lenin“, in der Jugendliche ab 14 Jahren waren, das Durchschnittsalter betrug allerdings 25. Der KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew bezeichnete die sowjetischen Pioniere später als „Erbauer des Sozialismus“ und räumte ihnen 1977 den direkten Zugang zum Machtzentrum im Kreml ein: sie bekamen das Recht zu Gesetzesinitiativen und stellten Kandidaten für die Volksvertretungen auf. Und so sollte es auch in DDR auch sein.
Allzeit bereit – Immer bereit
Die freiwillige Mitgliedschaft bei den „Junge Pionieren“ (JP) begann parallel zum Schuleintritt mit 6 Jahren. Wenn Eltern ihre Kinder nicht in den Reihen der JP sehen wollten, mussten sie aktiv die Nicht-Mitgliedschaft beantragen. Die Mitgliederquote von 98 Prozent zeigt aber, dass nur wenige diesen Schritt gegangen sind, weil damit massive Nachteile bei Schul- und Berufswahl für ihre Kinder verbunden waren. Das Motto der Pioniere lautete „Seid Bereit“. Dieser Aufforderung folgte bei öffentlichen Anlässen die vieltausendfach zurück gebrüllte Überzeugung „Immer bereit“. Ähnlich phrasenhaft waren die in den Ausweisen abgedruckten zehn Gebote der Pioniere: „Wie lieben unsere Deutsche Demokratische Republik und unsere Eltern“, stand da. Es folgten Liebesbekundungen für den Frieden und die Sowjetunion und das Versprechen fleißig, diszipliniert und hilfsbereit zu sein. Der Wille, Sport zu treiben und seinen Körper sauber zu halten, fehlte ebenso wenig wie der Wunsch zu singen, zu tanzen, zu spielen und zu basteln.
Man ahnt es angesichts dieser eher merkwürdigen Grundsätze des Pionierdaseins schon, dass die Begeisterung mit zunehmendem Alter der Teilnehmer erheblich abnahm. Denn kaum hatte die Jungpioniere das 10. Lebensjahr vollendet, warteten die „Thälmann-Pioniere“ auf sie, wo sie die nächsten vier Jahre verbringen konnten, bevor es dann in die „Freie Deutsche Jugend“ ging, die nur dem Namen nach frei war, denn eine Nichtteilnahme zog zusätzliche negative Konsequenzen auf den weiteren Lebensweg des jungen Menschen nach sich. Bei öffentlichen Anlässen wurde Ernst Thälmann als Held und Vorbild besungen und der Schwur angefügt, für „Frieden und Sozialismus immer bereit“ zu sein. Wenn der DDR-Jugendliche all das überstanden hatte, dann folgte der – natürlich freiwillige – Eintritt in die FDJ, was bis weit ins Erwachsenenalter andauern konnte.
FDJ = HJ?
Damit hatte der Staat jedenfalls in der Theorie ein wachsames Auge auf die junge Generation. Diese fürsorgliche Kontrolle ging an den Universtäten und Werkbänken der Ausbildungsstellen weiter, so dass man mit Erich Loest schon Berührungspunkte mit den Jugendorganisationen im NS-Staat finden kann. Zum Beispiel hier: „…und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort so oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten…“ Das gab Hitler bei einer Rede in Reichenberg vor Reichstagswahlen im angegliederten sudetendeutschen Gebiet im Dezember 1938 von sich.
Platte Analogien sind immer falsch und natürlich sind NS-Staat und DDR nicht miteinander vergleichbar. Weder die beiden Staaten noch ihre Organisationen verfolgten ähnliche oder gar gleich Ziele – eher im Gegenteil. Aber der Versuch, die Jüngeren im Sinne einer staatstragenden Ideologie zu beeinflussen und sie der Erziehungssphäre der Eltern entziehen, war beiden Staaten gleichermaßen wichtig. Und in beiden Fällen ist der Schuss nach hinten losgegangen. Im NS-Staat wich die anfängliche Begeisterung der Jugendlichen, mit dem Segen des Staates – und dessen Finanzierung – an Wochenenden und in den Ferien dem Elternhaus entfliehen zu können, einer Tristesse bei den HJ-Veranstaltungen. Unfähige Gruppenleiter, immer wieder kehrende langweilige Rituale und politische Indoktrination sind nicht die Zutaten eines jugendgemäßen Lebens. Das mussten auch FDJ und JP erfahren, deren Versammlungen für die Jugendlichen allenfalls Pflichttermine waren, die es abzusitzen galt. Ähnlichkeiten gab es auch bei der Kehrseite der Medaille, denn der Umgang mit „verhaltensauffälligen Jugendlichen“ war während des NS-Staates und in der DDR erschreckend.
„Schwererziehbare“ Jugendliche
Die DDR-Führung hatte es in den 40 Jahren der Existenz des Staates mit rund einer halben Million Kinder zu tun, die durch das staatlich organisierte Bildungsraster fielen. Die Gründe dafür konnten vielschichtig sein: Verlust der Eltern, kleinere kriminelle Vergehen, Verwahrlosung, kein Schulabschluss oder ganz allgemein „schwer erziehbar“. Bei etwa 80 Prozent der „auffälligen“ Jugendlichen erwartete die Regierung keine größeren Schwierigkeiten, es blieben etwas über 100.000 Jungen und Mädchen übrig, die in so genannte „Spezialheime für Schwererziehbare“ eingewiesen und weggesperrt wurden. Hinter den Mauern dieser 70, über das Gebiet der DDR verteilten „Erziehungseinrichtungen“ erwartete die Insassen Schlimmstes. Die Spezialeinrichtungen wurden „Jugendwerkhöfe“ genannt, waren meist in ausgedienten Gutshöfen, alten Kasernen oder Gefängnissen untergebracht und von der Außenwelt weitgehend isoliert. Drinnen herrschten unmenschliche Verhältnisse, bei kleinsten Vergehen wurden drastische Strafen verhängt. Obwohl in der DDR per Gesetz verboten, wurde hinter den verschlossenen Anstaltsmauern ohne Unterlass geprügelt und drangsaliert.
Die vielleicht schlimmste dieser Anstalten war in Torgau, auch „die grüne Hölle“ genannt, weil der dortige Jugendwerkhof inmitten einer grünen Umgebung stand. Eröffnet 1964 war der Jugendwerkhof Torgau eigentlich eine Strafvollzugsanstalt, die das komplette Scheitern des Versuchs dokumentierte, DDR-Jugendliche zu lenken und für den Staat gefügig zu machen. Ganz im Gegenteil: Als das Ende der DDR nahte, waren es vor allem die in der DDR sozialisierten jungen Menschen, die gegen das System, gegen den Staat und seine Gängelungen und für die Freiheit auf die Straße gingen. Sie waren das Sinnbild für das vollständige Scheitern des Bildungs- und Erziehungsideals in der damaligen DDR. Vielleicht wäre die Geschichte des ersten deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“ anders ausgegangen, wenn man nicht nur die Jugendlichen, sondern die DDR-Bürgerinnen und -Bürger insgesamt anders und besser behandelt hätte. Ich fürchte, dass wir die Nachwehen dieser Zeit immer noch zu spüren bekommen…
blog | November 2023 | die pippinsche schenkung
Die Pippinsche Schenkung von 753
Im Evangelium des Matthäus (16, 13-20) findet sich eine Passage, in der von einem Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern in der Gegend von Caesarea berichtet wird. Dabei fragte Jesus, für wen ihn die Jünger hielten, worauf Simon Petrus geantwortet haben soll „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Die Antwort, die Jesus laut dem Evangelisten Matthäus gab, hatte es in sich und vor allem weitreichende Folgen: „Du bist Petrus - der Fels -, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ Diese Äußerung lässt zumindest zwei Deutungen zu: Zum einen wollte der Gottessohn seine Kirche auf einem Felsen in der Nähe von Caesarea begründen – man stelle sich das einmal vor! – oder zum anderen könnte der auch Simon Petrus beauftragen wollen, seine Kirche zu bauen.
Es ist klar, welche Deutung die römische Kirche unmittelbar nach dem Märtyrertod des Petrus während der Christenverfolgungen des wahnsinnig gewordenen römischen Kaisers Nero Mitte der nachchristlichen 60er Jahre gewählt hat. Egal, ob Petrus nun tatsächlich Rom und dort auch noch Bischof war, Hauptsache er hat im Auftrag des Herrn die christliche Kirche auf Erden geschaffen. Da er nun praktischerweise auch noch der erste Bischof von Rom gewesen sein soll, nahmen alle seine Nachfolger – Franziskus ist der 266. – für sich in Anspruch, oberster Hüter der christlichen Kirche zu sein. Wenn man es mit der katholischen Kirche hält, dann kann man sagen, sie hat die Bibel zu ihren Gunsten ausgelegt, Schwamm drüber. Dennoch basiert die römisch-katholische Kirche mit dem Sitz im Vatikan in Rom auf einer wackligen Interpretation geschichtlicher Ereignisse, wenn denn Jesus wirklich mit Petrus und den Jüngern in der Nähe von Caesarea gesprochen hat…
Die Konstantinische Wende
Zurück nach Rom. Einfach war es nicht, in den ersten beiden Jahrhunderten nach dem Tod Jesu im Römischen Reich ein Christ zu sein. Die Jesusanhänger wurde brutal verfolgt, Nero und andere römische Kaiser haben Blutrauschartige Metzeleien gegen sie veranstaltet. Jahre lang lebten sie in Katakomben, waren weitgehend rechtlos und Freiwild für jene Römer, die den heidnischen Kulten anhingen, die ihre Kultur ihnen vorgab. Mit dem Beginn des 3. Jahrhunderts aber änderte sich das. In Rom wurde heftig gerungen um die Macht im Staate. 50 Jahre beherrschten Soldatenkaiser das Imperium, die ihre Macht auf Loyalität und Gefolgschaft ihrer Heere aufgebaut und das Land in Turbulenzen gestürzt hatten.
Am Ende dieser Zeit wird in Naissus, dem heutigen Nis in Serbien, ein gewisser Konstantin geboren. 306 wird er während der Tetrarchie als einer von vier (gleichzeitig über einzelne Teile des Römischen Reichs herrschenden) Kaisern erkoren und verwaltet zunächst Gallien und Britannien. Aber es kam, wie es kommen musste: Die vier Kaiser gerieten in Streit untereinander und kämpften um die alleinige Macht. Die entscheidende Schlacht fand am 28. Oktober 312 vor den Toren Roms an der Milvischen Brücke statt. Konstantin kämpfte gegen seinen innerrömischen Rivalen Maxentius.
In hoc signo vinces
Wichtiger als die Schlacht, die Konstantin mit der Folge gewann, dass er fortan als „der Große“ alleiniger römischer Kaiser wurde, war eine angebliche Vision. Vor der Schlacht, so berichtet es uns der Theologe und Geschichtsschreiber Eusebio von Caesarea, habe Konstantin das Christusmonogramm ChiRo in den Wolken am Himmel gesehen. Eusebio habe ihm darauf gesagt „In diesem Zeichen siege!“. Als Konstantin dann wirklich gesiegt hatte, soll er beschlossen haben, nicht nur die Standarten seiner Heere mit dem ChiRo-Monogramm zu versehen und selbst zum Christentum überzutreten (in Wahrheit wurde er erst auf dem Sterbebett Christ). Nein, er hat in einem Anfall von kaum nachvollziehbarer Dankbarkeit eine Schenkung veranlasst, die es in sich hatte.
Die Schenkungsurkunde besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beinhaltet das Glaubensbekenntnis Kaiser Konstantins. Früher sei Konstantin Christenverfolger gewesen, weswegen er von einem lebenslangen Aussatz befallen worden sei.
Seine Berater hätten darauf vorgeschlagen, im Blute unschuldiger Kinder zu baden und allerlei andere Abscheulichkeiten zu begehen. Als Konstantin aber wegen der Klagen der Mütter davon Abstand genommen habe, sei ihm im Traum jener Papst erschienen, dem wir bis heute den Namen des letzten Tages eines jeden Jahres verdanken: Silvester I. Er habe den Papst durch ein heilendes Bad von den Schmerzen befreit und anschließend christlich getauft.
Usque in finem saeculi
Soweit der erste ziemlich unsinnige Teil der Schenkungsurkunde. Aber der zweite ist noch irrer. Konstantin sei ob seiner Heilung derart dankbar gewesen, dass er dem Papst und allen seinen Nachfolgern ein tatsächlich großes Geschenk gemacht habe. Denn, so schreibt der Kaiser angeblich, habe er den Vorrang des römischen Bischofs (also der Päpste bis heute) gegenüber allen anderen Kirchen, also auch über die Patriarchate von Konstantinopel, Antiochia, Alexandrien und Jerusalem verfügt. Aber damit nicht genug, denn Kaiser Konstantin soll dem Papst noch die kaiserlichen Insignien (wie das Diadem, das Zepter oder den Purpurmantel) gegeben und das mit der Herrschaft des Papstes über Italien und den gesamten Westen des römischen Imperiums verknüpft haben.
Die Urkunde führt darüber hinaus aus, dass Konstantin dem Papst den Lateranpalast geschenkt und als Zeichen seiner Unterwerfung als Stallknecht das Pferd des Papstes geführt habe. Zum guten Schluss sei der Kaiser nach Konstantinopel umgezogen, während Papst Silvester seine Herrschaft über das westliche Abendland angetreten habe. Aber auch damit nicht genug, denn in der Urkunde geht es damit weiter, dass diese Regelungen „bis ans Ende der Zeit - usque in finem saeculi“ gelten würden. Man ahnt es schon: Eine Fälschung ziemlich plumper Natur. Aber diese Fälschung machte Karriere.
Pippin III. und Stephan II.
Mitte des 8. Jahrhunderts befindet sich Papst Stephan II. in einer misslichen Lage. Im Norden Italiens waren Langobarden sesshaft geworden, die einer Spielart des christlichen Glaubens – dem Arianismus – anhingen und dem Papst mehrfach gedroht hatten. Seit dem Ende des Weströmischen Reichs nach der Eroberung durch die Germanen 475 war der Vatikan nicht mehr im christlichen Zentrum der weltlichen Macht angesiedelt und damit einigermaßen sicher, sondern abhängig von der politischen Gemengelage auf dem europäischen Kontinent. Also wandte sich Stephan II. 753 an den fränkischen König Pippin III. und handelte mit ihm einen Deal aus: Er, Stephan, würde durch Salbung die unter merkwürdigen Umständen zustande gekommene Königswürde Pippins sanktionieren und ihn und seine Nachkommen (immerhin Karl der Große) mit dem Titel „Patricius Romanorum“ auszeichnen. Dafür müsse Pippin die Langobarden schlagen und – unter Berufung auf die gefälschte Konstantinische Schenkung – die von den Langobarden eroberten Gebiete an den Papst abtreten.
Gesagt, getan. Der fränkische König führt erfolgreich Krieg gegen Aistulf, den Langobardenkönig, und übergibt anschließend den Verwaltungsbezirk Rom, das Gebiet Ravenna, die Pentapolis (Rimini, Pesaro, Fano, Senigallia, Ancona) sowie Tuszien, Venetien, Istrien und die Herzogtümer Spoleto und Benevent an den erfreuten Papst, der daraufhin seine Obliegenheiten des Deals erfüllt. Win – win: Das Geschlecht der Karolinger wird Dynastie und wird mit Karl alsbald einen der bedeutendsten Herrscher des europäischen Mittelalters stellen und der Papst hat für sich und seine Nachfolger den Kirchenstaat ergattert. Dieses "Patrimonium Petri" wurde dadurch zu einem mittelgroßen Flächenstaat und existierte bis zur Gründung des Königreichs Italien 1871. Danach wurde er drastisch verkleinert und durch die Lateranverträge von 1929 anerkannt.
Zwei Fälschungen begründen den Kirchenstaat und das Primat des Papstes
Die erste wie die zweite „Schenkung“ beruhen auf Fälschungen, die von der römischen Kirche in Auftrag gegeben worden sind. Von der Schenkung des Jahres 330 wurde nachträglich eine Urkunde erstellt, wohl um 800 herum. Die zweite Schenkung soll angeblich in einer Urkunde festgehalten worden sein, leider findet sich auf der ganzen Welt kein Beleg dafür. Aber zwei gefälschte Dokumente reichen aus, um über Jahrhunderte dem Papsttum eine Vorrangstellung in der Welt einzuräumen und dem Vatikan zu großem Reichtum zu verhelfen.
Es dauerte bis 1440, als der Italiener Lorenzo Valla und der Deutsche Nikolaus von Kues die Fälschung der „Konstantinischen Schenkung“ und weil sie auf der gefälschten Schenkung aufbaute auch der „Pippinsche Schenkung“ nachweisen konnten. In der gefälschten Urkunde wird ein Latein verwendet, das zum angeblichen Entstehungszeitraum der Urkunde nicht verwendet wurde. Auch die Bezeichnung „Konstantinopel“ ist erst nach dem Tod des Kaisers und Modernisierers der Stadt üblich geworden, wird aber im gefälschten Text verwendet. Insofern machten die beiden Gutachten in der Mitte des 15. Jahrhunderts klar, dass der Kirchenstaat auf Lug und Trug aufgebaut war.
Späte Einsicht
Die katholische Kirche zeigte sich zunächst unbeeindruckt von den wissenschaftlichen Expertisen und ignorierte die Ergebnisse von Valla und von Kues. Mit der Reformation und einer Schrift des Reichsritters Ulrich von Hutten wurden die Fälschungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt, was den Vatikan dazu veranlasste, die Urkunde zwar als Fälschung anzuerkennen, aber auf der Schenkung Konstantins weiterhin zu bestehen. Die Fälschung sei obendrein das Werk dreister Griechen gewesen. Es dauerte noch mal 300 Jahre bis ein weiteres Gutachten eines katholischen Gelehrten dazu führte, dass der Vatikan die im päpstlichen Auftrag erstellten Fälschungen schließlich eingestand und zugab, dass aus einer Fälschung nicht der Anspruch auf die weltliche Macht im Weströmischen Reich „bis ans Ende aller Tage“ abgeleitet werden kann.
Zwischen Fälschung und Eingeständnis liegen rund 1000 Jahre, in denen die römische, später die katholische Kirche, Macht und Reichtum nicht nur für karitative Zwecke, sondern vor allem auch für Kriege und andere weltliche Entgleisungen eingesetzt hat. Eine Räuberpistole ohne gleichen!
blog | Oktober 2023 | der 30jährige krieg und der mittlere osten
Dreißigjähriger Krieg und Mittlerer Osten
Es ist 405 Jahre her, dass der verheerende 30jährige Krieg begann und 375, dass er mit dem Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück endete. Wir haben schon oft an dieser Stelle festgestellt, dass historische Analogien meist hinken und eben doch mehr oder weniger knapp an einer wirklichen Vergleichbarkeit vorbei gehen. Kritiker werden einwenden, dass das auch bei der Rückschau auf die Jahre 1618 und 1648 der Fall ist, dennoch will ich einen Versuch wagen, einen wichtigen Teil unserer europäischen Geschichte in die Gegenwart zu holen. Fangen wir vorne an - und zwar mit den Gründen, die zum 30jährigen Krieg geführt haben.
Religion I
Seit der Reformation am Beginn des 16. Jahrhunderts standen sich zwei christliche Konfessionen relativ unversöhnlich gegenüber. Katholiken und Protestanten bekämpften sich auf allen Ebenen. 1530 mussten die Lutheraner ein Glaubensbekenntnis ablegen, das sie als gute Christen ausweisen sollte. Vorgetragen durch Philipp Melanchton legten sie vor den Ohren Kaiser Karls V. beim Augsburger Reichstag am 25. Juni 1530 die „Confessio Augustana“ ab. Damit erreichten sie zwar nicht die volle Anerkennung aber immerhin eine Art Besitzstandswahrung. Frieden zwischen den christlichen Konfessionen wollte hingegen nicht einkehren. Die Protestanten gründeten gemeinsam mit den protestantischen Territorialherren den „Schmalkaldischen Bund“. Aber den Kampf gegen die kaiserlichen Truppen verloren sie, was den katholischen Kaiser Karl V. veranlasste, das Ergebnis von Augsburg durch eine neue Reichsverfassung ins Gegenteil zu verkehren und eine Übergangszeit zu definieren, innerhalb derer ein Konzil über die Wiedereingliederung der Protestanten in die römische Kirche des Papstes befinden soll.
Wie nicht anders zu erwarten, folgte ein Krieg: Der Schmalkaldische Krieg, mit dem Karl V. 1546 versuchte, den Protestantismus im Heiligen Römischen Reich zurückzudrängen und anschließend zu verbieten. Der Kaiser gewann zwar den Krieg aber nicht den Frieden im Reich. Andauernde Unruhen unter Protestanten und ein vom französischen König Heinrich II. unterstützter Fürstenaufstand in Sachsen zwangen Karl V. zur Flucht. Sein Bruder Ferdinand handelte angesichts der schwierigen Situation im Römischen Reich schließlich im September 1555 mit den Protestanten den Augsburger Religionsfrieden aus, der zwar die Religionsfreiheit festschrieb, aber einen „Geistlichen Vorbehalt“ einführte, der den Protestantismus überwinden sollte, wenn die „Glaubenseinheit“ wieder hergestellt sein würde. Aber der Frieden hält nicht lange. 1608 gründete sich die protestantische Union, die politischen und auch militärischen Beistand von acht Fürsten und 17 Reichsstädten bekam. Als Reaktion darauf wurde ein Jahr später die katholische Liga unter Federführung des bayrischen Herzogs Maximilian I. ins Leben gerufen. Damit standen sich die beiden Konfessionen – teilweise militärisch ausgerüstet – gegenüber: Eine wesentliche Zutat des zehn Jahre später beginnenden 30jährigen Kriegs!
Religion II
Springen wir in unsere Zeit zum 1. Februar 1979. Aus dem französischen Exil kehrte Ruhollah Chomeini nach Teheran zurück. Eine islamische Revolution hatte zuvor den verhassten Diktator Schah Reza Pahlavi aus dem Land getrieben und die Rückkehr des Islamgelehrten Chomeini ermöglicht. Innerhalb kurzer Zeit wurde dann aus „Persien“ die „Islamische Republik Iran“. Mit der Rückkehr des zum Staatsoberhaupt gekürten Religionsführers Chomeini wurde aber nicht nur der Islam zur Staatsräson, sondern auch der Gegensatz zum Judentum. Israel galt und gilt als „Stachel im Fleisch“ der muslimischen Welt – darin waren sich alle einig, egal ob Schiiten, Sunniten oder Wahhabiten.
Neben einem radikalen, religiösen Aufbruch am Golf von Persien erlebte die Welt Anfang der 1980er Jahre auch einen ebenso deutlichen Wandel der außenpolitischen Interessen des Iran. Aus dem Westen, der unter Schah Reza Pahlavi Jahrzehnte als Freund und Vorbild diente, wurde binnen Monaten der ärgste Feind, der mit seinen „westlichen Werten“ das perfekte Gegenbild zur islamischen Republik abgab. Unverhohlen verkündete die iranische Führung gleichzeitig einen Macht- und Führungsanspruch in der arabisch-muslimischen Welt und rief einen national-religiösen Aufbruch aus. Das hatte am 22. September 1980 den iranisch-irakischen Krieg zur Folge. Neben der Durchsetzung des schiitischen Islam ging es dem Iran dabei auch um die Vorherrschaft am Persischen Golf, die Hoheit über die Rohstoffe (vor allem Öl) und die Errichtung eines „Großarabiens“ unter iranischer Führung, wie es einst im Ersten Weltkrieg von den Engländern in Aussicht gestellt worden war.
Hegemonie I
Neben dem Religionskonflikt spielte am Beginn des 17. Jahrhunderts auch die Machtfrage eine erhebliche Rolle. Der römisch-deutsche Kaiser aus dem Hause Habsburg beanspruchte genauso eine führende Rolle wie auch der französische König. Aber damit nicht genug, denn hoch im Norden des Kontinents stritten Dänemark und Schweden um die Hegemonie im Ostseeraum und beobachteten argwöhnisch, was den Küsten geschah, die ihren Ländern gegenüber lagen. Vier Großmächte nutzten also den religiösen Streit zur Durchsetzung ihrer eigenen politischen Interessen. Das gilt im Übrigen auch für diejenigen (deutschen) Länder des Heiligen Römischen Reichs, die auf Seiten des Kaisers für die katholische Sache kämpften. Der bayrische Herzog verlangte 1620 seine Kriegsbeute für die Teilnahme an der Unterwerfung der böhmischen Aufständischen, bekam einen Teil der (protestantischen) Pfalz und trug so den Konflikt vom böhmischen Ursprung weiter in den deutschen Norden. Das Ergebnis: Der Krieg wurde weitergeführt, obwohl er eigentlich mit der Niederlage der Protestanten in Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg im November 1620 zu Ende war.
Nun betraten mit Dänemark und Schweden zwei Kontrahenten um die Vormacht im Ostseeraum den Kriegsschauplatz. Am Ende obsiegte Schweden, weil der dänische König Christian IV. 1629 die Segel nach militärischen Niederlagen streichen musste und König Gustav II. Adolf von Schweden nach einigem Zögern von den Protestanten als Heilsbringer – oder als „game changer“ – bejubelt wurde. Damit war aus dem Religionskrieg in Böhmen innerhalb weniger Jahre ein Hegemonialkrieg zwischen verschiedenen europäischen Großmächten geworden, der die religiöse Streitigkeiten mehr und mehr in den Hintergrund treten ließ.
Hegemonie II
Man ahnt es schon: Ähnliches spielt sich seit einigen Jahren im Mittleren und Nahen Osten ab. Aus dem Religionskonflikt wurden verschiedene übereinander gelagerte Konflikte: Macht und Einfluss in dieser an Bodenschätzen reichen Region der Welt wollen sowohl die Russische Föderation, als auch China und die USA sichern. Der Iran und Saudi-Arabien wollen die Heimstatt der Muslime vor westlichem Einfluss schützen und schmieden in Afghanistan, im Libanon, im Jemen, im Sudan und anderen afrikanischen Staaten entsprechende Bündnisse. Dabei geht es schon längst nicht mehr um die eigentlichen Ursachen der Konflikte im Mittleren Osten: der Streit um Kurdistan, die Zwei-Staaten-Lösung in Palästina oder der Religionskonflikt zwischen Muslimen und Juden.
Alle an den Auseinandersetzungen beteiligten nicht arabischen Mächte verfolgen hegemoniale oder gar imperiale Ziele, sorgen sich um die Versorgung mit Rohstoffen oder wollen Länder des arabischen Nordens Afrikas aus geopolitischen Zielen nicht aus der Hand geben. Russland ist in Syrien sogar bereit, weit über die Rolle eines Unterstützers hinaus ganze Landstriche, die von Aufständischen gegen Machthaber Assad beherrscht werden, zu zerbomben und dem Erdboden gleich zu machen. Sollte sich die Interessenlage Russlands ändern – das kann man derzeit am Konflikt um Bergkarabach beobachten – lässt Putin die einstigen Verbündeten aber fallen wie eine heiße Kartoffel.
Verfassungskonflikt I
Am 27. April 1608 fand in Regensburg ein Reichstag statt. An sich nichts Ungewöhnliches, wenn nicht bei diesem Reichstag etwas sehr Ungewöhnliches geschehen wäre. In den beiden Jahren zuvor war es in Donauwörth zu so genannten „Kreuz- und Fahnengefechten“ gekommen, als bei der Markusprozession Benediktinermönche singend und Fahnenschwenkend in einem nahe gelegenen Dorf den Katholizismus priesen, was angesichts einer protestantischen Bevölkerungsmehrheit als Provokation aufgefasst wurde. Es folgte eine zünftige Prügelei zwischen Katholiken und Protestanten, weil der Rat der Stadt Donauwörth den Mönchen den Zugang zur Stadt nur erlaubte, wenn sie die Fahnen einrollen und das Singen einstellen würden. Da beides nicht geschah, blieben die Stadttore verschlossen und der Bischof von Augsburg reichte gegen Donauwörth eine Klage beim Reichshofrat ein. Kaiser Rudolf II. drohte der Stadt mit einer Reichsacht, wenn sie die Rechte der katholischen Minderheit nicht respektiere und schütze.
Im Jahr darauf wiederholten sich die Ereignisse, weswegen der Kaiser die angedrohte Reichsacht verhängte und den bayrischen Herzog Maximilian I. damit beauftragte, die Strafe zu exekutieren. Ende April 1608 standen die Ereignisse von Donauwörth auf der Tagesordnung des Reichstags. Aber die anwesenden Fürsten konnten sich nicht auf eine gemeinsame Haltung verständigen, weswegen es keinen so genannten „Reichsabschied“ gab, also eine Auflistung aller beim Reichstag verabschiedeten Erlasse und Bestimmungen, die der Kaiser am Ende zu verlesen hatte. Nach diesem Reichstag war die Verfassung des Heiligen Römischen Reichs zerstört, es gab keine gemeinsame Institution mehr, durch die die Zentralmacht des Kaisers und die Territorialherren das Land gemeinsam regieren konnten. Der innerdeutsche Verfassungskonflikt ist die letzte Zutat des zehn Jahre später beginnenden 30jährigen Kriegs. Das Scheitern des Regensburger Reichstags war Auslöser für die Gründung erst der protestantischen Union und dann der katholischen Liga.
Verfassungskonflikt II
Und nun der Blick in den Mittleren Osten. Seit dem Abzug der amerikanischen Truppen nach dem dritten Golfkrieg, der unter US-amerikanischer Führung nach den Anschlägen des 11. September 2001 losgetreten wurde, ist der Irak unregierbar. Das Land befindet sich in einem dauerhaften Bürgerkriegszustand und wird seitdem geplagt von Terroranschlägen zum Beispiel durch Al-Qaida, die 2006 einen islamischen Staat ausriefen und einen innermuslimischen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten initiieren wollten. Das Land wurde tagtäglich erschüttert von Anschlägen unterschiedlicher Terrorgruppen. Die Vereinigung der Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs schätzt die Zahl der Toten auf bis zu einer Million.
Wie der Irak ist auch Libyen nach dem Sturz des Diktators Gaddafi unregierbar geworden. Als im Dezember 2010 durch die Selbstverbrennung eines verzweifelten Gemüsehändlers in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid der „arabische Frühling“ begann, wird schnell klar, dass sehr viele Länder des Mittleren Ostens ins Chaos gestürzt waren. Die Bevölkerungen in Syrien, Ägypten, Algerien und in vielen andren Ländern protestierten gegen ihre Regierungen und politischen Strukturen und brachten damit die alten politischen Systeme zum Einsturz.
Seitdem wartet der Mittlere Osten auf eine Friedenslösung. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat den Gedanken geäußert, die arabische Welt brauche ein Art Westfälischen Frieden, mit dem im Oktober 1648 der 30jährige Krieg zu Ende ging. Zumindest könnte man vier Dinge bedenken, wenn man einen arabischen Frieden angehen will:
1.) Trenne die Konflikte und löse sie einzeln, anstatt alles zu verhandeln und nur dann zu einer Friedenslösung zu kommen, wenn alles gelöst ist.
2.) Trenne die Kombattanten voneinander und lasse an unterschiedlichen Orten bestimmte Aspekte der Konflikte lösen
3.) Nimm Gott vom Verhandlungstisch, weil niemand den jeweils anderen von seiner religiösen Vorstellung überzeugen kann und weil man darüber auch nicht urteilen kann.
4.) Finde Garantiemächte, die dafür sorgen, dass die irgendwann gefundene und von allen akzeptierte Ordnung stabilisiert wird.
Das nämlich hat man 1648 in Münster und Osnabrück gemacht.
blog | september 2023 | stanislaw petrow und der dritte weltkrieg
Stanislaw Petrow und der Dritte Weltkrieg
01. September 1983: Überall verbreitet sich Entsetzen über den Abschuss der koreanischen Boeing 747 bei Sachalin. Die Maschine mit 269 Personen an Bord war auf dem Weg von New York nach Seoul von der Route abgekommen und hatte versehentlich über der Insel Sachalin im pazifischen Ozean sowjetischen Luftraum verletzt. Sofort waren Abfangjäger aufgestiegen, hatten das zivile Flugzeug als feindliches militärisches Ziel eingestuft und zwei Luft-Luft-Raketen vom Typ Kaliningrad K-8 abgefeuert. Über der sowjetischen Insel Moneron stürzt die koreanischen Maschine ab, alle 269 Personen kamen ums Leben.
Der amerikanische Präsident Ronald Reagan reagiert empört und fordert, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit niemals in Vergessenheit geraten dürfe. Die sowjetische Führung kontert vor dem UN-Sicherheitsrat, die Maschine sei unbeleuchtet und absichtlich in den sowjetischen Luftraum eingedrungen, um einen Spionageauftrag zu erfüllen. Die CIA sei für diese kriminelle und vor allem provokative Aktion verantwortlich. Ein sowjetisches Veto verhindert wenige Tage später die Verurteilung des Abschusses durch den UN-Sicherheitsrat. Am 15. September 1983 entzieht die amerikanische Regierung der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot die Überflugrechte über die USA und die Start- und Landegenehmigungen für sämtliche US-amerikanischen Flughäfen.
Stanislaw Petrow
Elf Tage später schiebt Oberstleutnant Stanislaw Petrow unweit von Moskau in einem kleinen Städtchen namens Serpucho-15 seinen Dienst. Er ist eingesprungen für einen erkrankten Kollegen. Petrow ist Militär bei den sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräften und als leitender Offizier in der Kommandozentrale der Sattelitenüberwachung eingesetzt. Ein verantwortungsvoller Job, denn Petrow und seine Kollegen können im Falle feindlicher Aktivitäten im Luftraum auch außerhalb der Sowjetunion Alarm auslösen und die Armada sowjetischer Atomraketen aktivieren. Am 26. September 1983 steht Petrow als ranghöchster Offizier an den Überwachungsmonitoren in einem Bunker etwa 50 Kilometer südlich von Moskau. Vor ihm flimmern Daten der Luftraumüberwachung auch aus den USA.
Kurz vor Mitternacht melden die Computer verstärkte Aktivitäten im US-Bundesstaat Montana, wo amerikanische Atomsprengköpfe und die entsprechenden Abschussrampen stationiert sind, die sowjetisches Territorium erreichen können. In den folgenden Minuten melden die Systeme insgesamt fünf Abschüsse von Atomraketen, die innerhalb von 28 Minuten eine entsprechende sowjetische Antwort provozieren. Sollte diese Antwort ausbleiben, werden die atomaren Sprengköpfe unweigerlich über dem Boden der UdSSR gezündet und explodieren. Der Schaden wäre immens, die Folgen kaum auszurechnen.
Fehlalarm oder Angriff?
Stanislaw Petrow kommen die Meldungen über den Start von fünf Atomraketen merkwürdig vor. Dass die USA auf den Abschuss einer koreanischen Passagiermaschine derart brutal reagieren würden, schließt er aus. Wenn die USA die UdSSR tatsächlich an diesem Tag angreifen wollten, warum dann nur mit fünf und nicht mit einigen Hundert Raketen? Zudem hatten die sowjetischen Frühwarnsysteme aus der Oko-Baureihe schon mehrfach falsche oder unzuverlässige Daten geliefert. Das könnte doch in dieser Nacht wieder geschehen sein, geht es Stanislaw Petrow durch den Kopf. Sodann bemerkt er, dass die US-Militärbasis genau auf der Tag-Nacht-Grenze liegt, so dass die gelieferten Sattelitenbilder nur eingeschränkt aussagekräftig sind.
Petrow hält die Befehlskette ein und informiert seine Vorgesetzten. „Das System“, so gibt er weiter, melde den Abschuss einer amerikanischen Interkontinentalrakete von der Militärbasis in Montana mit Flugrichtung Sowjetunion. Während des Telephonats mit einem hörbar aufgeregten General der Roten Armee schlagen die Computer erneut Alarm und melden den Abschuss von vier weiteren Raketen in Richtung UdSSR. Petrow versucht den General davon zu überzeugen, dass es sich um einen Fehlalarm handeln muss. Petrow steht unter enormen Druck: Sollte es sich um einen realen Angriff handeln, muss er dafür geradestehen, dass es keine adäquate Reaktion der Sowjetunion gegeben hat. Aber er lässt sich von den bohrenden Fragen des Generals nicht beeindrucken und setzt auf die Bodenradarstationen, die in wenigen Augenblicken die Raketen wahrnehmen müssten.
Atomarer Weltkrieg verhindert
Aber sie zeigen nichts an, „das System“ hat einen Fehlalarm produziert und Stanislaw Petrow ist nicht darauf hereingefallen. Er hätte einen atomaren Overkill auslösen können, denn seit geraumer Zeit sind beide Seiten im Kalten Krieg in der Lage, den jeweils anderen mehrfach auszulöschen („Overkill“). Der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte die Parole vom „Reich des Bösen“ ausgegeben und eine Billionen schwere Aufrüstung losgetreten. Durch Raketenabwehrsysteme im All („Strategic Defense Initiative – SDI“) sollte die militärische und vor allem wirtschaftliche Überlegenheit des Westens demonstriert und die UdSSR politisch unter Druck gesetzt werden. Durch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, der 1979 einen zehnjährigen blutigen Krieg ausgelöst hatte, war das Ansehen der UdSSR in der westlichen Welt ohnehin extrem beschädigt.
Kurz nach diesem Vorfall beginnt im März 1985 die Ära von Michail Gorbatschow, der sein Land auf einen umfassenden Abrüstungskurs bringt und damit ein weltweites Abrüsten auslöst. Aus der Zeit der Konfrontation wird allmählich eine der Kooperation, die letzten Endes zur Überwindung der europäischen Teilung führt, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Kontinent gespalten hat. Wer nun – wie die meisten Menschen – gedacht hat, dass dieser Zustand unumkehrbar ist, sieht sich dieser Tage getäuscht. In Zeiten, in denen die Russische Föderation seit 2014 die Ukraine erst massiv bedroht, dann unter Druck setzt und mit paramilitärischen Einheiten versucht, von innen zu zersetzen, um schließlich die Halbinsel Krim den Donbas zu annektieren, steht die Frage im Raum, ob es heute wieder einen Stanislaw Petrow geben würde. Könnte ein Fehlstart, eine optische Täuschung oder ein dysfunktionaler Computer heute eine atomare Konfrontation auslösen? 1983 wäre es beinahe passiert…
Kommunikation in Zeiten des Krieges
Der heiße Draht zwischen Moskau und Washington wurde nach der Erfahrung der Kuba-Krise am 30. August 1963 in Betrieb genommen. Es war tatsächlich ein rotes Telephon, das auf dem Schreibtisch des amerikanischen Präsidenten im Oval Office des Weißen Hauses stand. Durch diese Direktleitung sollten Missverständnisse oder Friedens gefährdende Irrtümer „auf höchster Ebene“ ausgeräumt werden. Die 13 Tage der Kubakrise im Oktober 1962, als Nikita Chruschtschow Atomraketen auf Kuba stationieren lassen wollte, hatten gezeigt, wie wichtig in solchen Krisenlagen eine offene Kommunikationsleitung ist. Im Oktober 1962 war die Welt an einem dritten Weltkrieg nur knapp vorbeigeschrammt: Das sollte nicht noch einmal passieren, war der beiderseitige Wunsch.
Insbesondere während des Sechstagekriegs, der im Frühsommer 1967 den Nahen Osten in Atem hielt, kam das rote Telephon zum Einsatz. Und auch als die Russische Föderation im Frühjahr 2014 völkerrechtswidrig die Krim besetzte und anschließend annektierte, wurde eine Direktverbindung zwischen den Generalstäben Russlands und der USA gelegt. Nach dem Minsk II – Abkommen vom Februar 2015 keimte noch einmal kurz die Hoffnung auf Waffenstillstand und Frieden auf. Aber das Minsker Abkommen konnte genau wie das Münchner Abkommen vom September 1938 die wahren Absichten des Aggressors nicht verdecken: Hitler wollte nicht nur das Sudentenland, sondern die gesamte Tschechoslowakei und Wladimir Putin wollte es nicht bei der Krim belassen, sondern strebte nach der gesamten Ukraine, der er den Status eines Staates absprach.
Auch und gerade jetzt, wo kaum Hoffnung auf ein rasches Ende des Krieges und auf eine Restituierung der Ukraine in den Grenzen des Jahres des Unabhängigkeit 1991 bestehen kann, ist ein direkter Draht zur militärischen Schaltzentrale der Russischen Föderation dringend notwendig. Diese Leitung wurde tatsächlich schon 2015 installiert, aber es ist nicht bekannt, wie die stark dieser Draht zur militärischen Führung der russischen Armee durch das Europa-Hauptquartier der US-Streitkräfte (und umgekehrt) genutzt wird. Aber bisher ist es jedenfalls nicht zu dem gekommen, was der russischen Ministerpräsident Dimitri Medwedew und einige TV-Propagandisten des Kreml unentwegt ankündigen: Einsatz atomarer Waffen, um den russischen Sieg in der Ukraine sicherzustellen. Damit wäre die berühmt-berüchtigte „rote Linie“ bei der NATO überschritten und es könnte zu einer globalen Auseinandersetzung mit der NATO kommen. So aber scheint die Leitung zwischen Europa und den russischen Streitkräften wenigstens vorerst das Schlimmste verhindern zu können.
blog | August 2023 | Das geiseldrama von gladbeck
Das Geiseldrama von Gladbeck
Sommer 1988. Das Deutschland ist im Urlaubsmodus, das Wetter ist prima und kaum einer nimmt Notiz von den Ereignissen in einer unscheinbaren Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Der hässliche Betonbau, in dem die Bank im Erdgeschoss den Schalterverkehr abwickelt, steht in einem Geschäftszentrum im Gladbecker Stadtteil Rentford-Nord. Am Morgen des 16. August 1988 rückt dieser Stadtteil und mit ihm die Deutsche Bank in den Mittelpunkt einer kriminelle Tat, die bis dahin ihresgleichen sucht. Hans- Jürgen Rösner und Dieter Degowski dringen kurz vor Schalteröffnung in den Innenraum der Bank ein, halten ihre Waffen auf den Kassierer, zwingen ihn, die Innentüren abzuschließen und anschließend auf die Knie zu gehen.
Was nun beginnt, ist ein Alptraum für Geiseln, Polizei und Politik. Eigentlich hätte der Überfall glimpflich ausgehen können: die Räuber nehmen das Geld, bekommen einen Fluchtwagen und werden anschließend von der Polizei verfolgt. Nicht so in Gladbeck an jenem verhängnisvollen 16. August 1988. Ein aufmerksamer Passant, der als Arzt seinen Patienten – den Kassierer – durch die anfangs noch offenen Vorhänge erkennt, ruft die Polizei. Während die ersten Streifenwagen anrücken, stellen Rösner und Degowski fest, dass sie den Schlüssel des Direktors brauchen, um an den Tresor zu kommen. Da der aber noch nicht da ist, ändern sie ihren Plan. Statt mit dem Geld aus dem Tresor zu verschwinden, fordern sie nun Lösegeld: Aus dem Bankraub wird eine Geiselnahme.
Die Täter
Jürgen Rösner wächst mit seinen vier Geschwistern in Gladbeck auf, leidet unter seinem kriegsversehrter, prügelnden und saufenden Vater, der seine Geliebte ungeniert mit nach Hause bringt. Mit neun Jahren wird er von seinem Vater zum Klauen angehalten, wechselt auf die Sonderschule und sitzt dort zusammen mit Dieter Degowski in einer Schulbank. Es folgen kriminelle Taten, Inhaftierungen, Fluchten aus diversen JVA und schließlich wieder eine Haftstrafe. Rösner wird in diesen Jahren immer rücksichtsloser und brutaler. Mitte der 1980er Jahre folgen mehrere Diebstähle, Einbrüche und Banküberfälle. Jürgen Rösner führt ein Leben zwischen Knast und Flucht.
Dieter Degowski ist ein Jahr älter und 1956 ebenfalls in Gladbeck geboren. Dort wächst er offenbar hirngeschädigt mit fünf Geschwistern auf. Er ist in seinen Bewegungen verlangsamt, zieht das Bein nach und wird als geistig zurückgeblieben beschrieben. Wie bei seinem Schulfreund Jürgen Rösner gehören auch bei ihm Alkohol und Prügel zum Alltag seiner Kindheit. Mit Ladendiebstählen oder Fahren ohne Führerschein verschafft er sich Ansehen im Freundeskreis und steigert sein Selbstwertgefühl durch Prahlereien mit kriminellen Taten. Degowski Lebensweg zeigt steil nach unten, als er von Jürgen Rösner angesprochen und überredet wird, die Deutsche Bank in ihrer Geburtsstadt Gladbeck zu überfallen.
Und die dritte im Bunde der Schwerkriminellen ist Rösners Freundin Marion Löblich. Offenbar ist sie Rösner hörig, denn als er an ihrer Haustür klingelt, nachdem das Ganze schon in eine Geiselnahme ausgeartet war, steigt sie ohne Zögern in das Auto und ist bis zum bitteren Ende dabei. Marion Löblich stammt ebenfalls aus einem zerrütteten Elternhaus, wird mit 16 Hilfsköchin und erlernt danach keinen Beruf. Sie geht in kurzer Zeit drei Ehen ein, die alle scheitern. Sie wird dreimal Mutter von jeweils unterschiedlichen Männern. Der dritte und letzte Ehemann ist ein Bekannter von Rösner, mit dem sie während ihrer dritten Ehe eine verhängnisvolle Affäre beginnt.
Der Alptraum
Rösner und Degowski haben nichts mehr zu verlieren, als sie am 16. August 1988 in die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck einbrechen und ein bis dahin nie dagewesenes Beispiel von Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor den Augen der Öffentlichkeit abgeben. Apropos Öffentlichkeit und Medien: Geradezu hemmungslos wittern einige Journalisten die Story ihres Lebens und scheuen nicht davor zurück, mit den Geiselnehmern Interviews zu führen und sich beinahe zu ihren Komplizen zu machen. Vor allem Jürgen Rösner nutzt die Sensationsgier der Journalisten für seine Zwecke, gibt bereitwillig Interviews, posiert mit einer durchgeladenen Waffe im Mund und droht vor laufenden Kameras abzudrücken.
Einen Tag nach dem Banküberfall ist das Trio mit zwei Geiseln in Bremen, wo sie im Ortsteil Huckelriede einen Bus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt bringen. Ungeniert stehen Rösner und Degowski der Presse Rede und Antwort, palavern über ihre Ziele und dass sie jederzeit von ihren Schusswaffen Gebrauch machen werden. Alsdann geht die Flucht mit dem gekaperten Bus weiter, 27 Menschen sind in der Gewalt zweier offenbar unzurechnungsfähiger Schwerkrimineller, die von Marion Löblich begleitet werden. Als der Bus später die Raststätte Grundbergsee auf der A1 ansteuert, kommt es zu einer Katastrophe, die das weitere Geschehen aus dem Ruder laufen lässt.
Ohne Anweisung der Einsatzleitung nehmen zwei Polizisten Marion Löblich fest und legen sie in Handschellen. Als die beiden Geiselnehmer davon erfahren, greift sich Degowski den 14jährigen Emanuele De Giorgi, hält ihm die Pistole an den Kopf und fordert die Freilassung von Marion Löblich binnen 5 Minuten. Aber der Schlüssel für die Handschellen bricht ab, Marion Löblich kann nicht in dieser kurzen Zeit freigelassen werden und Degowski dreht durch. Er schießt Emanuele De Giorgi in den Kopf, der blutend im Bus zusammenbricht. Nach der unkoordinierten Festnahme von Marion Löblich und dem zerbrochenen Schlüssel für die Handschellen ist das Fehlen eines Krankenwagens die dritte Polizeipanne, die Emanuele De Giorgi wenig später das Leben kostet. Als Marion Löblich schließlich frei ist, steigt sie wieder in den Bus, der seine Fahrt mit 27 Geiseln und dem Gangster-Trio in Richtung Niederlande fortsetzt.
Das Rendezvous in Köln
Über die Niederlande, wo die Geiselnehmer den Bus verlassen und in ein anderes Fluchtauto steigen, geht das Drama in der Kölner Innenstadt weiter. Unmittelbar nach ihrer Ankunft finden sich Hunderte Schaulustige ein, die den Wagen umringen und ebenso neugierig wie entsetzt sehen, dass Degowski einer der beiden Geiseln - Silke Bischof - emotionslos eine Waffe an den Hals hält. Unter die Passanten mischen sich zivile Polizeibeamte, die sondieren sollen, ob an dieser Stelle die Geiselnahme durch einen polizeilichen Zugriff beendet werden könnte. Angesichts von mehreren Hundert Schaulustigen nimmt die Einsatzleitung von diesem Plan aber Abstand. Dafür schreiten nun Journalisten ein, die sich ebenfalls eingefunden haben und ihre Kameras und Mikrophone in das Wageninnere halten.
Um bessere Photos machen zu können, schleppen Photographen Leitern heran. Sie sind auf der Suche nach einem sensationellen Satz oder einem Bild, das dann möglicherweise um die Welt geht und sie scheuen nicht nur vor dummen Fragen zurück. Im Gegenteil: Sie fordern Rösner und Degowski auch noch auf, die Waffe noch einmal kameragerecht in Position zu bringen. Auf die Reporterfrage, ob es weitere Forderungen gibt, sagt Degowski „nein, sonst werden die ja noch bekloppter, obwohl ich schon einen umgelegt habe.“ Ein Journalist ist sich nicht zu schade, die Geisel Silke Bischof zu fragen, wie es ihr geht. Er bekommt die Antwort „ja, gut eigentlich“. Jetzt hat der Journalist Blut geleckt und fragt weiter: „Was würden Sie der Polizei jetzt raten?“ Ein derartiges Fehlverhalten wird anschließend von einem herbeigeeilten Journalisten eines Kölner Boulevardblattes noch getoppt.
Jürgen Rösner bittet ihn, den Weg zur Autobahn zu zeigen. Udo Röbel soll in das Auto steigen und sie durch die Kölner Innenstadt auf die andere Rheinseite lotsen, wo sie dann über die Autobahn in Richtung Süddeutschland ihre Flucht fortsetzen können. Ohne Zögern steigt der Journalist in den Wagen und leitet sie bereitwillig durch die Kölner Innenstadt auf die Autobahn A 3. Was zunächst als inakzeptable Überschreitung der Linie zwischen Tätern und Berichterstattern erscheint, erweist sich im Nachhinein vielleicht als Aktion, die ein Blutbad verhindert hat. Denn die Kölner Polizei und die hinzugezogenen speziellen Einsatzgruppen haben keinen Plan, wie sie die Situation in der Kölner Innenstadt auflösen könnte, ohne dass Zuschauer oder Täter in Panik verfallen und sich eine wilde Schießerei entwickelt. Dadurch, dass Udo Röbel den Wagen im Schritt-Tempo aus der Menge herausleitet, löst sich die gefährliche Konstellation nahezu von alleine auf.
Das Risiko wird hingenommen
Aber auch ohne ein Blutbad in der Kölner Innenstadt, endet das Gladbecker Geiseldrama im Desaster. Auf dem Weg zur Autobahn hat die Polizei mehr Mühe, die Wagen der Journalisten zu stoppen, als dem Fluchtwagen zu folgen. Es gibt ein Gedrängel um die besten Plätze bei der Verfolgung der Gangster, ein Autopulk schiebt sich durch Köln und kommt erst auf der A 3 zum Stehen, weil Hans-Jürgen Rösner kurz vor der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz den Fluchtwagen auf dem Seitenstreifen stoppt. Die Einsatzleitung gibt die Anweisung aus, die Geiselnehmer festzunehmen. Das Risiko für das Leben der Geiseln sei hinzunehmen – heißt es ebenso lapidar wie fürchterlich. In den kommenden Minuten bietet sich ein gespenstisches Bild auf der ansonsten leeren Autobahn: der auf dem Standstreifen geparkte Fluchtwagen und in Entfernung Einsatzfahrzeuge der Polizei sowie die Fahrzeuge der Journalisten
Nun folgt die letzte und gleichzeitig schlimmste Panne der Polizei. Das Fluchtauto ist präpariert mit einer Abschaltvorrichtung. Aber der dazu notwendige Funksender ist vergessen worden, so dass der Fluchtwagen nicht per Fernsteuerung lahm gelegt werden kann, sondern von einem Polizeiauto gerammt und so an der Weiterfahrt gehindert werden muss. Der Fluchtwagen wird an der falschen Stelle gerammt, weitere SEK-Fahrzeuge umringen den Wagen Rösners und Degowskis. Gleichzeitig beginnt ein Schusswechsel, bei dem die Geisel Silke Bischof tödlich getroffen wird. Ines Voitl, die zweite Geisel, springt aus dem Wagen und versteckt sich in einem Graben. Sie überlebt das Geiseldrama und ist für ihr Leben traumatisiert. Von der Aussichtslosigkeit seiner Lage überzeugt, ergibt sich Rösner schließlich, Degowski liegt nach einem Kreislaufkollaps regungslos im Wagen. Marion Löblich hat den Schusswechsel zusammengekauert im Fußraum des Beifahrersitzes überlebt.
Rösner und Degowski werden zu langen Haftstrafen verurteilt, Löblich nach sechs Jahren Haft wegen guter Führung entlassen, während Degowski fast 30 Jahre seiner lebenslangen Haftstrafe bis 2018 absitzen muss. Rösner ist weiterhin in Haft.
Was bleibt?
Drei Tage hatten die Geiselgangster im Sommer 1988 Polizei und Medien in Atem gehalten. Die Pannen und das mannigfache Fehlverhalten von Journalisten und Polizisten wurden anschließend diskutiert. Der Deutsche Presserat rügte das Verhalten der Medien und sorgte für eine Erweiterung des Pressecodex, der fortan jedwede Kontaktaufnahme zwischen Journalisten und Tätern ebenso ausschließt wie aktive und eigenmächtige Vermittlungsversuche zwischen Polizei und Tätern durch Journalisten. Was sich heute nach Banalität anhört, war vor dem Gladbecker Geiseldrama keineswegs Common Sense unter Journalisten. In ihrer Ausbildung wurde über ein angemessenes Verhalten in derartigen Krisensituationen nicht gesprochen, weswegen keiner der im Sommer 1988 beteiligten Medienvertreter auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hat, ob sein Verhalten falsch sein könnte.
War es aber und das wiederum ist heute Common Sense. Ebenso wie das Verhalten von Polizei und SEK kritisiert wurde. Wegen des chaotischen Zugriffs der Polizei auf der A 3 musste sich der damalige NRW-Innenminister Herbert Schnoor den Vorwurf gefallen lassen, dass Geiseldrama unbedingt vor der Grenze zu Rheinland-Pfalz beenden zu wollen und somit für das unkoordinierte Eingreifen der Polizei verantwortlich zu sein. Vorwürfe gab es in alle Richtungen und alle waren berechtigt. Sie zogen Veränderungen in der Einsatztaktik der Polizei nach sich und ein geändertes Verhalten der Medien. Insofern hat das Drama von Gladbeck ein Nachdenken ausgelöst, das hoffentlich eine Wiederholung der Ereignisse des Sommers 1988 verhindert.
blog | juni 2023 | der 17. juni 1953 - volksaufstand in der ddr
Der 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR
Es begann auf der 2. Parteikonferenz der SED, bei der der Satz vom „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ in der seit drei Jahren existierenden Deutschen Demokratischen Republik fiel. Der Chef des SED-Zentralkomitees, Walter Ulbricht erklärte an diesem folgenschweren Julitag 1952, dass „die Mehrheit der Werktätigen so weit entwickelt (sei), dass der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist.“ Dann forderte er „Landarbeiter und werktätige Bauern (auf), sich auf völlig freiwilliger Grundlage zu Produktionsgenossenschaften zusammenzuschließen.“ Dabei – so Ulbricht - sei „notwendige Hilfe zu gewähren und dadurch zugleich das Bündnis der Arbeiterklasse mit den werktätigen Bauern zu festigen.“ Damit war der Grundstein für weitgehende Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung gelegt, die in ihrer Mehrheit weder den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ noch den „freiwilligen“ Zusammenschluss zu Produktionsgenossenschaften wollte.
Kein „Deutschlandvertrag“
Die DDR stand Anfang der 1950er unter erheblichem außen- und innenpolitischem Druck. Die Stalin-Noten zu einer deutschen Wiedervereinigung unter sozialistischen Vorzeichen waren vom Westen brüsk zurückgewiesen worden. Ein „Deutschlandvertrag“ war durch die schnelle und offensichtlich langfristige Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Wertegemeinschaft in weite Ferne gerückt und Ulbricht sah sein Heil in einer engen Anbindung an die stalinistische Sowjetunion. Den Kurs zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ hatte er sich zuvor von Stalin absegnen lassen und dabei darauf geachtet, dass „die Heimat und das Werk des sozialistischen Aufbaus durch die Organisierung bewaffneter Kräfte“[1] geschützt werden. Die Folgen dieser Parteikonferenz waren gravierend, weil die Beschlüsse einer Abschottung nach außen und einer Eindämmung nach innen gleichkamen.
Als erstes wurde die innerdeutsche Grenze abgeriegelt, wie es in einem vorherigen Beschluss des DDR-Ministerrates vorgesehen war. Grenzübertritte waren prinzipiell nur noch in Berlin möglich, entlang der deutsch-deutschen Demarkationslinie musste man die „grüne Grenze“ wählen, also mit dem Hab und Gut, das man tragen oder irgendwie mitnehmen konnte, die DDR verlassen. Die vielen Tausend Grenzgänger, die in Ost-Berlin lebten und in West-Berlin arbeiteten, waren von den Beschlüssen nicht betroffen, aber in der ostdeutschen Bevölkerung nicht sehr beliebt, weil sie viel Geld im Westen verdienten und nur wenig Geld im Osten für ihren Lebensunterhalt ausgeben mussten. Im Sommer 1952 wurden die Kasernierte Volkspolizei, der Vorläufer der „Nationalen Volksarmee der DDR“ und vor allem das Ministerium für Staatssicherheit ausgebaut. Beide Staatsorgane gingen nun gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner im Inneren und gegen „Republikflüchtlinge“ an den Grenzen der DDR vor. Gleichzeitig wurden die Länder abgeschafft und die DDR in ein straff geführtes zentralistisches Land umgebaut.
Stalins Tod
Mit der Neuordnung des Staates ging die Neuausrichtung der Wirtschaft einher. Gemäß den Beschlüssen der Parteikonferenz vom Juli 1952 wurde Betriebe verstaatlicht und Bauernhöfe in den „landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ kollektiviert. Begleitet waren diese Maßnahmen von einer schweren ökonomischen Krise, die die Versorgung der Bevölkerung in Frage stellte, eine massive Überschuldung der DDR nach sich zog und für einen Exodus von Landwirten, Ingenieuren und gut ausgebildeten Fachkräften sorgte. All das geschah in enger Abstimmung mit der politischen Führung in Moskau, die bis zum 5. März 1953 allein dem Willen des paranoiden Diktators Josef Stalin folgte. Am 6. März 1953 war die Welt eine andere, denn der sowjetische Machthaber war an einer Serie von Schlaganfällen in der Nacht verstorben, weil Ärzte und Leibwächter Angst hatten, ohne ausdrückliche Erlaubnis Stalins dessen Schlafgemächer zu betreten. So verstarb der Diktator hilflos auf dem Boden liegend, den finalen Zuckungen seines Körpers ausgeliefert.
In der DDR löste Stalins Tod zweierlei aus: Zum einen schöpften viele Menschen Hoffnung auf politische Reformen und ein Ende des Gegensatzes zwischen Ost und West. Zum anderen aber war Ulbricht trotz allem entschlossen, die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz vom Juli 1952 umzusetzen und sich gegen den Widerstand einiger innerparteilichen Gegner, die einen neuen Kurs forderten, durchzusetzen. Seine geplante Absetzung verhinderte er mit Unterstützung der KPdSU. Deren Ziel war Kontinuität in der DDR, weil die Staats- und Parteiführung in Moskau zu sehr mit den Auseinandersetzungen um die Stalin-Nachfolge beschäftigt war. Aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich aus der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Zerschlagung der rentablen Großbetriebe in der DDR ergeben hatten, waren nicht mehr zu übersehen und führten im Frühjahr 1953 zu ersten Unmutsbezeugungen in der DDR.
Erhöhung der Arbeitsnormen
Das berühmte Fass lief dann einige Wochen später über. Am 14. Mai 1953 beschloss das Zentralkomitee der SED eine Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent. Angesichts der krisenhaften Gesamtsituation des Staates konnte diese Erhöhung der zu erbringenden Arbeitsleistung bei gleichem Lohn von den Arbeiterinnen und Arbeitern nur als Hohn empfunden werden. Denn damit einher ging die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse und eine Missachtung ihrer Arbeitsleistung, die sie tagtäglich für den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ erbrachten. Das alles wischte die SED-Führung beiseite und beschloss zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts, am 30. Juni 1953, die Erhöhung der Arbeitsnormen, wodurch dem wirtschaftlichen Abschwung der DDR angeblich begegnet werden könnte.
Die Unruhen im Lande wurden lauter und waren schließlich nicht mehr zu übersehen, was die Führung in der Sowjetunion aus Sorge vor einem Flächenbrand im gesamten Ostblock dazu veranlasste, eine Delegation der SED nach Moskau einzubestellen. Bei dieser Gelegenheit wurde den ostdeutschen Genossen nicht nur der Ernst der Lage vor Augen geführt, sondern auch unmissverständlich auf eine Kursänderung gedrungen. Diese sahen den Verzicht auf Steuer- und Preiserhöhungen ebenso vor wie die Rücknahme der Kollektivierungen von Handwerksbetrieben oder Einzelhandelsgeschäften. Besitzer privater Industriebetriebe konnten die Rückgabe ihrer Geschäfte und Betriebe beantragen. Konfiszierten Landmaschinen sollten enteigneten Bauern zurückgegeben sowie sämtliche Verhaftungen und Urteile überprüft werden. Als einige aus der DDR-Delegation um Aufschub bei der Umsetzung dieser „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“ baten, entgegnete ihnen der ranghöchste Vertreter der Sowjetunion in der DDR, Wladimir Semjonow, mit einem barschen „Nein, denn in 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.“
„Faschistischer Putschversuch“
Aber sowohl die KPdSU-Führung als auch die Spitze der SED hatten die Situation in der DDR falsch eingeschätzt. Als am 11. Juni 1953 der „Neue Kurs“ im SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“ verkündet wurde, war es zu spät, den sich schnell entwickelnden Flächenbrand im ganzen Land aufzuhalten. Überall versammelten sich Menschen auf öffentlichen Plätzen und demonstrierten gegen den politischen Kurs der SED-Führung. Später notierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dass „der faschistische Putschversuch am 17. Juni 1953 gezeigt (hat), dass der Klassengegner seine Kräfte auf das Land konzentriert.“ Derart verblendet reagierte die gesamte Staatsführung mit Unverständnis und Fassungslosigkeit auf die Ereignisse des 17. Juni 1953.
Im ganzen Land wurden Dutzende Bürgermeisterämter, Kreisleitungen der Partei und Gebäude der öffentlichen Verwaltung besetzt. Selbst Einrichtungen des MfS und der Polizei waren vor den Aufständischen nicht mehr sicher. An einigen Orten wurden Haftanstalten gestürmt und Gefangene befreit, die Betriebe der großen Industrieregionen um Halle, Magdeburg, Dresden und Leipzig wurden lahmgelegt. Bis zu 1,5 Millionen Menschen sollen sich an dem Aufstand, der Polizei und Sicherheitsorgane der DDR bei weitem überforderte, beteiligt haben. Zentrum des Aufstands war Ost-Berlin, wo es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei kam. Gegen Mittag forderte Ministerpräsident Otto Grotewohl die Demonstranten auf, die „faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen zu ergreifen und den Staatsorganen zu übergeben.“
Rote Armee
All diese hilflosen Versuche der DDR-Führung, den Aufstand zu beenden, schlugen fehl. Einen Tag später verhängte die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über das Land und verkündete wenig später das Kriegsrecht, durch das sie die Regierungsgewalt in der DDR übernahm. Dann rückten die Panzer der Roten Armee aus den Kasernen gegen die Demonstranten vor und schlugen den Aufstand des 17. Juni 1953 blutig nieder. 16 sowjetischen Divisionen mit rund 20.000 Soldaten, die von 8.000 DDR-Volkspolizisten unterstützt wurden, waren im Einsatz. Die Opferzahlen schwanken zwischen 55 und 75 Toten. Nach der Niederschlagung wurden sowjetische Standgerichte eingesetzt, die bis zum 22. Juni 1953 19 Todesurteile fällten und vollstreckten. Mehrere Hundert Demonstranten wurden zu Haftstrafen in sibirischen Zwangsarbeiterlagern verurteilt.
„Tag der deutschen Einheit“
In der Bundesrepublik Deutschland reagierten Parteien und verantwortliche Politiker mit Empörung über die brutale Niederschlagung des Aufstands. Es zeige sich einmal mehr, wie menschenverachtend das DDR-System sei und wie wenig der Sozialismus die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen befriedigen könne. Da die Arbeiter in Ost-Berlin nicht nur für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen demonstriert, sondern auch Reisefreiheit, freie Wahlen und die Wiedervereinigung der beiden seit 1945 getrennten deutschen Staaten gefordert hatten, wurden in Bonn schnell Rufe laut, den Tag des Aufstands in der DDR zum westdeutschen nationalen Feiertag zu erklären und an jedem 17. Juni eines Jahres die Forderung nach einer deutschen Einheit zu proklamieren. Damit wurde der 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“ und war bis 1990 der Nationalfeiertag in der Bundesrepublik Deutschland.
Dieser Tag war zwar für die meisten Westdeutschen „nur“ einer von mehreren, arbeitsfreien Feiertagen, in der Rückschau aber bekommt dieser Tag eine andere Dimension. Denn die Forderungen nach freien Wahlen, nach Reise- und Meinungsfreiheit und nach einer deutschen Wiedervereinigung waren in der DDR immer wieder zu hören – mal lauter, mal leiser. Unüberhörbar waren sie schließlich bei den Montagsdemos 1989, die schließlich zu einer deutschen Einheit führten. Auch wenn es keinen direkten Zusammenhang gibt, waren die Forderungen nach Freiheitsrechten auch 1956 bei den Aufständen in Ungarn und Polen, beim Prager Frühling im Sommer 1968, bei der Charta 77 in der CSSR und schließlich bei der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solicarnosc zu hören. Insofern stand der 17. Juni 1953 am Beginn einer Entwicklung.
[1] Alles zitiert nach den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz der SED vom 2. bis 9. Juli 1952. Veröffentlicht vom Dietz-Verlag in Berlin, 1952
blog | mai 2023 |die eroberung konstantinopels durch truppen mehmeds II.
1453 – Die Eroberung Konstantinopels
Es waren quälend lange Wochen, in denen die Truppen des Sultans Mehmed II. einen Belagerungsring um Konstantinopel gelegt hatten. Die christliche Metropole am Bosporus war gut gesichert, Meter dicke Mauern umgeben die Stadt und machten sie seit Jahrhunderten uneinnehmbar. Aber in diesem Frühjahr 1453 hat sich die Lage entscheidend verändert. Ein Waffentüftler namens Urban hatte einige Monate zuvor seinem Sultan eine aus Bronze gegossene Kanone übergeben und sie nach der mythologischen, feuerspeienden Giftschlange „Basilisk“ genannt. Nachdem er Mehmed II. von der Wirkung seiner mittelalterlichen Artillerie überzeugt hatte, produzierte seine Werkstatt eine ganze Reihe Basilisken und platzierte sie anschließend in Reichweite Konstantinopels.
Die Belagerung begann am 2. April 1453 und endete mit der Einnahme der Stadt am 29. Mai 1453. Knapp 10.000 Verteidigern standen etwa 80.000 Angreifer gegenüber, die den letzten Rest der einstigen christlichen Vorherrschaft im nordwestlichen Kleinasien beseitigen sollten. Aber ohne Urbans Kanonen wären sie vermutlich an den gewaltigen Verteidigungsanlagen gescheitert. So aber zermürbten die Truppen Mehmeds II. die Verteidiger der Stadt mit Angriffen auf Land und See. Tag für Tag zog sich der Ring enger um die Stadt, deren Bewohner die Verteidigung mit mehr als 9.000 Opfern bezahlten. Wie viele Tote Mehmed „der Eroberer“ zu beklagen hatte, blieb sein Geheimnis.
Exodus nach Europa
Als sich die Niederlage abzeichnete, begann ein regelrechter Exodus aus Konstantinopel. Christliche Theologen, Gelehrte aller Fachrichtungen und Literaten verließen die Stadt in Richtung Europa. Viele von ihnen kamen mit dem Schiff in Italien an, wo sie schnell Kontakt fanden zu Wissenschaftlern und Gelehrten ihres Faches. Sie waren als Glaubensbrüder im christlichen Abendland willkommen, zumal sie die gerade beginnende Renaissance wesentlich bereichern konnten. Die Renaissance war eine Kulturepoche, die sich über drei Jahrhunderte erstreckte, ihren Höhepunkt zwischen 1400 und 1600 hatte und den Übergang des Mittelalters in die Neuzeit begleitete. Die mitteleuropäische Kultur ist von dieser Zeit maßgeblich geprägt und hat wegen der Mitarbeit christlich-orthodoxer Künstler und Wissenschaftler auch eine Wurzel im kleinasiatischen Raum der heutigen Türkei. Wie der gesamte Kontinent so sind auch seine Kultur und seine geopolitische Herkunft Ergebnis von Wanderungsbewegungen, die Europa immer wieder erreicht haben.
Am 29. Mai 1453 war die Eroberung Konstantinopels abgeschlossen, die Soldaten Mehmeds II. zogen plündernd und mordend durch die Stadt und nahmen sie als letztes Mosaiksteinchen ihres riesigen Osmanischen Reichs in Besitz. Damit begann für die Stadt eine neue Epoche, die bis 1922 reichen sollte. Sie war gekennzeichnet von kriegerischen Auseinandersetzungen in Kleinasien, von militärischen Konflikten mit dem russischen Zarenreich und einigen erfolglosen Versuchen, nach Europa vorzudringen. Gleichzeitig sorgte das Osmanische Reich, das bis 1566 und der Herrschaft Süleymans „des Prächtigen“ zum Weltreich wurde, für kulturelle und wissenschaftliche Blüte. Am Ende war es zum „kranken Mann am Bosporus“ geworden, weil Dekadenz, Korruption und Vetternwirtschaft das Land ruiniert hatten.
Wechselvolle Geschichte einer Stadt
Bis es soweit war, hatte die Stadt wie kaum eine andere Metropole auf der Welt eine wechselvolle Geschichte erlebt. Mehr als 600 Jahre vor Christi Geburt wurde sie als Byzantion gegründet. Ihr Namensgeber ist der sagenhafte Byzas, ein Heerführer der Dorer, die im heutigen Makedonien und Albanien siedelten. Damals wie heute sprach die geographische Lage an Marmarameer und Goldenem Horn des Bosporus für die Stadt. Von dort ließ sich der gesamte Verkehr zu Lande und zu Wasser in Kleinasien kontrollieren und wirtschaftlich nutzen. Politisch und kulturell stand Byzantion lange unter dem Einfluss der Perser, deren Reich der Achämeniden von der makedonischen Küste am Ionischen Meer bis zu den Höhen des Hindukusch im heutigen Afghanistan reichte und das Schwarze Meer mit der Stadt Byzantion einschloss.
Als sowohl das persische als auch das griechische Weltreich untergegangen waren, erschienen die Römer in Byzanz und machten die Stadt während der Herrschaft Kaiser Konstantin zum zweiten Regierungs- und Verwaltungssitz des Imperium Romanum. Vorausgegangen war ein erbitterter innerrömischer Streit zwischen Konstantin und politischen Gegnern, den er nach dem Sieg über Kaiser Licinius 324 endgültig für sich entscheiden konnte. Bald darauf begann Konstantin, der später „der Große“ genannt werden sollte, die Stadt prunkvoll auszubauen und sie um das Fünffache zu vergrößern. Ihm war die geostrategische Lage an Marmarameer und Bosporus ebenso wenig entgangen wie die Nähe zu Donau und Euphrat.
„Nova Roma“
Konstantin nannte die Stadt „Nova Roma“ und soll angeblich den Auftrag erteilt haben, sie ähnlich wie Rom auf sieben Hügeln zu erweitern. Mit dem Sieg über Licinius hatte Konstantin aber nicht nur den Machtkampf in Rom gewonnen, sondern die Frage der Gewichtung zwischen dem west- und dem oströmischen Reichsteil entschieden. Vorerst blieb Rom das alleinige Zentrum des Imperiums, aber Byzanz sollte die Verteidigung der östlichen Reichsgrenzen organisieren und die Vorherrschaft in Kleinasien sichern. Konstantin war Herrscher über das Gesamtreich, nannte sich aber auch byzantinischer Kaiser. Einige Jahre nach seinem Tod wurde die Stadt nach ihm benannt – Konstantinopel – und Theodosius I., einer seiner späteren Nachfolger, machte 395 seine Söhne Honorius (im Westen) und Arcadius (im Osten) zu seinen Nachfolgern in den beiden Reichshälften.
Damit war das Imperium Romanum de facto geteilt, gleichwohl die beiden Kaiser sich durchaus einem gemeinsamen Ganzen zugehörig und verantwortlich fühlten. Konstantinopel wurde zur Metropole eines Kaiserreichs und erhielt seine religiöse Prägung durch die in Rom initiierte Christianisierung des Reichs. Mit dem Konzil von Nicäa 325 – ganz in der Nähe von Konstantinopel – war ein innerkirchlicher Streit um die Bedeutung der Trinität Gottes als „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ beigelegt worden und der Siegeszug des Christentums im Römischen Reich konnte beginnen. 381 folgte das zweite ökumenische Konzil, dieses Mal in Konstantinopel, und legte den Grundstein für die Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion.
„Melting Pot“ der Religionen
Am Anfang war es kultischer Glaube, der die alte Stadt Byzantion prägte. Die Griechen brachten ebenfalls kultische Rituale in die Stadt und verbreiteten ihren Götterkult. Mit den Römern, die viel von der griechischen Kultur übernommen hatten, ging es kultisch weiter. Nach der Eroberung Roms 475 durch die Germanen und dem damit verbundenen Ende des „Weströmischen Reichs“ eröffneten die Römer 537 die Hagia Sophia als römisch-christliches Gotteshaus der Reichskirche. Diese Reichskirche war mit einem Edikt schon 380 gegründet worden und bestand bis 1054 als politisch-religiöses Verbindungsglied zwischen den Teilen des römischen Großreichs, dessen Zentrum neben dem geschwächten Rom nun Konstantinopel war. 1054 kam eine Zäsur, weil sich der Papst in Rom und der Patriarch von Konstantinopel derart zerstritten hatten, dass es zum „großen Schisma“ also der Trennung der beiden christlichen Kirchen kam. Der Streit ist bis heute nicht gelöst und dreht sich seit damals um die Stellung des Papstes, die Eucharistie und eine lateinische, also römische, Kirche in Konstantinopel.
Fortan bestimmte die christlich-orthodoxe Kirche den Glauben im oströmischen Reich und die Hagia Sophia stand im Mittelpunkt der christlichen Orthodoxie. Das änderte sich 1204, als christliche Ritter des vierten Kreuzzugs die Stadt eroberten und dem lateinischen Glauben, also der theologischen Lesart des Papstes in Rom, wieder Geltung verschafften. Nun wurden orthodoxe Insignien aus der Hagia Sophia entfernt und durch christlich-lateinische ersetzt. Diese zugegebenermaßen komplizierte Situation wurde 1261 noch etwas unübersichtlicher, weil Konstantinopel diese Mal von einem byzantinischen Heer quasi zurückerobert und damit wieder zur Mittelpunkt des orthodoxen Christentums im Vorderen Orient wurde. Das blieb sie dann auch bis 1453, als die Stadt zur Metropole des Islam wurde und bald danach Istanbul hieß. Die Stadt mit den unterschiedlichen religiösen und spirituellen Prägungen und den drei Stadtnamen war und ist ein Schmelztiegel, der sich eigentlich als Treffpunkt der Religionen bestens eignet.
Vom Museum zur Moschee
Dem aber steht die momentane Regierung in Ankara unter Recep Tayyib Erdoğan entgegen. Als Moslem sieht der türkische Präsident offenbar seine Mission darin, die einst christliche Kirche - Hagia Sophia – wieder zum Zentrum des muslimischen Glaubens zu machen. Bis 1935 war sie Moschee, danach diente diese atemberaubende Kirche auf Anraten des Republikgründers Kemal Atatürk als Museum. 2020 wurde diese weise Entscheidung durch das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei aufgehoben. Seither ist der Sakralbau wieder als Moschee zu nutzen, was seit dem 24. Juli 2020 auf Geheiß des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auch in die Tat umgesetzt wird.
Damit hat die Stadt Istanbul oder die türkische Regierung eine Chance vertan, Ort für religiöse Toleranz zu werden. Die meisten kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten 2000 Jahre haben einen religiösen Hintergrund oder anders gesagt, waren Ausdruck religiösen Hasses. Neben Jerusalem, der Stadt, die alle Weltreligionen in ihren Mauern beherbergt, wäre die Hagia Sophia und Istanbul als Stadt ein bestens geeigneter Ort, um den Versuch zu unternehmen, diesen Hass zu bezwingen.
blog | April 2023 | die hitler-tagebücher waren kein jahrhundertscherz
Die Hitlertagebücher waren kein Jahrhundertscherz
Es ist der 25. April 1983. Wenn es nach den Verantwortlichen des Hamburger Verlagshauses Gruner und Jahr geht, wird an diesem Tag Geschichte geschrieben – und zwar nicht nur deutsche oder europäische Geschichte, sondern Weltgeschichte. Es geht um nichts Geringeres als des Führers Tagebücher, die der Stern an diesem Tag veröffentlicht und mit dem reißerischen Slogan versieht, die „Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches muss in großen Teilen neu geschrieben“ werden. Sämtliche Historiker, die sich mit der Geschichte des „Dritten Reichs“ und des Holocaust beschäftigt haben, erleiden in diesem Moment Herzattacken oder zweifeln zumindest an ihrer bisherigen Arbeit.
„Führer Hitler“
Die Stern-Chefredaktion in Hamburg trommelt an diesem 25. April 1983 die Weltpresse zusammen und lässt ihren Star-Reporter Gerd Heidemann triumphierend das Objekt der Begierde in die Höhe halten: Die Tagebücher Hitlers – schwarz gebunden mit roten Siegellack und den Buchstaben „FH“ versehen. Wenn man die Bilder genau betrachtet, ist das Gesicht Heidemanns versteinert, als sei ihm in diesem Augenblick das Ausmaß des Desasters bereits bewusst. Was er in Händen hält und was er dem Stern für mehrere Millionen D-Mark verkauft hat, sind nichts als Fälschungen aus der Werkstatt von Konrad Kujau, einem Meister seines Faches, denn die Schrift Hitlers ist täuschend echt und – man kann es nicht anders sagen – gelungen.
Aber schon der Einband machte klar: Die Tagebücher müssen Fälschungen sein. Da aber nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurden die Initialen „FH“ als „Führer Hitler“ umgedeutet und durchgewunken. Besoffen von der Vorstellung eines wahren Geldregens, der von Chefredaktion und (!) festangestelltem Reporter Gerd Heidemann durch die weltweite Vermarktung der Tagebücher zu erwarten war, wurde selbst der gröbste Unsinn geglaubt. Konrad Kujau hatte die schwarzen Kladden und die Buchstabenstanzen der Schriftart „Engravers Old english normal“ in der DDR in einem Konsumladen gekauft. Als er bemerkte, dass ihm das „A“ fehlt, verwendete er auf einigen Einbänden einfach ein „F“. Egal, Hauptsache es sieht gut aus. So wurde in den Räumen der Chefredaktion des Stern aus Adolf eben „Führer“ Hitler und die Katastrophe nahm ihren Lauf, die sich allerdings leicht hätte vermeiden lassen können.
Gereimtes von Gefreiten
Denn wenige Monate zuvor hatte der Stern über einige Fälschungen berichtet, die dem renommierten Zeithistoriker Eberhard Jäckel untergejubelt worden waren. Jäckel hatte 1980 mit dem Historiker Axel Kuhn eine Quellenband „Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924“ herausgebracht. Dabei waren den beiden Herausgebern Fälschungen aus der Feder Konrad Kujaus verkauft worden, die als angebliche Werke Hitlers – leider - Eingang in die Quellenedition gefunden hatten. Ein vermeintliches Gedicht des Weltkriegs-Gefreiten aus dem Jahr 1916 wurde neben anderen Dokumenten vom Stern unter der Überschrift „Gereimtes von Gefreiten H.“ im Oktober 1980 abgedruckt. Dann aber wurde das Gedicht vom Archivar des Münchner Instituts für Zeitgeschichte als ein Werk des NS-Dichters Herybert Menzel entlarvt, das dieser unzweifelhaft erst rund 20 Jahre später verfasst hatte. Daraufhin veröffentlichten Jäckel und Kuhn in den renommierten „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ Zweifel an der Quelle ihrer privat erworbenen „Hitler-Dokumente“. Ihre Quelle nannte sich „Sammlung Stiefel“, hinter der niemand anderes als der Fälscher Konrad Kujau steckte.
Aber Kujau lässt die Infragestellung seines Rufes nicht auf sich sitzen und verfasst zwei „Gutachten“ für den Stern und den Reporter Gerd Heidemann, die die vermeintliche Echtheit des Hitler-Gedichtes mit dem bezeichnenden Titel „Der Kamerad“ bestätigen. Im Stern schöpfte selbst dann niemand Verdacht, als sich herausstellte, dass die ausstellende DDR-Behörde gar nicht existierte. Mehr noch: Die Blattmacher waren ganz heiß auf weitere Texte des „Führers“ und willigten schließlich in die Beschaffung der Tagebücher ein. War zu Beginn die Rede von 27 Bänden, waren es am Schluss erstaunlich schnell beigebrachte 62 in Leder gebundene Kladden, für die der Stern die astronomische Summe von 9,34 Millionen D-Mark hinblätterte. Kurz vor der Veröffentlichung wurden ein Schweizer und ein US-amerikanischer Schriftexperte um ihre Expertisen hinsichtlich der Echtheit der Tagebücher gebeten. Beide bestätigten die Echtheit, aber ihre Gutachten hatten einen erheblichen Haken: Sie bekamen zum Vergleich zwei von Kujau ebenfalls gefälschte Dokumente vorgelegt und die waren – natürlich – echt!
Die Geschichte muss nicht umgeschrieben werden
Dann wurde das Ganze veröffentlicht und wenige Tage später als Fälschung entlarvt. Der Stern war blamiert und die Geschichte des „Dritten Reichs“ musste nicht umgeschrieben werden. Dafür wanderten die gefälschten Tagebücher in den Safe des Verlagshauses und blieben dort für die nächsten rund 40 Jahre. Dann veröffentlichte der NDR Kopien der gefälschten Tagebücher und ließ sie wissenschaftlich vom Politikwissenschaftler Hajo Funke kommentieren. Die nun mögliche Gesamtschau der angeblichen Tagebücher Hitlers legt offen, dass es sich um den Versuch der neonazistischen Umdeutung der deutschen Geschichte gehandelt hat. Das passt zu den beiden Hauptfiguren Konrad Kujau und Gerd Heidemann, die enge Kontakte zu „alten Nazis“ oder Leugnern des Holocaust hatten. Heidemann war überdies Jahre lang mit Edda Göring, einer Tochter von Hermann Göring, liiert und hatte dessen Luxusyacht „Carin II“ und allerlei Nazi-Devotionalien erworben, die er meistbietend unters Volk brachte.
Kujau und die Neonazis
Konrad Kujau hat nach Recherchen des NDR und nach Überzeugung Funkes ein ideologisches Weltbild gehabt, in dem die Leugnung des Holocaust und die ungebrochene Verehrung Hitlers Platz hatten. Er war Militaria-Händler, tauchte in seiner Stammkneipe häufig mit dem Hitlergruß auf, bezeichnete sich selbst als „Neonazi“ und trug bei diversen Gelegenheiten SS-Montur nebst einem SS-Ring mit gefälschter Unterschriftsgravur des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler. Bei seinen zahlreichen Besuchen in der ehemaligen DDR geriet er auch in den Blick des Ministeriums für Staatssicherheit, das notierte, Kujau habe „das Dritte Reich gelobt“. In Westdeutschland pflegte er zudem enge Kontakte zu einem der führenden Figuren der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten“ (ANS/NA) von Michael Kühnen, dem in den 1980er Jahren bekanntesten Neonazis der Bundesrepublik.
In diesem Umfeld gediehen die neonazistischen Phantasien Kujaus, er übte bis zur Besinnungslosigkeit die Handschrift Hitlers, weil NS-Devotionalien mit einem „Führer-Autogramm“ ungleich besser zu verkaufen waren und er verstrickte sich immer tiefer in den ideologischen Sumpf der ANS/NA um Michael Kühnen. So gesehen war es logisch, dass seine Hitler-Tagebücher ohne eine Erwähnung des Mordes von Millionen Juden auskommen. Auch nach „Auschwitz“ oder „Deportation“ sucht man vergebens. Kein Zweifel: Die Fälscher der Tagebücher wollten den Holocaust löschen, Hitler reinwaschen und seine Mitwisser- geschweige denn -täterschaft in Abrede stellen. Der so in Szene gesetzte Hitler hat angeblich Himmler angewiesen, die Juden an einen Ort in den von Deutschland besetzten Gebieten in Europa zu bringen, wo sie für sich selbst sorgen könnten. Auch beim missglückten Attentat auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller spielt Himmler in den Tagebüchern eine entscheidende Rolle. Der Kujau-Hitler vermutet den „Reichsführer SS“ als Drahtzieher hinter dem Anschlag, weil dieser angeblich seine Befehle nicht ausführe: „Dieser hinterhältige Kleintierzüchter mit seinem Drang zur Macht, dieser undurchsichtige Buchhaltertyp wird mich auch kennenlernen.“
Derlei Unsinn über 62 Bände verteilt zu lesen, ist eine Zumutung. Wer es dennoch gemacht hat, kommt zu einem eindeutigen Urteil: Der Verbrecher Hitler, dessen Politik auf die Vernichtung der Juden und der Bolschewisten und auf die Unterdrückung des europäischen Kontinents abzielte, war nicht Agens, sondern Opfer von radikalen, antisemitischen und gewaltbereiten Parteifunktionären, die seine Befehle missachteten. Eigentlich - hätte man denken können -, würde der Betrug mit den Tagebüchern Hitlers den Verlagshäusern eine Warnung sein. Man würde Sicherheitsmaßnahmen in den Redaktionen einziehen, die derartige Machenschaften verhindern könnten. Aber weit gefehlt.
Von Sharon Stone zu Clas Relotius
Aber Anfang der 2000er Jahre saß die Süddeutsche Zeitung Interviews auf, die nie geführt worden waren. Sharon Stone, Ivana Trump und andere US-Promis waren von einem aus Hollywood berichtenden freien Mitarbeiter angeblich interviewt worden. Die SZ und das SZ-Magazin druckten die Gespräche Jahre lang ab – ohne Kontrolle und waren anschließend die Blamierten. Der vermeintliche Journalist „begründete“ seine Manipulationen so ähnlich wie Konrad Kujau: Er sei Künstler und als solcher nicht journalistischen Standards verpflichtet. Stern TV wurde mit gefakten Stories über den Ku-Klux-Klan in der Eifel oder über Teppich knüpfende Kindersklaven in Indien, die angeblich für IKEA arbeiten, übers Ohr gehauen. Der Fälscher verwies im anschließenden Prozess auf das Quoten fixierte Mediensystem, das derartige Sensationsfälschungen geradezu provoziere.
Und schließlich: Der Spiegel. Clas Relotius, ein junger Reporter, der als neuer Stern am deutschen Journalistenhimmel gehypt wurde, dachte sich eine Geschichte aus, um seinem Ruf neuen Nahrung zu geben. Niemand kontrollierte die Reportage über Grenzkontrollen im mexikanisch-amerikanischen Grenzgebiet, die vom ersten bis zum letzten Buchstaben ausgedacht war. Schließlich flog der Schwindel auf, weil einer seiner Kollegen Unstimmigkeiten im Text entdeckte und eine Gegenrecherche startete. Aber selbst dieser Fake war nicht der letzte. Im Sommer 2022 veröffentlichte der Spiegel auf seine Webseite einige Beiträge über das Schicksal von Flüchtlingen am griechisch-türkischen Grenzfluss Mariza, wo angeblich gestrandete Flüchtlinge ohne Hilfe der griechischen Regierung sich selbst überlassen geblieben wären. Die unterlassene Hilfeleistung habe zum Tod eines fünfjährigen Mädchens geführt.
Die Wahrheit ist, dass nie gestrandete Migranten dort angekommen sind und ein totes Mädchen hat es zum Glück auch nicht gegeben. Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass es trotz Hitler-Tagebüchern und gefakten SZ-Interviews immer noch keine ausreichenden Kontrollen und Fakten-Checks gibt, um Fake-Geschichten vor der Veröffentlichung zu enttarnen. Das ist umso bitterer, weil eine Häufung von falschen Geschichten die Rolle der Medien als „vierte Gewalt“ in einer Demokratie untergräbt. Noch ein kurzer Blick in die Geschichte: Was wäre wohl aus den USA geworden, wenn der Watergate-Skandal nicht durch zwei Reporter der Washington Post aufgedeckt worden wäre und Richard Nixon als 37. Präsident der USA hätte zurücktreten müssen. Je mehr Fake-Geschichten veröffentlicht werden, desto schwieriger wird es, Aufmerksamkeit für die wahren und investigativen Reportagen zu bekommen.
blog | märz 2023 | Stalins tod und das erbe des diktators
Stalins Tod und das Erbe des Diktators
Der erste Sekretär Nikita Chruschtschow hatte gerade seine Rede beim 20. Parteitag der KPdSU am Vormittag des 25. Februar 1956 gehalten und sich auf seinen Platz in der ersten Reihe der Mitglieder des Politbüros der Partei gesetzt, als ihm ein Zettel gereicht wurde. Er nahm das Papier, faltete es auseinander und las. Im Saal herrschte Stille, die Delegierten standen noch unter Schock, denn Chruschtschow hatte ihnen gerade in einer fünfstündigen Rede offenbart, welche Verbrechen sein Vorgänger Stalin in den vergangenen 30 Jahren begangen hatte. Blankes Entsetzen stand den meisten im Gesicht, viele konnten nicht glauben, was sie eben gehört hatten. Aber Nikita Chruschtschow hatte lediglich referiert, was eine parteiinterne Aufklärungskommission zu Tage gefördert hatte. Nun saß der KPdSU-Chef auf seinem Stuhl, blickte in den Saal und dachte über den Zettel nach, auf dem zu lesen stand: „Und, Genosse Chruschtschow, was hast Du gemacht, während diese Verbrechen geschahen?“
Dann stand er auf, ging erneut ans Rednerpult und fragte mit fester Stimme: „Wer hat diesen Zettel geschrieben?“ Chruschtschow blickte in den Saal, aber niemand hob die Hand. Er wiederholte die Frage noch zweimal, aber kein Delegierter stand auf und bekannte sich zur Urheberschaft des Zettels mit der brisanten Frage. Als eine Weile des betretenen Schweigens vergangen war, sagte Chruschtschow: „Genossen, genau das habe ich auch gemacht!“ Es gibt kaum eine Anekdote, die die stalinistische Gewaltherrschaft treffender beschreibt. Sie kostete nicht nur Millionen Menschen das Leben, sondern brachte weiteren Millionen das Schicksal der Zwangsverschleppung. Neben der brutalen Gewalt, die Stalin walten ließ, waren die Verbrechen durch das angstvolle Schweigen der sowjetischen Bevölkerung möglich geworden. Nikita Chruschtschow, der enger Vertrauter Stalins war, machte da keine Ausnahme.
Der Georgier
Josef Wissarionowitsch Stalin wurde am 18. Dezember 1878 in einem kleinen Dorf im zu Georgien gehörenden Kaukasus geboren. Sein Vater war Alkoholiker, der an seiner Familie Gewaltexzesse verübte. Stalins Mutter hingegen war religiös in der orthodoxen Kirche verwurzelt und schickte den jungen Josef erst auf eine kirchliche Schule und anschließend in ein Priesterseminar in Tiflis. Er war zwar ein guter Schüler, hatte aber auch den Ruf eines Schulhofschlägers. Zudem bekam er im Priesterseminar Kontakt zu antizaristischen Kreisen und zur sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Von nun an war er Teil der gewaltbereiten Opposition gegen Zar Nikolaus II., der allerdings seine Gegner mit gnadenloser Härte verfolgen ließ. Stalin ging in den Untergrund, verübte Banküberfälle und beging andere schwerkriminelle Delikte, die mehrfach vor Gericht landeten und mit langjährigen Verbannungen geahndet wurden. Bei einem Banküberfall am 13. Juli 1907 in Tiflis erbeutete er mehrere Millionen Dollar und nahm dabei den Tod von 40 Menschen in Kauf.
Seine Brutalität, die mit einer geradezu unfassbaren Empathielosigkeit gepaart war, kam in diesen Jahren zum Vorschein und verstärkte sich mit jedem Jahr in der Verbannung oder im Untergrund. Wegen seines verkrüppelten Arms, den er seit einem Unfall kaum noch bewegen konnte, und einer schlecht ausgeheilten Pockenerkrankung, die sein Gesicht zeitlebens entstellte, hatte er schwere Minderwertigkeitskomplexe, die seine Brutalität gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern ins Unermessliche steigerten. Stalin kam 1912 in Kontakt mit Lenins Bolschewisten, gab die „Prawda“ in St. Petersburg heraus und reiste unter dem Namen Stavros Papadopoulos durch Österreich und Ungarn, wurde aber 1913 bei einem Besuch in Russland verhaftet und nach Turuchansk am südlichen Polarkreis in die Verbannung geschickt, wo er bis 1917 blieb.
Oktoberrevolution
An der Organisation und Durchführung der russischen Revolution war er nicht unmittelbar beteiligt, wurde aber zur Belohnung für seine Loyalität während der Illegalität als Vertreter der nichtrussischen Bevölkerung einer von 15 Volkskommissaren. Fortan war er für die Nationalitätenpolitik der Sowjetregierung verantwortlich. Viele Völker an der Peripherie des Zarenreichs – und später dann der Sowjetunion – strebten nach eigener Staatlichkeit. Stalin erkannte, dass das Verhältnis der Russen zu den nationalen Minderheiten, die an den Rändern des riesigen Reiches lebten, eines der größten Probleme der 1922 gegründeten UdSSR sein würde. Unter Stalins Ägide begann das, was der Osteuropa-Historiker Jan. C. Behrends in Bezug auf die Ukraine als „koloniale Geschichte“ bezeichnet. Es war die Auseinandersetzung zwischen Zentrum und Peripherie, die zu Gunsten des Zentrums ausging und einen Prozess der Unterdrückung nationaler Identitäten an der Peripherie auslöste.
Damit stand die sowjetische Nationalitätenpolitik unter Stalin in der Kontinuität der russischen Kolonialpolitik, die sich seit dem 16. Jahrhundert als imperiale Macht gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarn aufspielte: Tataren, Polen, Finnland, Sibirien, zentralasiatische Nachbarstaaten oder auch Sibirien. Das zaristische Russland seit Iwan dem Schrecklichen (1530 – 1584) war eine Landmacht, die ein Vielvölkerreich mit imperialen Mitteln erobert hat. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Kolonialmächten und in Ermangelung einer schlagkräftigen Flotte waren die Zaren nicht an überseeischen Besitzungen interessiert. Ihr Augenmerk richtete sich auf die unmittelbare Nachbarschaft, die sie nach und nach erst in das zaristische und dann in das bolschewistische Russland zu integrieren suchten.
Stalins Wiederauferstehung
Insofern ist es kein Zufall, dass sich die russische Föderation unter Wladimir Putin wieder auf den vor 70 Jahren verstorbenen Diktator Josef Stalin bezieht und Wolgograd für einen Tag in „Stalingrad“ umbenennt und Büsten des grausamen Diktators aufstellt. Denn wie Stalin und die Bolschewiken nach der Revolution 1917 das zerfallene Imperium des Zaren „einsammelten“, will Putin heute die 1991 untergegangene UdSSR restaurieren. Es gelte, so der russische Präsident am Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine ganz unverblümt, die „historischen Grenzen“ Russlands wiederherzustellen. Es sind nicht die angeblichen Nazis, die aus Kiew vertrieben werden müssten, es ist nicht der böse Westen, der Russland an den Kragen will, nein es ist die Wiederherstellung des geographischen Russlands der Zeit vor dem Ende der UdSSR. Putin versucht einen Prozess aufzuhalten, den Experten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ausmachen und für unaufhaltsam erachten: Das Ende eines Imperiums, das sich seit der Oktoberrevolution von 1917 in einer finalen Auflösung befindet.
Es liest sich auf den ersten Blich widersprüchlich und unsinnig, schließlich war die Sowjetunion ein mächtiges, waffenstarrendes Reich, das der anderen Supermacht – den USA - durchaus Paroli bieten konnte. Seit dem Ersten Weltkrieg aber versuchen sich Länder oder nationale Ethnien der Peripherie von der Zentrale des Reichs abzusetzen. Das Zarenreich und dann die Sowjetunion waren in diesem Prozess des Niedergangs Versuche, die Entwicklung wenigstens eine Zeit lang aufzuhalten. Stalin, der nach 1945 mit dem Ruf des Siegers im „Großen Vaterländischen Krieg“ unangreifbar war, legte um das russische Imperium einen „Cordon sanitaire“ (der so genannte „Ostblock“ mit dem Baltikum, Polen, der CSSR, Ungarn, Rumänien und der DDR), um gegen weitere „imperialistische“ Angriffe des Westens geschützt zu sein. Damit war die Sowjetunion einerseits geschützt und andererseits abgeschottet von der westlichen Welt. Hinter dem „Eisernen Vorhang“ (Churchill) spielte sich dann eine Tragödie ab, bei der Stalin und seine Nachfolger bis zum Ende der UdSSR versuchten, den Untergang des russischen Imperiums mit nackter Gewalt aufzuhalten.
Das Imperium löst sich auf
Das schien einige Jahrzehnte von Erfolg gekrönt zu sein, wenn man es aus der Perspektive des Kreml betrachtet. Alle nationalen Erhebungen – in Polen, der CSSR, in Ungarn und in der DDR – wurden militärisch unterdrückt und die sowjetische Hegemonie wieder hergestellt. Die jeweiligen sozialistischen Staatschefs lehnten sich zufrieden in ihre Sessel, weil sie glaubten, die europäische Nachkriegsordnung auf ewig zementiert zu haben. Aber sie täuschten sich. Imperien gehen nicht in kurzer Zeit unter, sondern in einem langsamen Prozess, der sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte erstrecken kann. Insofern war 1991 der Untergang der UdSSR eines von vielen historischen Daten, an denen sich dieser Prozess festmachen lässt. Als Waldimir Putin das heruntergekommene Erbe von Boris Jelzin antrat, hat er den Entschluss gefasst, dem imperialen Ende Russlands entgegenzutreten. Dabei bezieht sich sein Denken auf die geostrategische Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 festgelegt worden war. Die Welt teilte sich anschließend in zwei Blöcke, von denen der östliche unter dem Kommando der Sowjetunion stand.
Aber die sowjetische Weltmacht zerbrach 1991 nicht am zersetzenden Einfluss des Westens, sondern an den inneren Widersprüchen, einer maroden sozialistischen Planwirtschaft und an zerrütteten Finanzen. Gleichwohl war dieses Datum für Wladimir Putin die „eigentliche“ Katastrophe des 20. Jahrhunderts, weil für ihn und seine Generation damit die Zeit seines Lebens gültige geopolitische Ordnung in Europa zusammengebrochen war. Nun versucht er, das alte – zaristische wie sowjetische – Regime wieder zum Leben zu erwecken und den Prozess des Untergangs eines Weltreichs zu stoppen. Das aber ist weder den Griechen noch den Römern oder den Briten beim Niedergang ihrer jeweiligen Imperien gelungen.
Wladimir Putin ist davon ausgegangen, dass er die Ukraine in einem schnellen Schlag besiegen und einnehmen könnte. Er musste aber lernen, dass nationalstaatliche Vorstellungen in der Ukraine viel stärker ausgeprägt sind, als erwartet. Die Menschen in der Ukraine wollen keine russische Okkupation und sie lehnen die Erzählung eines russischen Großreichs à la UdSSR oder Zarenreich ab. Dafür kämpfen sie unermüdlich, nehmen die Zerstörung ihrer Städte in Kauf und trotzen Leid und Tod. Die Kiewer Regierung will die Lebenssituation ihrer Bürgerinnen und Bürger verbessern, im Kreml hingegen träumt man von einem international gefürchteten Großreich, das weniger auf die Belange der Bevölkerung als auf die eigene Reputation achtet.
Eine imperiale Neuordnung?
Im Jahr des 70. Todestags eines der gefürchtetsten Herrscher des 20. Jahrhunderts droht Europa der Rückfall in imperiale Zeiten für den Fall, dass die russische Invasion in der Ukraine von Erfolg gekrönt sein würde. Damit würde die politische Ordnung des Kontinents auf den Kopf gestellt und für viele Völker Europas eine schwere Bedrohung darstellen. Belarus, Transnistrien und Moldau sowie Georgien stehen neben der Ukraine auf dem Eroberungsplan des Wladimir Putin. Belarus ist längst zum Handlanger geworden und hat die staatliche Souveränität quasi schon abgegeben. Transnistrien und damit auch die Republik Moldau werden durch Agenten Moskaus und hybrid agierende Kämpfer unterwandert und zermürbt, in Georgien sind die Erinnerungen an die russische Invasion 2008 noch wach und man fürchtet eine Wiederholung der Ereignisse. Das Baltikum ist allein deshalb geschützt, weil Estland, Litauen und Lettland NATO-Mitglieder sind.
Die überall zu hörenden Rufe nach Friedensverhandlungen sind nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig. Aber was soll die Ukraine angesichts dieser Ausgangslage anderes verhandeln, als den vollständigen Abzug der russischen Truppen von ihrem Territorium und die Garantie, nicht wieder von Russland überfallen zu werden. Aber genau das werden Wladimir Putin und die Scharfmacher im Kreml nicht akzeptieren, weil es ihr politisches und vielleicht auch ihr tatsächliches Ende bedeuten würde.
blog | Februar 2023 | 1763: der frieden von paris und der "erste weltkrieg"
Der Frieden von Paris beendet den „Ersten Weltkrieg“
Wir schreiben den 10. Februar 1763. In Paris trafen sich an diesem Tag die Unterhändler Englands und Portugals auf der einen und Frankreichs und Spaniens auf der anderen Seite. Fünf Tage später kamen die Vertreter Preußens und Österreichs im Schoss Hubertusburg – zwischen Leipzig und Dresden – zusammen. An beiden Orten ging es um einen allumfassenden Frieden, der zum einen den sieben Jahre dauernden Krieg zwischen den in Paris und Hubertusburg versammelten Kombattanten und zum anderen den Machtkampf zwischen den beiden großen Kolonialmächten England und Frankreich beenden sollte. Unbeabsichtigt waren allerdings die Folgen dieser Friedensschlüsse und des vorausgegangenen Krieges für innere Verfasstheit des europäischen Kontinents.
Sieben Jahre Krieg 1756 – 1763
Sieben Jahre hatte sich der Krieg über nahezu die gesamte Welt ausgebreitet: In Mitteleuropa kämpften Preußen und Österreich um Schlesien. Mitte August 1759 hätte die Schlacht bei Kunersdorf beinahe das Ende des größten aller Preußen bedeutet, weil Friedrich II. („der Große“) nach schweren militärstrategischen Fehlern eine vernichtende Niederlage gegen ein russisch-österreichisches Heer einstecken musste. 19.000 von knapp 50.000 preußischen Soldaten waren anschließend tot oder schwer verletzt. Während es bei Kunersdorf und anderswo um Schlesiens Zukunft zwischen Preußen und Österreich ging, kämpften Briten und Franzosen gleichzeitig im „French and Indian War“ um die koloniale Vorherrschaft in Nordamerika. Mit einer britischen Invasion auf den Philippinen begann der Krieg um die Dominanz im Pazifischen Ozean, der bis dahin unter der kolonialen Kontrolle Spaniens stand. Und schließlich ging es im „Dritten Karnatischen Krieg“ um den indischen Subkontinent, wo sich ebenfalls die beiden kolonialen Großmächte England und Frankreich gegenüberstanden.
Der „erste“ Weltkrieg
Dieser „europäische Weltkrieg“ – wie er von manchen Historikern genannt wird - sollte aber nicht nur über die Verteilung der Kolonien zwischen England, Frankreich, Spanien und Portugal oder über das Schicksal Schlesiens entscheiden. Weit mehr: Der Ausgang dieses „Siebenjährigen Kriegs“ veränderte die Geschichte des europäischen und des amerikanischen Kontinents. Nachdem die Tinte unter den Friedensverträgen von Paris und Hubertusburg getrocknet war, konnte sich England als der große Sieger des Krieges fühlen. Der britischen Krone war es gelungen, die spanische Vorherrschaft im Pazifik einzuschränken, französische Kolonien in Nordamerika zu übernehmen und seine Stellung als „Weltreich“ zu stabilisieren, während Österreich und Preußen den Status quo ante in Mitteleuropa wiederherstellten und sich als „deutsche“ Großmächte weiterhin relativ feindselig gegenüberstanden. Aber Gewinner und Verlierer des Krieges waren in den negativen Folgen der Auseinandersetzung vereint: Sie waren vom Staatsbankrott bedroht, hatten unendlich viele militärische und zivile Opfer zu beklagen (Preußen allein 320.000) und ihre Ökonomien lagen am Boden.
Vor allem Frankreich und England standen Ende der 1760er Jahre vor massiven ökonomischen und fiskalpolitischen Problemen, es drohte auf beiden Seiten der Ärmelkanals der Staatsbankrott. Der „Siebenjährige Krieg“ hatte nicht nur riesige Löcher in die Staatskassen beider Staaten gerissen, sondern auch die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass die Menschen Zeuge der ersten globalen militärischen Konfrontation geworden waren. Die Kolonialmächte waren fortan gezwungen, den permanenten Schutz ihrer überseeischen Besitzungen zu verstärken – und auch das verschlang große Summen Geld. In dieser Situation entschied die Regierung seiner Majestät des Königs von England Georg III., die britischen Siedler in den 13 nordamerikanischen Kolonien zur Kasse zu bitten. Sie sollten sich an den Kosten des Schutzes der Kolonien beteiligen. Diese lapidare Entscheidung erschütterte die britische Monarchie, denn die Siedler in Nordamerika wehrten sich gegen das Ansinnen.
Britische Siedler organisieren Widerstand
Sie organisieren den Widerstand gegen die Regierung in London, skandieren ihren Schlachtruf „No taxation without representation“ und schütten am 16. Dezember 1773 bei der „Boston Tea Party“ ihren Fünf-Uhr-Tee ins Wasser des Atlantischen Ozeans. Damit lösten sie den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aus. Zehn Jahre nach dem kostspieligen „Siebenjährigen Krieg“ war Georg III. erneut gezwungen, seine Truppen in den Krieg zu schicken – dieses Mal zur Verteidigung der nordamerikanischen Kolonien gegen die amerikanischen Aufständischen. Anführer und Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee, zu der sich alle 13 Kolonien vereinigt hatten, war George Washington – einer der späteren Gründerväter der USA und Namenspatron der US-Hauptstadt. In der Erkenntnis, dass seine Armee dem britischen Expeditionsheer unterlegen war, sandte Washington deshalb einen Hilferuf an den französischen König Ludwig XVI., der die Schmach der Niederlage Frankreichs im „Siebenjährigen Krieg“ noch nicht verdaut hatte.
In Versailles stieß das Hilfeersuchen der Aufständischen in den britischen Kolonien wegen der katastropalen Finanzlage Frankreichs zunächst auf wenig Gegenliebe. Aber die Aussicht, dem britischen Gegner im Ringen um die weltweite koloniale Vorherrschaft in Nordamerika eine Niederlage beibringen zu können, ließ alle Bedenken über Bord gehen. Ungeachtet seiner leeren Staatskasse schickte Ludwig XVI. Geld, Waffen und Soldaten über den Atlantik und stand im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fortan auf der Seite der Kontinentalarmee. Mit Erfolg, denn die Aufständischen siegten und vertrieben die britischen Kolonialherren aus ihrem Land. Großbritannien war die erste der beiden Kolonialmächte, die unter den Spätfolgen des „Siebenjährigen Krieges" (1756 – 1763) zu leiden hatten: Sie verloren 13 nordamerikanische Kolonien und mussten die staatliche Unabhängigkeit ihrer einstigen Untertanen in der „Neuen Welt“ anerkennen.
Unabhängigkeitserklärung
Vermutlich hat der französische König eine seiner letzten Flaschen Champagner geköpft, denn aller Siegesfreude zum Trotz stand nun auch er vor großen Problemen: Seine Soldaten hatten gemeinsam mit den amerikanischen Aufständischen in den Schützengräben gelegen und mitbekommen, wofür sie kämpften: alle Menschen sind „gleich erschaffen worden“, sie wurden „von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten“ ausgestattet, worunter „Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“ fallen. Und mehr noch: Wenn eine Regierung den Interessen der Menschen zuwiderhandelt, ist „es das Recht des Volks, sie zu verändern oder abzuschaffen.“ So steht es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 – dem US-amerikanischen Nationalfeiertag. Mit diesen Gedanken kehrten die Soldaten 1783 in ihre französische Heimat zurück und betrachteten die dortigen Missstände nun mit ganz anderen Augen.
Die sozialen Ungerechtigkeiten im Staat des absolutistisch herrschenden Ludwig XVI. waren extrem. Adel und Klerus waren von Steuern und Abgaben befreit, machten sich am königlichen Hof in Versailles ein schönes Leben und hielten obendrein die meisten der im Land befindlichen Manufakturen in Händen.
Bauern und Handwerker hingegen hatten sämtliche Lasten zu tragen und mussten von ihrem kargen Lebensunterhalt die Prunksucht und das verschwenderische Leben des Adels finanzieren. Angesichts der durch zwei lange Kriege geplünderten Staatskasse wurde die Finanzierung des Staates und des luxuriösen Lebenswandels am Hof in Versailles aber zu einem Problem, das gelöst werden musste, wollte man den Staatsbankrott verhindern. Ludwig XVI. fiel nichts Besseres ein, als die Steuern zu erhöhen, die allein Bauern und Handwerker zu tragen hatten. Gemäß der französischen Verfassung musste er dazu allerdings die Generalstände – Adel, Klerus und Bürger – nach Paris einladen, um sich die Erhöhung von ihnen genehmigen zu lassen. Eine für die Dynastie der Bourbonen auf dem französischen Thron fatale Notwendigkeit.
Freiheit – Gleichheit - Brüderlichkeit
Die Generalstände kamen am 5. Mai 1789 in Paris zusammen und erwarteten von Ludwig XVI. Ideen für die Reform des Staates und für die Konsolidierung der Finanzen. Stattdessen erging sich der König in taktischen Verlautbarungen, weil er an einer grundlegenden Reform „seines“ Staates kein Interesse hatte. Dann nahmen die Dinge ihren Lauf, die Delegierten machten aus der Versammlung der Generalstände eine Verfassungsgebende Nationalversammlung, riefen die erste Französische Republik aus, schafften Adelsprivilegien ab und verabschiedeten die Erklärung der Menschenrechte, die stark an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung angelehnt war. Ludwig XVI. bezahlte sein starrsinniges Festhalten am Ancien Regime am 21. Januar 1793 auf dem Schafott, das auf der "Place de la Revolution" (Place de la Concorde) aufgestellt war, mit seinem Leben.
Die Französische Revolution, deren Anfang in dem Versuch der Erhöhung von Steuern und Abgaben durch den König zu finden ist, fegte mit ihrem Dreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ über Europa und verbreitete überall die Idee einer neuen Staats- und Gesellschaftsform mit Verfassung und Geltung der Menschenrechte. Die Wurzeln dieser Ideen stammten aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und finden sich in zahlreichen Verfassungen während des „Nation Buildings“ im Europa des 19. Jahrhunderts wieder. Als sich die deutschen Revolutionäre in der Frankfurter Paulskirche im Dezember 1848 auf eine Verfassung einigen konnten, waren darin die wesentlichen Elemente der vorherigen Revolutionen in den USA und Frankreich enthalten. Heute sind diese Gedanken weitgehend übernommen worden und stehen in den ersten 19 Artikeln des deutschen Grundgesetzes.
Der Siebenjährige Krieg, der ursprünglich um die koloniale Weltherrschaft ging, löste eine Entwicklung aus, die in den demokratischen Staaten der Europäischen Union mündete. Ohne die Überheblichkeit der britischen und französischen Krone am Ende des 18. Jahrhunderts wären viele der politischen Entscheidungen des 19. Jahrhunderts nicht oder nicht so zustande gekommen, wie sie zustande gekommen sind: Geltung der Bürger- und Menschenrechte, Etablierung von konstitutionellen Monarchien anstelle von absolutistischen Herrschern, die sich von Gott auserwählt sahen, Gültigkeit der Grundfreiheiten und permanente Kontrolle der Macht der Regierenden. All das waren und sind Errungenschaften der Aufstände in Nordamerika und Frankreich, später dann auch in anderen europäischen Staaten. Sie prägen die Gesellschaften Europas und das Leben der Menschen dort bis zum heutigen Tag.
blog | januar 2023 | 1933: die "machtergreifung" hitlers
Die Machtergreifung, die eine Machtübertragung war
Es waren verhängnisvolle Tage, die sich in einer Dahlemer Villa im Januar 1933 abspielten. Die Villa gehörte Joachim von Ribbentrop, der die Erbin des Sektimperiums Henkell 1920 geheiratet hatte und über diesen Weg an Geld gekommen war. Damit finanzierte er seinen fortan luxuriösen Lebenswandel und seine Adoption durch eine 1884 geadelte, entfernt verwandte Frau von Ribbentrop. Der nun geadelte Weinhändler Joachim von Ribbentrop machte auf Hitler und seine Paladine vor allem wegen seiner Sprachkenntnis und einer gewissen Weltgewandtheit Eindruck. Beides hatte er sich in seiner Jugend angeeignet, die er in Frankreich, der Schweiz, in England, den USA und in Kanada verbrachte. Für Politik interessierte er sich erst Anfang der 1930er Jahre, trat 1932 der NSDAP bei und suchte von da an die Nähe Hitlers und seiner Entourage. 1933 gehörte er schon zum engeren Zirkel der NSDAP-Führung und bot seine stilvoll eingerichtete Villa in Berlin-Dahlem als Tagungsort an.
Eine Villa in Berlin-Dahlem
Bei gediegener Musik, jeder Menge alkoholischer Getränke und diversen kulinarischen Köstlichkeiten berieten Anfang Januar 1933 die Anführer der NSDAP in der Ribbentrop Villa mit Vertretern aus der Industrie, dem ehemaligen Reichskanzler Franz von Papen sowie politischen Beratern des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg über die politische Lage. Die war tatsächlich verzwickt, weil Reichskanzler Kurt von Schleicher durch ein Machtwort des Reichspräsidenten ins Amt gekommen war und im Parlament über keine eigene Mehrheit verfügte. Während Schleicher versuchte, sein Reformprogramm mehrheitsfähig zu machen, sprachen sich Persönlichkeiten aus dem Umfeld von Hindenburgs dafür aus, Schleicher zu entmachten und Adolf Hitler stattdessen zum Reichskanzler zu machen. Zu dieser äußerst einflussreichen, so genannten „Kamarilla“, die Hitler unterstützte, gehörten u.a. Kronprinz Wilhelm von Preußen und Elard von Oldenburg-Januschau, der zur Schlüsselfigur bei der Inthronisierung Hitlers werden sollte.
In der Dahlemer Villa standen alle Beteiligte unter großem Druck. Adolf Hitler hatte die Stichwahl um das Amt des Reichspräsidenten gegen den General des Ersten Weltkriegs Paul von Hindenburg im April 1932 deutlich verloren, obwohl er mehr als zwei Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte und auf 36,8 Prozent kam. Schlägertrupps von SA und SS hatten in den Reihen der politischen Gegner gewütet und Angst und Schrecken verbreitet, aber gleichzeitig auch viel Geld aus der Parteikasse verschlungen. Kaum war diese Wahl vorbei, musste im Juli 1932 der Reichstag neu gewählt werden. Die NSDAP und ihr Frontmann Adolf Hitler nutzten die desolate wirtschaftliche Lage vieler Deutscher und die Agitation gegen eine von der Regierung Brüning veranlasste Deflationspolitik während des Wahlkampfs. Die NSDAP war mit einem Plus von 19 Prozent der haushohe Sieger und trotzdem wurde Adolf Hitler nicht mit der Regierungsbildung beauftragt.
Der General und der Gefreite
Reichspräsident von Hindenburg weigerte sich standhaft den „Gefreiten des Ersten Weltkriegs“ zum Kanzler zu machen. Hitler schäumte vor Wut, beugte sich aber dem Votum des populären Generals. Stattdessen wurde der mit einem Präsidialkabinett amtierende Franz von Papen mit der erneuten Bildung einer Regierung beauftragt. Aber von Papen amtierte glücklos und stand einer Phalanx von republikfeindlichen Abgeordneten gegenüber: NSDAP und KPD stellten mit zusammen 51,6 Prozent eine klare Mehrheit im Parlament, was von Papen das Regieren mehr oder weniger unmöglich machte. In dieser politischen Gemengelage verlor Kanzler Franz von Papen das Vertrauen im Reichstag, was nach einem parlamentarischen Misstrauensvotum seinen Rausschmiss, die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen Anfang November 1932 zur Folge hatte.
Bei dieser zweiten Reichstagswahl des Jahres 1932 behauptete sich die NSDAP zwar als stärkste Fraktion, musste aber deutliche Verluste hinnehmen. 34 Abgeordnete mit dem braunen Hemd wurden abgewählt und nicht Hitler, sondern Franz von Papen blieb zunächst einmal als Chef in der Reichskanzlei. Aber nicht lange. Denn sein Plan, mit Hilfe der Reichswehr sowohl die NSDAP als auch die KPD zu bekämpfen, scheiterte. Kurz danach reichte er seine Demission ein und betrachtete argwöhnisch, was sein Nachfolger Generalleutnant Kurt von Schleicher zur Bekämpfung der ökonomischen und sozialen Krise nach dem Börsencrash des Jahres 1929 zu tun gedachte. Schleichers Plan scheiterte aber an der Idee, zur Durchsetzung seiner Idee auch die Auflösung des Reichstags für einen längeren Zeitraum zu beantragen. Zudem war sein Ansinnen kompliziert, denn er wollte alle Reichstagsfraktionen einbeziehen und spekulierte dabei vor allem auf den „linken, sozialistischen“ Flügel der NSDAP um die Gebrüder Strasser.
Schleichers „Querfront“ scheitert
Die NSDAP war ohnehin zwischen dem radikal sozialistischen Flügel im Norden und dem rechten Flügel um Hitler im Süden innerlich zerrissen. Nun drohte die Spaltung, denn die Linken in der NSDAP liebäugelten durchaus mit Schleichers Plänen. Zudem herrschte Unruhe in der Partei wegen der Stimmenverluste im November 1932 und obendrein hatten die vielen Wahlkämpfe die Parteikasse nahezu gänzlich geleert. Hitler geriet in der Dahlemer Villa angesichts dieser Probleme und Niederlagen an den Rand einer veritablen Depression, die auch dann nicht besser wurde, als sich zum Jahreswechsel 1933 abzeichnete, dass die als „Querfront“ bezeichnete Politik Schleichers im Reichstag zum Scheitern verurteilt war. Es schien, als könne weder die extreme Linke noch die extreme Rechte daraus politisches Kapital schlagen. Aber in den Hinterzimmern der Macht drehte sich das Fähnchen doch in Richtung einer Kanzlerschaft Hitlers. Im Kölner Haus des Bankiers Kurt Freiherr von Schröder trafen sich am 4. Januar 1933 von Papen und Hitler und einigten sich unter Vermittlung des Bankiers und der hinter ihm stehenden Industriellen auf eine Kanzlerschaft Hitlers. Dieses Treffen war die „Geburtsstunde des Dritten Reichs“, aber der Weg dahin wurde in der Villa Joachim von Ribbentrops in Berlin-Dahlem geebnet.
Der in der Verfassung nicht vorgesehene Sohn
Von nun an ging es dort wie in einem Taubenschlag zu. Politiker, NSDAP – Funktionäre, Industrielle und vor allem der Sohn des Reichspräsidenten Oskar von Hindenburg gaben sich die Klinke in die Hand und organsierten eine ununterbrochene Kommunikationskette mit dem Präsidialamt von Hindenburgs. Der blieb anfangs standhaft und weigerte sich den „Gefreiten“ zu empfangen, geschweige denn ihn zum Kanzler zu ernennen. Im Gegenteil: Er hielt zunächst an Kurt von Schleicher fest. Aber der Druck wurde von Tag zu Tag größer, nicht nur weil ihm sein „in der Verfassung nicht vorgesehene Sohn“ Oskar andauernd einflüsterte, er könne an Hitler nicht mehr vorbei. Wichtiger war der 15. Januar 1933, als in einem der kleinsten Staaten der Weimarer Republik – in Lippe – eine Landtagswahl stattfand. Hitler hatte die Parole von der „Entscheidungsschlacht am Teutoburger Wald“ ausgegeben und nach der Niederlage bei der Reichstagswahl 1932 voll auf Sieg gesetzt. Die NSDAP, die 1929 mickrige 678 Stimmen oder 0,77 Prozent erreicht hatte, feierte im Januar 1933 mit 39,5 Prozent einen Erdrutschsieg.
In den folgenden Tagen erschienen auch die Vertreter der unterschiedlichen Parteiströmungen der NSDAP in Dahlem. Heinrich Himmler, der spätere „Reichsführer SS“ kam ebenso wie SA-Chef Ernst Röhm, der im Sommer 1934 beim so genannten „Röhmputsch“ auf Hitlers Befehl ermordet wurde. Die Einheit der Partei und die ersten Maßnahmen zur beabsichtigten Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft für den Fall einer Kanzlerschaft Hitlers standen auf der Tagesordnung, während Annelies von Ribbentrop in der Küche stand und Häppchen, Kaffee und Schnaps vorbereitete. Dabei wäre es auch geblieben, wenn nicht am 28. Januar 1933 Reichskanzler Kurt von Schleicher das Handtuch geworfen hätte und zurückgetreten wäre. In der Ribbentrop Villa brach Hektik aus, Franz von Papen und Oskar von Hindenburg pendelten zwischen Dahlem und dem Amtssitz des Präsidenten, um den Weg für eine Kanzlerschaft Hitlers zu ebnen. Am 29. Januar 1933 hat von Papen eine Kabinettsliste dabei und versichert dem greisen Reichspräsidenten, man werde Hitler im Kreis konservativer Politiker „einrahmen“ und damit bändigen.
Die Machtübertragung an Hitler
Der Widerstand Hindenburgs war gebrochen. Am nächsten Tag empfing er den designierten Kanzler in seinem Amtssitz und übertrug ihm die Kanzlerschaft. Propagandaminister Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Endlich ist es soweit, der Alte hat nachgegeben…Gleich an die Arbeit. Der Reichstag wird aufgelöst.“ So offen und ehrlich er seine Gedanken hier festgehalten hat, so verlogen war die Propaganda, die nun das Land überzog. Man müsse „staatsfeindliche Elemente“ entfernen und die „Vermischung arischen Blutes mit dem der Juden“ verbieten, um Deutschlands „Auferstehung“ zu bewirken. Diese „Auferstehung“, so verkündete es Hitler der Generalität am 3. Februar 1933, sei nur durch „Gewinnung von Lebensraum im Osten und einer rücksichtslosen Germanisierung“ dieser Länder zu erreichen. Bis zum 23. März 1933, als das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ – das so genannte „Ermächtigungsgesetz“ - verabschiedet wurde, waren die Grundlagen für eine Diktatur in Deutschland gelegt, die in den kommenden 12 Jahren den Kontinent in Schutt und Asche legen, den Holocaust inszenieren und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen sollte.
Gleichgeschaltete Russische Föderation
Fast könnte man meinen, der russische Staatspräsident Wladimir Putin agiere genauso wie Hitler und seine Helfer: Seit etwa 10 Jahren ist eine Gleichschaltung der russischen Gesellschaft zu beobachten: missliebige Personen wurden kaltgestellt oder ermordet, Organisationen der Zivilgesellschaft mussten ihre Arbeit ebenso einstellen wie politische Parteien oder Verbände. Die Medien wurden gleichgeschaltet, indem freien Zeitungen, Radio- oder Fernsehstationen der Stecker gezogen wurde. Die Amtszeit des Präsidenten kann nach einer Verfassungsänderung noch bis 2035 dauern und die Wahlergebnisse, mit denen Putin und andere Paladine angeblich vom Volk bestätigt wurden, erreichen astronomische Werte wie in allen anderen Diktaturen auch. Es ist die bittere Erkenntnis des Jahres 2022, dass man in der deutschen Geschichte vor 90 Jahren die Blaupause für die Entwicklung der Russischen Föderation seit 2010 erkennen kann. Das gilt auch für das Ende Dezember 2022 von Putin markierte „historische Russland“, das der Westen angeblich „zerschlagen will“. Hitler und die Seinen nannten das „Heim ins Reich“ und meinten damit jene Gebiete, die durch den Versailler Vertrag 1919 vom Deutschen Reich abgetrennt worden waren.
2022
blog | Dezember 2022 | die gründung der Udssr
Gründung der UdSSR
Als Ende Dezember 1922 die „Union der sozialistischen Sowjet Republiken“ aus der Taufe gehoben wurde, erfüllten sich die Gründer einen Traum: Sie hatten das verhasste Zarensystem mit seinen feudalistischen Strukturen endgültig auf die Müllhalde der Geschichte befördert. Sie konnten sicher sein, dass dabei die Mehrheit der Russinnen und Russen hinter ihnen stand, weil die Wut über die Romanows riesig war. Dafür hatte nicht zuletzt Zar Nikolaus II. selbst gesorgt, indem er Jahrzehnte lang das feudalistische Herrschaftssystem in Russland auf Adel, Kirche und Militär gestützt und die Belange von Bauern und Arbeitern ignoriert hatte. Die Quittung bekam er zweimal serviert.
Die erste russische Revolution 1905
Ende 1904 begannen Arbeiter und Bauern in Russland gegen die zaristische Herrschaft lautstark zu protestieren. Sie attackierten das Repressionssystem, das auf dem Land und in den Fabriken existierte und ihr Leben auf äußerst ärmlichen Niveau hielt. Auf dem Land herrschten Leibeigenschaft und Großgrundbesitz, in den Fabriken wurden Hungerlöhne gezahlt. Bauern und Arbeiter blickten neidvoll auf ihre Kollegen in vielen europäischen Ländern, wo die Leibeigenschaft abgeschafft und ein System der sozialen Absicherung wenigstens in den Anfängen vorhanden war. Nicht so in Russland. Das Land hinkte bei allen Vergleichen hinter den Ländern Westeuropas her. Diese Gemengelage führte schließlich 1905 zu einer Explosion der Gewalt und des Aufruhrs. Die Herrschaft des Zaren stand auf dem Spiel, weil die Protestierenden nicht nur die Gewährung von bürgerlichen Grundrechten und freie Wahlen forderten, sondern auch die Schaffung eines Parlaments, wirtschaftliche Reformen und die Einführung eines Achtstundentags. Damit standen sie im Einklang mit den europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts in Frankreich, Belgien, Griechenland, Deutschland oder Italien.
„Petersburger Blutsonntag“
Die Durchsetzung dieser Forderungen hätte das Ende der Herrschaft von Nikolaus II. bedeutet, aber der Zar erkannte die Zeichen der Zeit! Als am 9. Januar 1905 unter Führung des Priesters Georgi Apollonowitsch Gapon rund 150.000 Menschen friedlich zum St. Petersburger Winterpalast, dem Hauptsitz des Zaren, marschierten, um ihre Forderungen an höchster Stelle zu hinterlegen, geschah das bis dahin Undenkbare. Soldaten der russischen Armee, die zum Schutz der Regierung aufgezogen waren, eröffneten ohne Not und Vorwarnung das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Es folgte ein minutenlanges Massaker vor den Türen des Winterpalastes, an dessen Ende mehr als 130 Tote und über 1.000 Verletzte zu beklagen waren.
Die übrigen Demonstranten wurden vertrieben, aber die Empörung über diese brutale Niederschlagung eines friedlichen Protestes war groß und verbreitete sich im ganzen Land. Der Zorn wendete sich gegen die Zarenfamilie, wenige Tage später wurde ein tödliches Attentat auf den Bruder des Zaren, Großfürst Sergei Alexandrowitsch Romanow, verübt. Eine Flut von Eingaben überzog die Regierung, der Protest gegen das Vorgehen am „Petersberger Blutsonntag“ ebbte nicht ab und wurde von Studenten ebenso getragen wie von aufgebrachten Bauern und Arbeitern. Die Lage eskalierte weiter, als es zu einer Meuterei bei der russischen Flotte und in Odessa zu einem Generalstreik kam. Das für Russland schmähliche Ende des Krieges mit Japan, bei dem es 1904/05 um den geostrategischen Einfluss in der Mandschurei und auf der koreanischen Halbinsel ging, brachte Anfang September 1905 durch den Vertrag von Portsmouth neben Gebiets- vor allem Ansehensverluste mit sich. Aus Zorn über den verlorenen Krieg streikten die Eisenbahner und unterbrachen den gesamten Bahnverkehr in Russland, gleichzeitig traten die ersten „Arbeiter- und Soldatenräte“ – die „Sowjets“ – zusammen und wollten die Regierungsgeschäfte übernehmen. Der Anführer der aufständischen Bolschewiki Wladimir Iljitsch Lenin kehrte in der falschen Annahme aus seinem Exil nach Russland zurück, das Herrschaftssystem des Zaren sei geschlagen.
Oktobermanifest 1905
Aber Lenin irrte sich. Zwar war das absolutistische Herrschaftssystem des Zaren angeschlagen und in die Defensive gedrängt, aber nicht besiegt. Wie verkommen der Hof des Zaren tatsächlich war, zeigte sich im Oktober 1905, als der Palast das so genannte „Oktobermanifest“ verkündete und den Demonstranten damit zumindest bei oberflächlicher Betrachtung entgegenkam. Es wurde durch dieses Manifest ein parlamentarisches Zweikammersystem eingeführt mit einem Staatsrat und einer Duma – dem Parlament, das auf dem Papier weitreichende Kompetenzen hatte. Es galten fortan das allgemeine Wahlrecht für Männer und die bürgerlichen Grundrechte wie Gewissens-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
Aber das Manifest des Zaren war in den Augen der russischen Opposition das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt war. Denn nach wie vor hielt Nikolaus II. die Zügel in der Hand und konnte autokratisch regieren, indem er das Votum der Duma mit einem Veto blockierte oder das Parlament einfach auflöste. Von diesen Möglichkeiten machte der Zar oft und willkürlich Gebrauch, um seine Macht und die des russischen Zarentums abzusichern. Das ließ sein Ansehen in Russland immer weiter sinken, während sich an den rückständigen Verhältnissen im Land nichts änderte. Bauern und Arbeiter blieben am Ende der sozialen Skala und mussten tagtäglich um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Für Lenins Bolschewiki war das Manifest nichts weiter als Betrug und sie trugen diese Botschaft erfolgreich unter das Volk.
Die zweite russische Revolution 1917
Die katastrophalen Verhältnisse in Russland änderte sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 nicht. Zar Nikolaus II., Vetter des deutschen Kaisers Wilhelm II. und des englischen Königs Georg V., führte Russland in den Krieg, weil er sich offen als Schutzmacht auf die Seite Serbiens stellte und einen Angriff einer deutsch-österreichischen Allianz auf dem Balkan keinesfalls zulassen wollte. Dabei hatte er die alte Ideologie des Panslawismus im Sinn, die ein slawisches Großreich unter russischer Führung anstrebte und auf dem Balkan – nicht nur von den Attentätern des österreichischen Thronfolgers Franz-Ferdinand in der serbischen Stadt Sarajevo – offen propagiert wurde. Als sich Deutschland und Österreich in einer wenig geistreichen Entscheidung dazu entschlossen, einen europäischen Krieg wegen des Attentats von Sarajewo anzufangen, erklärte Zar Nikolaus seinem deutschen Vetter den Krieg. Anfangs schien die russische Kriegsbeteiligung auf einen Erfolg hinaus zu laufen, denn mit seinem zwar riesigen, aber schlecht ausgebildeten (sic!) Heer initiierte er an der deutschen Ostfront für einige Wochen die „russische Dampfwalze“. Aber die verheerende Niederlage nach der Schlacht bei Tannenberg Ende August 1914 gegen die vom späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg geführten deutschen Truppen waren der Anfang vom Ende des Zarentums in Russland.
Während Nikolaus II. damit beschäftigt war, die bröckelnden Frontlinien zu halten, hatte seine Gemahlin Alexandra die Regierungsgeschäfte in St. Peterburg übernommen. Sie war nicht nur gänzlich ungeeignet für das Amt, sondern destabilisierte die Regierung auch noch durch teilweise willkürliche Ministerentlassungen, was zu weiteren Unruhen im Volk führte. Neben der katastrophalen Versorgungslage, der miserablen Moral der russischen Soldaten und der anhaltenden militärischen Misserfolge, zermürbten Massenproteste und Demonstrationen weitab von den Fronten des Ersten Weltkriegs das Land. Russland verwandelte sich in ein Pulverfass, was im Oktober 1917 zu einer Revolution führte, die nicht nur Russland, sondern weite Teile der Welt für die nächsten mehr als 70 Jahre auf den Kopf stellen sollte.
Die Oktoberrevolution von 1917 war nicht nur eine Ablösung des Zaren, sondern der Abschied von einem feudalen, absolutistischen und zutiefst unmoralischen Regierungssystem. Die Familie Romanov, die seit 1613 die Zaren gestellt hatte, wurde liquidiert und damit ein weithin sichtbares Zeichen für einen ultimativen Neubeginn gesetzt. Nach einem Separatfrieden mit den Deutschen in Brest-Litowsk schied Russland Anfang 1918 als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs aus, musste aber gleichzeitig mit ansehen, wie nach und nach Teile des Zarenreichs abfielen: Im Dezember 1917 das Großherzogtum Finnland sowie im Februar und November 1918 die baltischen Staaten. Polen in unmittelbarer Nachbarschaft akzeptierte die bei den Pariser Friedensverhandlungen 1919 gefundene „Curzon-Linie“ nicht und eroberte in einem blutigen Krieg unter der Führung von Marschall Józef Klemens Piłsudski weite Teile östlich dieser Linie und damit Gebiete, die zuvor dem russischen Zarenreich angehört hatten.
Gründung der UdSSR 1922
Das bolschewistische Russland stand dieser Entwicklung hilf- und machtlos gegenüber. Das Land war von einem Bürgerkrieg überzogen, die Kämpfte tobten zwischen der von Leo Trotzki befehligten Roten Armee und der Weißen Armee, die reichlich Unterstützung von westlichen Regierungen bekam (sic!) und für die Restituierung der alten Ordnung eintrat. Der russische Bürgerkrieg wurde erbittert und äußerst brutal geführt, etwa 10 Millionen Opfer waren zu beklagen. Als sich die Rote Armee schließlich trotz mehrfacher Intervention der europäischen Mächte durchsetzen konnte, waren einige Teile des alten Zarenreichs abgefallen. Um der Gefahr zu begegnen, weitere Gebiete zu verlieren, wurde Ende Dezember 1922 die „Union der sozialistischen Sowjet Republiken“ gegründet. Sie bestand anfangs aus den drei – bis heute – als „russisch“ bezeichneten Republiken Russland, Ukraine und Weißrussland sowie den transkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Diese Gründung beendet den Zerfall des Zarenreichs und verlieh der Union eine gewisse Stabilität.
Russland 2022…
Es gibt genügend Anlass, auf diese Unionsgründung und ihr Ende zu blicken, seitdem die russische Föderation, die nach der Auflösung der UdSSR Ende 1991 entstand, ins Nachbarland Ukraine eingefallen ist. Vorher hat es solche Aktionen schon in Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, Georgien und auf der Krim gegeben. Jedes Mal stand die Furcht vor einem Machtverlust in den Regionen im Vordergrund, die früher sowohl zum Zarenreich als auch zur UdSSR gehört haben. Bis zum Überfall auf die Ukraine konnte das relative internationale Desinteresse die Schwäche der russischen Armee überdecken, die schon in beiden Weltkriegen offenbar wurde. Gleichzeitig ist die Welt erschrocken über die Brutalität, mit der russische Soldaten schwerste Kriegsverbrechen gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung verüben. Auch das ist nichts Neues: Die deutsche Bevölkerung in den von der Roten Armee 1945 besetzten ehemaligen deutschen Ostgebieten hat darüber geklagt und wurde vielfach überhört.
Auch in drei weiteren Bereichen steht Russland vor ähnlichen Fragen wie 1917. Zum einen hinkt das Land in weiten Teilen den Errungenschaften der westlichen Welt hinterher. Da nutzt es auch nichts, diese Welt als „dekadent“ oder „gegen russische Werte gerichtet“ zu bezeichnen. Tatsächlich ist Russland in vielen Landesteilen unterentwickelt und wird diesen Zustand durch die westlichen Sanktionen, die über Jahre wirken, nicht so schnell ändern können. Wie 1905 und 1917 steht zu befürchten, dass Russland vor einer innenpolitischen Explosion steht, wenn sich die missliche militärische Lage in der Ukraine weiter hinzieht. Derzeit scheint es so, als halte die russische Führung eine Niederlage nur dadurch noch eine Zeitlang auf, dass sie die Ukraine durch ein geradezu infernalisches Trommelfeuer der Artillerie zu zerstören sucht.
Zum anderen denkt Wladimir Putin - wie Zar Nikolaus II. - in den Kategorien eines Slawischen Großreichs, das durch die „eigentliche Katastrophe“ – nämlich das Ende der UdSSR im Dezember 1991 – ausgelöscht worden sei. Tatsächlich ließen sich die Führer der Sowjetunion von dem Gedanken leiten, die Slawen in ihrem Reich vereint zu haben und leiteten daraus den Führungsanspruch ab, den heute Wladimir Putin so gerne wieder hätte. Dieser Panslawismus stand hinter dem Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914, das binnen eines Monats Europa in einen verheerenden Weltkrieg stürzte und die Herrschaft der Zaren pulverisierte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten Stalin und seine Nachfolger die angeblich zu diesem Slawentum gehörenden Länder mit Gewalt zusammen. Die Quittung kam in Form einer Welle von Revolutionen, die 1980 in Polen mit Solidarnosc begann und mit der „samtenen Revolution“ in der CSSR endete. Was für Putin eine „Katastrophe“ ist, war die Millionen Menschen in Ost-Mitteleuropa die Befreiung aus einer knapp 50jhrigen Unterdrückung!
Und schließlich gehen Putin und seine Generäle wie schon bei früheren Gelegenheiten über alle Grundsätze der Menschlichkeit hinweg – auch gegenüber den eigenen Soldaten. Die Missachtung von deren Rechten ist erschreckend. Die Ausbildung in der russischen Armee kennt keine Menschenrechte, die Lüge als Mittel der Verschleierung der wahren Zustände ist allgegenwärtig. All das lässt Erinnerungen an die Stalin-Ära wach werden, als das ganze Sowjetvolk Jahre lang belogen und betrogen wurde. Heute werden die militärischen Mängel der russischen Armee durch die Zerstörungskraft von Langstreckenraketen überdeckt. Das zerstört das Land, seine Menschen und die Infrastruktur, aber gewinnt den Krieg nicht.
blog | november 2022 | erich mielke - ein meister der angst
Erich Mielke - ein Meister der Angst
Die Sekretärin wusste, wie jähzornig und unberechenbar ihr Chef werden konnte: Pedantisch und penibel auf der einen, brutal und rücksichtslos auf der anderen Seite. Der Mann konnte Angst und Schrecken verbreiten und wegen Kleinigkeiten ausrasten. Deshalb fertigte sie einen Merkzettel für den Fall an, dass sie selbst krank oder im Urlaub sein würde. Akkurat notierte sie, wie Erich Mielke punkt 15 Minuten vor Acht sein Frühstück einnehmen wollte: 2 Tassen Kaffee, 2 Scheiben Brot, Aufschnitt und Käse sowie 2 Eier: „viereinhalb Minuten kochen, vorher anpicken“. Diese Anweisungen ergänzte sie mit einer kleinen Zeichnung, aus der zu entnehmen war, an welcher Stelle des Tabletts die Ingredienzien des ministeriellen Frühstücks zu liegen hatten. Später sagte sie, dass Mielke seiner Frau die Zubereitung eines Essens für ihn nicht zumuten wollte und deshalb immer im Ministerium für Staatssicherheit frühstückte.
Erich Mielke wäre der Rede nicht wert, wäre er nicht der selbsternannte oberste „Tschekist“ der DDR und mehr als 30 Jahre Minister für Staatssicherheit gewesen. Er war ein größenwahnsinniger Wichtigtuer und primitiver Feigling, wie sich seine Sekretärin Anfang 2000 erinnerte. Er trat nach unten, machte sich über Frauen lustig, starrte ihnen auf Busen und Beine und brüllte nach Belieben und Tageslaune unentwegt die Mitarbeiter im Ministerium für Staatssicherheit an. Nach oben hingegen war devot. Erich Honecker und vor allem Markus Wolf, der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR, waren für ihn Respektspersonen, denen gegenüber er sich unterwürfig verhielt. Das gilt vor allem für Mielkes Speichelleckerei gegenüber Erich Honecker. Weil dieser ihn ja anrufen könnte, verließ er nur ungern sein Büro. Und wenn der „Genosse Staatsratsvorsitzende“ dann tatsächlich mal über das weiße Sondertelephon anrief, sprang er vom Stuhl auf, salutierte und trompetete in den Hörer „Erich, jestatte, dass ich dir melde!“. Auch darüber könnte man hinwegsehen, weil es sich um „Tugenden“ handelt, derer sich viele Männer in entsprechenden Positionen rühmen konnten – und können. Aber dieser Mann entschied über das Schicksal Tausender DDR-Bürgerinnen und -Bürger und setzte sich dabei über alle Kriterien eines menschlichen Umgangs hinweg.
Morde in Berlin
Die Karriere des obersten Stasi-Mannes begann als Revolverheld am Ende der Weimarer Republik. Auf den Straßen Berlins ging es hoch her zwischen bewaffneten Milizen der Faschisten und der Kommunisten, dazwischen stand die Polizei, die versuchte die Ordnung im Chaos aufrechtzuerhalten. Im Sommer 1931 ermordete der damals 24Jährige Erich Mielke die beiden sozialdemokratischen Polizisten Paul Anlauf und Franz Lenck bei einer Schießerei auf dem Berliner Bülowplatz. Anlauf schoss er von hinten in den Nacken, Lenck fiel nach zwei Schüssen in die Brust tot auf das Straßenpflaster. Mielke floh anschließend nach Moskau, weil er fürchten muss, von der Polizei gefasst zu werden. Dass er gemeinsam mit Erich Ziemer der Täter des feigen Mordanschlags war, war den ermittelnden Behörden schnell klar. Auch die Hintermänner wurden bald enttarnt. Nach der Machtübertragung an Hitler und die NSDAP wird die Verfolgung intensiviert und mit Plakaten der Aufruf „Helft bei der Suche nach Rotmord!“ in die Öffentlichkeit getragen. Das Konterfei Erich Mielkes wurde als „Mörder“ und das Gesicht von Walter Ulbricht als „Mordhelfer“ aufgeführt. Aber Mielke war schon längst unter Stalins Fittichen in Moskau, während Walter Ulbricht im November 1932 gemeinsam mit der NSBO („Betriebszellenorganisation der NSDAP“) den Streik der Berliner Verkehrsgesellschaft organisierte. Ulbricht emigrierte erst ein Jahr später nach Moskau und dann nach Paris, um 1938 endgültig nach Moskau zu gehen.
Tschekist
Mielke lernte in Moskau die Geheimpolizei „Tscheka“ kennen, die Ende 1917 von Feliks Dzierżyński gegründet worden war. In der DDR fühlte er sich nicht nur als rechtmäßiger Erbe dieser „Tscheka“, sondern herrschte ab Mitte der 1980er auch noch über etwa 10.000 bewaffnete Kämpfer des „Wachregiments Feliks Dzierżyński“. Dieses militärisch ausgerüstete Wachregiment war ein „Staat im Staate“ und konnte jederzeit zur Unterdrückung einer Konterrevolution auf Befehl Mielkes in Marsch gesetzt werden. Zunächst aber hielt sich Mielke beim spanischen Bürgerkrieg in der Etappe bei den Roten Brigaden auf, die auf Geheiß Stalins und der Kommunistischen Internationalen 1936 zur Unterstützung der Republikaner auf die iberische Halbinsel gebracht worden waren. Anschließend lebte er einige Zeit in Frankreich, wurde mehrfach unter falschem Namen verhaftet, aber nicht identifiziert und schließlich der paramilitärischen „Organisation Todt“ eingegliedert, die im besetzten Frankreich im Auftrag der deutschen Wehrmacht militärische Anlagen errichtete. Später behauptete er, einer „Arbeiterkompanie“ angehört zu haben. 1945 kehrte er nach Berlin zurück und legte eine steile Parteikarriere innerhalb der KPD und später der SED hin. Als am 9. Februar 1950 das Ministerium für Staatssicherheit gegründet wurde, war er Staatssekretär und einer der beiden Stellvertreter des Ministers Wilhelm Zaisser.
Im Juni 1953 erschütterte ein landesweiter Aufstand die DDR. Überall protestierten Arbeiter einerseits gegen zu hohe Leistungsnormen und zu geringe Bezahlung und forderten andererseits freie, geheime Wahlen und eine Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. Diesen Volksaufstand nicht vorhergesehen und im Keim erstickt zu haben, löste personelle Veränderungen im Ministerium für Staatssicherheit aus, aber Mielke blieb vorerst in der zweiten Reihe. Das änderte sich am 1. November 1957, als Walter Ulbricht Erich Mielke zum Nachfolger des auf eigenen Wunsch suspendierten Ernst Wollweber ernannte. Von diesem Moment an baute Erich Mielke seine unangreifbare Position innerhalb des Staatsapparates der DDR auf.
Chef der Stasi
Er herrschte über die Telephonüberwachung, die auch vor seinen engsten Mitarbeitern nicht Halt machte. Er initiierte Zersetzungsaktionen gegen die Familien von Republikflüchtlingen oder vermeintlichen Staatsfeinden. Auf Mielkes Befehl wurde die evangelische Kirche der DDR ausspioniert und Dissidenten verhaftet. Es war Mielkes Idee, die „Tscheka“ in der DDR zu imitieren, die in der frühen Sowjetunion hunderttausendfach Menschen verschleppt, gefoltert und umgebracht hatte. Ebenso gnadenlos sollte gegen jene in der DDR vorgegangen werden, die für das eintreten, was man heute als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Erich Mielke fühlte sich als Bewahrer des Marxismus-Leninismus in der DDR und markierte den starken Mann nach außen. Aber eigentlich war feige und verklemmt, wie sich seine Sekretärin erinnert. Von Statur klein, mit abstehenden Ohren und einem schlechtsitzenden Gebiss fiel er seiner unmittelbaren Umgebung durch außergewöhnlich schlechte Manieren auf: „Ekelhaft, wie er schamlos in der Nase bohrte und sich den Kopf bis aufs Blut zerkratzte. Er griff auch vor uns Frauen in die Hosentasche und rückte zurecht, was sich verklemmt hatte.“[1] Er war ein lächerlicher Hampelmann mit außergewöhnlicher Macht, der zeitlebens Angst hatte, für die beiden Morde im Sommer 1931 doch noch belangt zu werden. So lange die Sowjetunion die schützende Hand über die DDR und damit auch über Mielkes Vergangenheit hielt, konnte er unbesorgt sein.
Aber mit dem Antritt von Michail Gorbatschow als KPdSU-Generalsekretär im März 1985 änderte sich das schlagartig. Umtriebig und hinterlistig versuchte Erich Mielke, die Ideen von "Glasnost" und "Perestroika" als „unsozialistisch“ oder „konterrevolutionär“ abzutun. Aber es nützte nichts: Am Ende gehörten die Stasi und die gnadenlose Unterdrückung der DDR-Gesellschaft zu den hauptsächlichen Gründen für den Untergang der DDR. Der Wandel in der Sowjetunion hat in der DDR dafür gesorgt, dass der Oppositionsbewegung die Luft zum Atmen erhalten blieb. In der Amtszeit von Michail Gorbatschow vom 11. März 1985 bis zum Ende der DDR ist es der DDR-Zivilgesellschaft gelungen, den Staatsapparat zum Kippen zu bringen. Und anders als im Juni 1953, als sowjetische Panzer das DDR-Regime retteten, blieben 1989 die sowjetischen Waffenbrüder still und ließen die Opposition in der DDR gewähren. Damit ließ Gorbatschow nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen osteuropäischen Satelittenstaaten einen Prozess zu, der die Zivilgesellschaft stärkte und den Menschenrechten zum Durchbruch verhalf. Erich Mielke stand dem fassungslos gegenüber, zumal er fürchten musste, dass nach einem Regimewechsel in Ost-Berlin sein Mordprozess aus dem Sommer 1931 wieder aufgerollt werden würde.
Vom Ende der Zivilgesellschaft
Welche bedeutende Rolle eine funktionierende Zivilgesellschaft spielt, kann man dieser Tage in Russland sehen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine startete am 24. Februar 2022 mit dem Abfeuern der ersten Rakete in Richtung Kiew. Aber die Vorbereitungen für diesen Krieg begannen mindestens 10 Jahre früher. Wladimir Putin hat von diesem Zeitpunkt an gezielt und gnadenlos die Zivilgesellschaft zerstört. Oppositionelle wurden unter geradezu schwachsinnigen Anschuldigungen für Jahre in Arbeitslager gesteckt und damit aus dem Verkehr gezogen. Zahlreiche Morde auf offener Straße in Moskau, London oder Paris hatten ihren Auftraggeber im Kreml, wo jemand saß und sitzt, der nichts mehr fürchtet als fundierte Kritik, die sein Lügengebäude zerstört. Kritische Zeitungen, Radiostationen oder Fernsehsender ließ Putin nach und nach die Existenzgrundlage entziehen. Gleichzeitig wurden die Medien gleichgeschaltet und zu vom Kreml genehmigten Sprachregelungen verpflichtet. Die bunte und allmählich vielfältig gewordene politische Kultur Russlands wurde durch die Gründung einer Einheitspartei („Einiges Russland“) demontiert. Zahlreiche Verfassungsänderungen gaben der nunmehr schier endlosen Regierungszeit von Wladimir Putin eine scheindemokratische Ummantelung. Wie einst die Zaren oder die KPdSU-Generalsekretäre wird er so lange regieren, bis er aus dem Kreml herausgetragen werden muss.
Genau wie Putin Anfang der 2000er Jahre in Russland die Zivilgesellschaft als Voraussetzung für den Krieg gegen die ukrainischen Schwestern und Brüder zerstört hat, wollte Erich Mielke das Entstehen einer solchen Gesellschaft im Keim ersticken. Der überzeugte Tschekist Erich Mielke wollte das angeblich Schwache zurückdrängen und „nörgelnden Oppositionellen“ aus dem öffentlichen Leben eliminieren, damit sich die strahlende Idee des Marxismus-Leninismus ungehindert würde ausbreiten können. Angesichts der Ereignisse in der Ukraine und dem Erschrecken über die wegen einer fehlenden Zivilgesellschaft ungehindert lügenden russischen Kriegspropaganda, ist es gut, dass der Politik- und Systemwechsel Ende der 1980er Jahre in der damaligen UdSSR der DDR-Opposition starken Rückenwind verliehen hat. Sie hat die Unterdrückung durch Mielkes Stasi überwunden und damit ein leuchtendes Zeichen für eine starke Zivilgesellschaft abgegeben. Die Zivilgesellschaft ist der Schutzschild einer pluralen, demokratischen und weltoffenen Gesellschaft. Wird sie zerstört, geht die Gesellschaft unter.
[1] BZ – Die Stimme Berlins vom 28.05.2000
blog | oktober 2022 | von alten und neuen faschisten
Von alten und neuen Faschisten
Es liegt auf der Hand, das Italien des Jahres 1922 mit dem Italien des Jahres 2022 zu vergleichen. Fast auf den Tag genau 100 Jahre nach dem zur Legende hochstilisierten „Marsch auf Rom“ des italienischen Faschistenführers Benito Mussolini haben die so genannten „Postfaschisten“ in Italien die Wahlen gewonnen und werden – gemeinsam mit anderen rechten und nationalkonservativen Parteien – die nächste Regierung in Italien stellen. Damit wird ein Albtraum wahr, der EU-Politiker seit dem Rücktritt Mario Draghis Mitte Juli 2022 umtreibt. Mit Georgia Meloni wird nicht nur zum ersten Mal eine Frau das wichtigste politische Amt in Italien bekleiden, sondern auch eine Politikerin das Sagen haben, die sich auf faschistische und rechtsextreme Kräfte in ihrer Partei und im Land stützt.
Die „Fratelli d’Italia“ distanziert sich nicht von Benito Mussolini. Im Gegenteil ziert das Parteilogo jene ewige Flamme, die die Gruft des einstigen „Duce“ erleuchtet und die Grabstätte in eine Pilgerstätte für Rechtsextremisten verwandelt. Diese bildliche Nähe drückt auch die ideologische Nähe zu den historischen Faschisten der frühen 1920er Jahre aus. Damals wie heute können sich alte und neue Faschisten auf Unterstützung aus der Bevölkerung stützen, die ihren Protest gegen die herrschenden Umstände durch das Kreuzchen in der Wahlurne zum Ausdruck bringt. Ein Beispiel von vielen: An der süditalienischen Mittelmeerküste betreibt eine Familie von Generation zu Generation einen Liegestuhl- und Sonnenschirmverleih für Touristen. Angefangen hat es mit amerikanischen Soldaten, die Sonnenschutz und ein kühles Getränk wollten. Mittlerweile agiert dort die dritte Generation, nun aber funkt die EU-Kommission dazwischen, die die Konzessionsvergabe europaweit ausschreiben lässt. Die italienische Liegestuhl-Dynastie muss nun gegen internationale Konkurrenten antreten, die billiger sein können und dafür keinerlei Lokalkolorit mitbringen. Die „Fratelli d’Italia“ hat als einzige Partei versprochen, diesen – tatsächlichen – Unsinn zu bekämpfen und damit viele Stimmen bekommen. Das hat wenig mit Faschismus, aber viel mit rechtspopulistischer Anbiederei zu tun.
"Lang lebe Mussolini"
Da sind sich die heutigen Faschisten, oder etwas mehr sexy „Post-Faschisten“, einig mit ihrem historischen Vorbild. Im Nachkriegsitalien hatte sich eine starke Linke etabliert, die im November 1919 mit über 32 Prozent als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen hervorging. Dagegen entwickelte sich eine zunächst zerstückelte politische Rechte, die sich vor allem gegen die bestehende Ordnung und weniger für einen zu etablierenden faschistischen Staat einsetzte. Es gab – und auch das ist eine Parallele zu heute – in der rechten politischen Landschaft einige übergeordnete Gemeinsamkeiten. Anfang der 1920er Jahre ging es vor allem um die Folgen des Ersten Weltkriegs, in dem Italien anfangs neutral war und später an der Seite der Entente gegen Deutschland kämpfte. Die italienischen Nationalisten begrüßten zwar die Gebietsgewinne in Tirol bis zum Brenner, lehnten aber den 14-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vehement ab. Der nämlich sah das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor und das stand im Widerspruch zu den schon 1915 von den Alliierten vertraglich garantierten italienischen Gebietsgewinnen – in Tirol.
Das Ergebnis des Ersten Weltkriegs und vor allem die 14-Punkte von Wilson wurden von Rechtsaußen als ein „verstümmelter Sieg“ bezeichnet. Mit dieser Parole gingen italienische Rechtsextremisten unterschiedlicher Couleur in den Feldzug gegen die italienische Monarchie, die parlamentarische Demokratie und natürlich gegen die Nachkriegsordnung in Europa. Die Schwarzhemden der „Partito Nazionale Fascista“ stachen durch Gewaltbereitschaft und martialisches Auftreten unter dem Logo des Liktorenbündels hervor. In der römischen Antike steckte in einem von Liktoren getragenen Bündel aus dünnen Hölzern ein Beil als Symbol der Amtsgewalt der höchsten Machthaber. Die PNF verwandte dieses Symbol in ihrem Parteilogo und brachte damit nicht nur den unbedingten Willen zur – durchaus auch gewalttägigen - Machtausübung zum Ausdruck, sondern knüpfte damit auch an das Imperium Romanum an, dessen Ausmaße es wieder herzustellen galt. Benito Mussolini wurde schnell der unangefochtene Anführer, der sich an keinerlei programmatische Vorgaben zu halten hatte. Ähnlich wie das „25-Punkte-Programm“ der deutschen NSDAP, brauchten auch die italienischen Faschisten keine durchdachten politischen Konzepte. Es reichten einige populistische Schlagworte, mit denen man bei der Bevölkerung punkten konnte: Annexion weiterer Gebiete in Kroatien und Kampf gegen die verhasste Linke und das katholische Establishment. Das kommt auch heute gut an, denn die Unterstützung der Liegestuhl-Verleiher in Süditalien ist ebenso populistisch wie innerhalb der EU nicht durchsetzbar. Aber das war und ist egal.
Rechtsextreme Agitation
Damals wie heute agitieren die Rechtsextremisten – nicht nur in Italien (!) – gegen einen angeblichen „Staatskollektivismus“ oder gegen die „Allmacht“ der angeblich alles beherrschenden „politischen Clique“. Im Unterschied zu den in Italien rüpelhaft daherkommenden Faschisten der 1920er Jahre, haben ihre heutigen Nachahmer allerdings moderne Public-Relations-Abteilungen. Mit ihrer Hilfe passen die neuen Faschisten ihre politischen Absichten den heutigen Verhältnissen und Gesetzeslagen an. Überall in Europa sagen sie nicht wirklich, was sie vorhaben. Sie machen lediglich Andeutungen und geben sich reumütig, wenn sie zu weit vorgeprescht sind. Das ist auch das Verhalten, an dem man jene Politiker erkennen kann, die gerne im populistischen Fahrwasser schwimmen und dort auf Stimmenfang gehen. Zuletzt hat der CDU-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, eine Kostprobe davon gegeben, als er von „Sozialtourismus“ bei Flüchtlingen aus der Ukraine sprach.
Aber die Modernität der „Fratelli d’Italia“ und anderer europäischer rechter Parteien ist nur ein Deckmantel, genau wie an den „Postfaschisten“ nichts „vergangen“ ist. Nein, sie sind faschistisch, aber mit moderner Ummantelung. Und sie nutzen die destruktiven Tendenzen des Kapitalismus und einer unendlich kompliziert gewordenen Demokratie aus. Die „Fratelli d’Italia“ fordern allen Ernstes ein Upload des rückwärtsgewandten Dreiklangs „Dio, Patria, Famiglia - Gott, Vaterland, Familie“. Sie wollen eine imaginäre heile Welt gegen das Gendern, die LGBTQ-Community verteidigen. Die „Brüder“ wollen weniger Parlament, weniger Einfluss der Brüsseler EU-Bürokratie, natürlich weniger Schwangerschaftsabbrüche und vor allem mehr „Identität“, mehr religiöse Demut, mehr Heimat. Dass dabei individuelle Selbstbestimmung, grundlegende, europäisch garantierte Freiheitsrechte auf der Strecke bleiben, wird nicht erwähnt.
Neoliberales Konzept hat versagt
Aber sich darüber aufzuregen und an der Bildung jener zu zweifeln, die derartige Parteien in Italien, Schweden, Frankreich oder auch Deutschland wählen, würde nur an der Oberfläche kratzen. Tatsächlich leben viele Europäer seit rund 15 Jahren in Angst und Ärger, die sich seit der Finanzkrise von 2008 angesammelt und aufgestaut haben. Die Krise des Jahres 2008 – Lehman-Pleite, Bankenkrise und Rettungsschirme – hatte ihre Ursachen in einer radikalen Deregulation der Finanzmärkte, die in den Jahren zuvor als Ausweg aus einer angeblich lahmenden Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit durchgezogen wurde. Im Ergebnis des dann entstandenen Wildwuchses kam es zu „Blasen“ im Immobilienbereich, was als Dominoeffekt den gesamten Finanzmarkt zerstörte. Betrügerische Praktiken, Spekulationswirtschaft, maximales Gewinnstreben und schlichte Gier einzelner Akteure hatten eine weltweite Krise ausgelöst. Aber statt jene in Haftung zu nehmen, die als Verursacher bekannt waren, bekamen sie die staatlichen Hilfen, die eigentlichen jenen zugestanden hätten, die Opfer dieses verbrecherischen Treibens waren.
Es folgte eine kalte Enteignung breiter Schichten der Bevölkerung, die diese massive Umverteilung durch eine lange Phase der Niedrigzinsen bezahlt hat. Gleichzeitig wurden jene, die ohnehin schon Geld hatten, in genau dieser Niedrigzinsphase noch reicher. Während die einen in „prekäre“ Verhältnisse abrutschten, ließen es sich die anderen gut gehen. Aggression aus Angst bei der ersten Gruppe waren und sind die Folgen, die sich nicht erst in Italien durch eine zunehmende Stabilisierung rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien manifestiert. Das komplette Versagen des neoliberalen Wirtschaftskonzeptes kommt nun klar und deutlich zum Vorschein. Es gelingt nicht mehr, den Wohlstand auf alle zu verteilen. Nur noch wenige profitieren und schotten sich ab von den anderen, deren Lebenswelten sie nicht mehr teilen.
Italienische "Vergangenheitsbewältigung"
Das trifft auf die italienischen Verhältnisse genauso zu wie auf die in Frankreich oder Deutschland. Während Deutschland und Frankreich eine intensive Debatte über Vergangenheit – hier der Holocaust und die Schuld am 2. Weltkrieg, dort die Kollaboration mit den deutschen Besatzern – hinter sich haben und, wenn nötig, immer wieder führen, gilt das nicht für Italien. Mussolini und sein „Marsch auf Rom“, der übrigens niemals stattgefunden hat, sind immer noch positiv konnotiert. Seine Grabstätte ist Versammlungsort von Faschisten aller Art und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit Italiens steht noch aus. So gesehen, ist der Wahlsieg der „Fratelli d’Italia“ kein Ausrutscher, sondern Ausdruck des Zustands einer Gesellschaft, die sich an den Rand gedrückt, nicht verstanden und ausgebeutet fühlt. Für die EU wird das nicht ohne Folgen bleiben. Italien rückt an die Seite derer, die keine weiteren Sanktionen gegen ein aggressives Russland wollen. Georgia Meloni wird von ihrem Vetorecht immer dann Gebrauch machen, wenn die EU einheitliche Regeln oder gar eine Kompetenzverlagerung nach Brüssel durchsetzen will. Damit wird das Gemeinschaftsprojekt EU immer schwerfälliger, wirkungsloser und politisch irrelevanter. Vielleicht muss man wirklich darüber nachdenken, die EU der Maastricht-Verträge von 1992 aufzulösen und eine neue Union der europäischen Länder zu gründen, die dann alle Geburtsfehler der alten EU beheben könnte. Aber da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.
blog | september 2022 | erdogan, das osmanische reich und atatürk
Erdogan, das Osmanische Reich und Atatürk
Es war eine blutige Schlacht, die am 8. September 1922 in Smyrna, dem heutigen Izmir, tobte. Der griechische Gouverneur und mit ihm einige Tausend griechische Soldaten mussten in einer hastigen Flucht die Stadt verlassen. Vor den Toren Smyrnas hatten sich türkische Einheiten unter dem Befehl des Generalinspekteurs Mustafa Kemal gesammelt und zum Sturmangriff auf die griechischen Besatzer der Stadt geblasen. Für die gab es keinen anderen Ausweg mehr, als Smyrna fluchtartig zu verlassen und sich auf eines der Kriegsschiffe zu retten, die in der Bucht vor der Hafenstadt vor Anker gegangen waren.
Begonnen hatte die griechische Besetzung der Stadt am 15. Mai 1919. Mit britischer Unterstützung startete die griechische Invasion, die nicht nur die Hafenstadt Smyrna im Visier hatte, sondern vor allem den Beginn einer groß angelegten Expansion Griechenlands auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs darstellte. Das Osmanische Reich hatte an der Seite der Deutschen den Ersten Weltkrieg verloren und sollte nach dem Willen der alliierten Siegermächte in seine Einzelteile zerlegt werden. Aber die nationale Opposition in der Türkei wehrte sich dagegen. Mustafa Kemal, der es bis an die Spitze des türkischen Militärs geschafft hatte, organisierte den Widerstand gegen die Besatzer. Auf die Interventionen der Regierung des Sultans Mehmed VI. Vahdettin, die eine Verhandlungslösung mit den Alliierten anstrebte, reagierte er nicht. Stattdessen legte seine reguläre Uniform ab, berief zwei Nationalkongresse ein, auf denen am 23. April 1920 in Ankara eine Nationalversammlung gegründet wurde. Damit war das Tischtuch mit der Regierung endgültig zerschnitten, zumal Mustafa Kemal zum Vorsitzenden der Nationalversammlung und einer gegen den Sultan und die Alliierten gerichtete Regierung gewählt wurde. Mit anderen oppositionellen Führungsmitgliedern wurde er daraufhin von der osmanischen Regierung mit einer Todesfatwa belegt und vom Istanbuler Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Vertrag von Sèvres
Gut drei Monate später akzeptierte die Regierung des Sultans den von den alliierten Siegern des Ersten Weltkriegs ausgehandelten Vertrag von Sèvres. Die Siegermächte wollten neben dem österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat auch das riesige Osmanische Reich auflösen und wesentliche Bestandteile anderen Staaten zuschlagen. So verlor das Osmanische Reich als Folge der Niederlage an der Seite der Deutschen Teile Saudi-Arabiens und Armenien. Mesopotamien und Palästina gingen an die Briten, Syrien und Libanon an Frankreich und Thrakien sowie Smyrna an Griechenland. In den Augen der nationalen Opposition war die Entmilitarisierung des Marmarameers mit den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen eine ungeheure Schmach und Demütigung des türkischen Volkes, das damit unter weitgehender Kontrolle der Alliierten geraten würde. Mit diesem osmanischen Reststaat unter alliierter Kontrolle wollte sich Mustafa Kemal nicht abfinden und organisierte den Widerstand gegen die Besatzer.
Vertrag von Lausanne
Der türkische Befreiungskampf dauerte bei wechselnden Erfolgen und Niederlagen mehr als zwei Jahre. Das endgültige Ende markiert der Vertrag von Lausanne, den die Türkei am 24. Juli 1923 mit den alliierten Kriegsgegnern schloss. Dadurch wurden nicht nur wesentliche Bestimmungen des Vertrags von Sèvres aufgehoben, sondern auch das türkische Territorium erheblich erweitert: Anatolien, das ursprünglich an Armenien gehen sollte, wurde genauso türkisch wie Ostthrakien, der heute als „europäisch“ bezeichnete Teil der türkischen Republik. Ein Streitpunkt, der die internationale Politik bis heute belastet, konnte nicht ausgeräumt werden: Die Türkei musste nachträglich der schon 1914 proklamierten Annexion Zyperns durch Großbritannien zustimmen. Das führte in den kommenden Jahrzehnten zu Streitigkeiten zwischen Griechen, Türken und Briten, die im August 1960 mit dem Abkommen von London in der Unabhängigkeit Zyperns endeten. 1974 putschten griechische Nationallisten, verübten ethnische Säuberungen und Pogrome an türkischen Bewohnern der Insel und provozierten damit eine militärische Intervention der Türkei, die den Norden der Insel bis heute besetzt hält.
Der Vertrag von Lausanne regelte auch den rechtlichen Status von religiösen Minderheiten. In der Türkei wurden Juden, Griechen und Armenier als nicht-muslimische Minderheiten anerkannt und den muslimischen Türken gleichgestellt. Das führte zu einem wechselseitigen Bevölkerungsaustausch von etwa 2 Millionen Menschen – griechisch-orthodoxe Griechen mit türkischer Staatsangehörigkeit -, christliche Türken oder griechische Staatsbürger muslimischen Glaubens. In der Türkei krempelte Mustafa Kemal den überkommenen Staat vollständig um, schaffte das Sultanat ab, das seit 1288 die Geschicke der Menschen des nordwestlichen Kleinasiens bestimmt hatte. Ende Oktober 1923 folgte die nominelle Gründung der Republik Türkei, im März 1924 wurde das Kalifenamt abgeschafft, die Mitglieder der Familie Osman mussten das Land verlassen.
Kemalismus
Aber damit nicht genug. Unter dem Symbol der „sechs Pfeile“ wurde die Türkei nach westlichen Vorbildern modernisiert – so jedenfalls empfanden es die Anhänger dieses „Kemalismus“, während konservative Kreise in der Türkei der Neuordnung ihres Landes nur widerwillig folgten. Fortan herrschte Republikanismus, als die für die neue Türkei beste Staatsform. Mit dem Laizismus wurde die strikte Trennung von Kirche und Staat durchgesetzt und damit ein deutlicher Gegenentwurf zum Sultanat festgeschrieben. Revolutionismus hieß die nicht endende Folge von einzelnen Reformschritten, der Nationalismus stand gegen das im Osmanischen Reich verfolgte Konzept eines multiethnischen und religiösen Staats. Der Populismus sollte sicherstellen, dass die Politik der Republik Türkei für das gesamte Volk und nicht nur für eine bestimmte Schicht gemacht wird und der Etatismus bezeichnete schließlich die teilweise staatlich gelenkte Wirtschaft des Landes. Mit diesem Konzept wurde Mustafa Kemal zum „Atatürk“, dem „Vater der Türken“, dessen Name bis heute nicht herabgewürdigt werden darf. Viele Staatsmänner nahmen ihn zum Vorbild, das Jahr seines 100. Geburtstages wurde 1981 von den Vereinten Nationen zum „Atatürk-Jahr“ erklärt.
Recep Tayyip Erdogan
Die Gründung der Republik Türkei ist rund 100 Jahre her und die moderne Türkei steckt seit Jahren in wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten. Der autokratisch regierende Recep Tayyip Erdogan versucht, diese Probleme durch Anspielungen auf die angeblich so ruhmreiche Vergangenheit des Osmanischen Reichs abzumildern oder gar vergessen zu machen. Dabei war der Untergang des Riesenreichs keineswegs nur eine Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg, sondern das Ergebnis eines langanhaltenden Prozesses der inneren Aushöhlung. Der Höhepunkt der Macht der Osmanen datiert auf das Ende des 16. Jahrhundert, danach verloren die elitären Großwesire in einigen Reichsteilen mehr und mehr an Einfluss, während der Sultan zunehmend die Macht auf seine Person zu konzentrieren vermochte. Das war vor allem während der langen Amtszeit (1520 – 1566) von Sultan Süleyman I., genannt „der Prächtige“, zu beobachten. Er verschob die Grenzen des Osmanischen Reichs bis Ägypten, nach Algier, Tunis und in den Jemen, er unterwarf einen Großteil Ungarns und stand 1529 zum Schrecken aller Europäer vor den Toren Wiens.
Aber allen Siegen zum Trotz waren es der Mut seiner Elitesoldaten und der Erfindungsreichtum osmanischer Experten, die die immer größer werdenden Risse hinter der goldenen Fassade des osmanischen Sultanats verdeckten. Süleymans Eroberungen hatten den Staatshaushalt derart belastet, dass sämtliche Zahlen in roter Farbe geschrieben werden mussten. Bald gingen die ersten seiner Eroberungen wieder verloren, seine Nachfolger waren weniger erfolgreiche Feldherrn, sondern machten durch maßlose Trunksucht und ausufernde Orgien im Palast eigenen Harem auf sich aufmerksam. Während sich die meisten europäischen Mächte der neuen Zeit öffneten, moderne Flotten und Verwaltungen schufen, glaubten die osmanischen Herrscher an die Wirksamkeit überkommener Regierungs- und Herrschaftsformen. Die Dekadenz ihrer Führungsgilde, was der türkische Präsident gern als Geschichtsfälschung abtut, hat das Osmanische Reich entscheidend geschwächt. Der absolutistische Anspruch osmanischer Sultane war in der islamischen Welt beispiellos. Als die Sultane nicht mehr in der Lage waren, ihren unbedingten Führungsanspruch militärisch durchzusetzen, wurde dieser Anspruch zur hohlen Phrase. Derartige Dekadenzerscheinungen hat es übrigens in Europa auch gegeben. Allerdings wurden da die Herrscher gezwungen ihre Macht mit Territorialherren teilen: Die Glorious Revolution von 1689 und die Französische Revolution von 1789 sind Belege dafür.
Aber das Osmanische Reich wurde nicht nur durch innere Probleme zum „Kranken Mann am Bosporus“, wie es Zar Nikolaus I. 1852 formulierte. Es wurde vielfach auch zum Counterpart der europäischen Großmächte, die ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen an Bosporus und Dardanellen durchsetzen wollten und nicht selten gegen das Osmanische Reich agierten. Dennoch ist es eine nicht wirklich nachvollziehbare politische Auffassung, wenn Erdogan auf die angeblich ruhmreiche Vergangenheit des Osmanischen Reichs verweist und dabei auf die Verschiebung von Grenzen schielt. „Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig akzeptiert. Wir müssen wieder überall sein, wo unsere Ahnen waren“, droht Erdogan seit einigen Jahren mal laut und offen, mal leise und eindringlich. Damit spielt er auf den Vertrag von Lausanne an, der 1923 die heutigen – im Vergleich zum Osmanischen Reich stark verkleinerten - Grenzen der Türkei völkerrechtlich festlegt hat.
Neues Sultanat?
Indem Erdogan gegen diesen Vertrag angeht, hofft er innenpolitisch zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es grenzt schon an Sultanats-Pläne, wenn der türkische Präsident Nordsyrien und Nordirak mitsamt den Metropolen Aleppo und Mossul dem türkischen Staatsgebiet zuschlagen will. Europäische Spitzenpolitiker haben das genauso wie seine osmanischen Historiensoldaten im Präsidentenpalast eher als lächerliche Großmannssucht abgetan. Aber Erdogan bedient damit die nationalistischen Empfindungen vieler Türken, gleichzeitig präsentiert er sich als starker Politiker, der endlich gefürchtet und in der Welt ernst genommen wird. Und da macht es sich auch noch ganz gut, sozusagen als Nebeneffekt sich als den besseren Kemal Atatürk zu präsentieren. Denn Kritik am Vertrag von Lausanne und den darin gemacht Vereinbarungen ist eben auch Kritik am „Vater der Türken“. Er, Erdogan, hätte besser verhandelt und mehr für die Türken herausgeholt als der Übervater, der als Portrait bei nahezu allen Wahlkampfauftritte über Erdogans Schulter guckt.
Erdogans Neo-Osmanismus verklärt die Vergangenheit. Das Osmanische Reich sei eine glänzende Weltkultur und ein islamisches Imperium mit einer furchterregenden Militärmacht gewesen. In seiner Darstellung war das Osmanische Reich multikultureller und im Vergleich zum Westen auch prachtvoller, toleranter und weltoffener. Diese Erfolgsgeschichte müsse nun fortgesetzt werden, wie es der damalige Außenminister Ahmet Davutoglu 2009 in Bosnien erklärte. Das ist ein Paradebeispiel für Geschichtsklitterung, die nur auf Kosten jener Staaten Realität werden könnte, die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Erbmasse der Osmanen entstanden sind. Und was das bedeuten würde, sehen wir gerade in der Ukraine.
blog | juli 2022 | good night america...
Good night, America how are You“…
… könnte man in Abwandlung von Steve Goodmans Protestsong „Good Morning, America how are You…”, mit dem 1972 Arlo Guthrie Berühmtheit erlangte, über den heutigen Zustand der USA sagen. Goodman protestierte damals gegen die Schließung großer Teile des Eisenbahn-Streckennetzes und gegen die Stilllegungen von Bahnhöfen durch die neu gegründete private Bahngesellschaft Amtrak. In der „City of New Orleans“ musste der von der Illinois Central Railroad betriebene Bahnhof schließen, von wo aus bis dahin die ärmere Bevölkerung aus New Orleans und den Südstaaten eine preisgünstige Reisemöglichkeit in den reichen Norden um Chicago gefunden hatte. US-Präsident Richard Nixon war das egal, er hatte die privaten Bahngesellschaften aus der Pflicht entlassen, den an vielen Stationen nicht besonders lukrativen Personentransport anbieten zu müssen. Mit dieser Entscheidung wurden zwei Drittel der amerikanischen Fernzüge aus dem Verkehr gezogen und die Reisenden auf die Straßen getrieben. Auf der Strecke blieben jene, die kein Auto hatten und auch die Tickets für die Langstreckenbusse nicht berappen konnten.
Nun ist der Vergleich ein wenig gezwungen, aber man erkennt ein Prinzip. Wenn es Lobbygruppen gelingt, in der ein oder anderen Weise Einfluss auf die beiden amerikanischen Parteien und damit auf Kongress, Senat und Weißes Haus zu gewinnen, sind sie es, die die Gesetze in den USA machen.
Der zweite Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung
Zweifellos können die Amerikaner stolz auf ihre Verfassung sein, die sie 1787 nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg gegen die britischen Kolonialherren beschlossen haben. Sie schränkt die Macht des Staates ein und sichert den Bürgern weitgehende Rechte zu. Schon in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 war das Recht, eine schlechte Regierung, wenn es sein muss mit Gewalt, aus dem Amt zu jagen, festgeschrieben worden. Deshalb wurde am 15. Dezember 1791 der zweite Zusatzartikel verabschiedet, der „das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen“ garantiert. Mag es aus der Perspektive eines jungen, aus einer Revolution und einem langen Unabhängigkeitskrieg entstandenen Staates noch verständlich sein, solche Garantien abzugeben. Unverständlich hingegen ist – schon lange -, dass dieser Artikel auch 230 Jahre später weder abgeschafft noch entschärft worden ist. Im Gegenteil.
Die US-Waffenlobby ist bestens organisiert in der „National Rifle Association“, wird mit Millionenspenden aus der Bevölkerung unterstützt und hat mit mehr als 5 Millionen Mitgliedern eine breite Basis in der amerikanischen Bevölkerung. Der NRA ist es gelungen, das oberste Gericht der USA sogar noch zu einer Ausweitung des Rechts auf Waffentragen zu bewegen. Im Juni 2022 stuften die neun, mit einer Ausnahme weißen Richterinnen und Richter, das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit als Grundrecht für alle Bürgerinnen und Bürger ein. Ein New Yorker Gesetz hatte aus guten Gründen und nach Jahrzehntelangen Erfahrungen mit brutaler Gewalt auf offener Straße einen Nachweis eingeführt, mit dem die besondere Notwendigkeit der Selbstverteidigung belegt werden musste.
Mit den Stimmen von sechs gegen drei Richtern annullierte der Supreme Court diese gesetzliche Regelung im Bundesstaat New York, weil sie eine Verletzung des zweiten Zusatzartikels zur US-Verfassung darstelle. Der konservative Richter Clarence Thomas schrieb, der zweite Zusatzartikel der US-Verfassung schütze das Recht einer Person, zur Selbstverteidigung außerhalb des eigenen Zuhauses eine Handfeuerwaffe tragen zu dürfen. Das New Yorker Gesetz verstoße gegen diesen Grundsatz und habe deshalb kassiert werden müssen. Diese Begründung lässt einen fassungslos zurück ebenso wie es nicht mehr nachvollziehbar ist, dass derartige Entscheidungen in dem Moment getroffen werden, in dem es mehrere Schießereien im öffentlichen Raum gegeben hat: Anfang Juni 2022 starben in drei amerikanischen Städten in den Bundesstaaten Pennsylvania, Tennessee und Michigan neun Menschen, zwei Dutzend wurden teilweise lebensgefährlich verletzt. Täter haben offenbar wahllos in Ausgehvierteln um sich geschossen und den Tod unschuldiger Menschen in Kauf genommen ode sogar beabsichtigt. Wie kann man da das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit nicht nur fördern, sondern geradezu fordern? Good Night America…
„Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung“ …
… mit diesem zynischen Satz begründete die konservative, meist weiße und männliche Mehrheit im Supreme Court im Juni 2022 das Ende einer bundesweiten gesetzlichen Regelung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Die hatte es 50 Jahre gegeben, seit es 1973 durch den immer wieder als Präzedenzfall herangezogenen Fall „Roe vs. Wade“ in den gesamten USA Regelungen für legale Schwangerschaftsabbrüche gegeben hat. Aber die Anti-Abtreibungslobby in den USA ließ nicht locker und agitierte mit teilweise drastischen Methoden, die auch vor Morddrohungen nicht zurückschreckten, gegen das Recht einer werdenden Mutter über ihren Körper und damit über ihr Leben selbst zu bestimmen. Sie ließen weder das Argument einer Vergewaltigung, noch einer Missbildung des Fötus oder die prekäre soziale Lage einer jungen Frau gelten. Für sie ging es nur um die Durchsetzung ihrer, meistens biblisch „begründeten“ Meinung – ohne Rücksicht auf soziale Konflikte und daraus resultierenden Notlagen für Millionen Frauen.
Ihre Lobbyarbeit hat ebenso wie bei der Erleichterung des Waffentragens in der Öffentlichkeit nach vielen Jahren Früchte getragen. Präsident Donald Trump setzte mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett drei konservativ-reaktionäre Richter ein, die nun für sehr lange Zeit – vielleicht bis zu ihrem letzten Atemzug - dem Supreme Court angehören werden: Bei ihrer Ernennung waren sie zwischen 48 und 53 Jahren alt. Besorgniserregend sind die juristischen Positionen, die beispielsweise Amy Coney Barrett vertritt: Sie hängt dem Textualismus an, einer ultrakonservativen Richtung, die Gesetze so auslegt, wie sie von den damaligen Zeitgenossen bei ihrer Entstehung mutmaßlich verstanden worden wären. Kommentierungen, veränderte soziale Verhältnisse oder ein Wandel von politischen Einstellungen lassen sie nicht gelten. Im Gegenteil: Die seit 230 Jahren vielfachen Veränderungen der Welt, der Menschen und der Lebensverhältnisse werden schlicht ausgeblendet und finden keinerlei Berücksichtigung. Nach Amy Coney Barrett sind wir immer noch auf dem Stand des Jahres 1791, als der zweite Zusatzartikel zur Verfassung beschlossen wurde. Das ist schwer erträglich und blödsinnig.
Natürlich hat Barrett für das Ende des legalen Schwangerschaftsabbruchs gestimmt und festgestellt, dass die Entscheidung im Fall „Roe ungeheuer falsch und auf Kollisionskurs mit der Verfassung“ war. Die „Befugnis zur Regelung“ des Abtreibungsrecht würden nun an das Volk und seine gewählten Vertreter in den Bundesstaaten zurückgegeben. 27 dieser Staaten werden von den Republikanern regiert, die nach wie vor, oder stärker denn je, von Donald Trump angeführt werden. Mit den Worten „Gott hat das entschieden“ feierte der Ex-Präsident das Urteil im TV-Sender „Fox News“ und bedauerte, dass dieser Schritt nicht schon „vor langer Zeit“ geschehen sei. Während bei den Republikanern und ihrem blonden Anführer die Sektkorken knallen, löste die Entscheidung des Supreme Court bei der Mehrheit der Amerikaner, vor allem bei den Frauen, blankes Entsetzen aus. Etwa 60 Prozent der Befragten einer jüngeren Umfrage sprechen sich gegen das Ende der gesetzlich geregelten Möglichkeit zu Schwangerschaftsabbrüchen aus. Aber das interessiert die Lobbyisten nicht. Good Night America…
„Westliche Führungsmacht“?
Man könnte sagen, das sind inneramerikanische Probleme und zur Tagesordnung übergehen. Das aber wäre fahrlässig, denn das Land bewegt sich durch diese beiden Entscheidungen auf eine Polarisierung zu, die es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA nicht mehr gegeben hat. Damals begann der Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten, in dem es zwischen 1861 und 1865 einerseits um die Frage ging, wie man es denn in den USA mit der Sklaverei halte. Andererseits aber stritten die Staaten um die für den Bestand der Union sehr viel wichtigere Frage, was der Zentralstaat den Mitgliedsstaaten vorschreiben darf. Ursache war eine tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung zwischen Nord- und Südstaaten, die im Süden die Grundsatzfrage nach dem Sinn einer gemeinsamen Union aufkommen ließ. Der Krieg dauerte vier Jahre, wurde mit äußerster Härte geführt und kostete knapp 600.00 Menschen das Leben, weitere 500.000 erlitten schwere und schwerste Verletzungen.
Damit soll nicht gesagt sein, die USA stünden unmittelbar vor einem Bürgerkrieg, aber die reaktionäre Lobbyisten-Clique um den religiösen Fanatiker und streng konservativen Juristen Leonard Leo plant weitere Attacken auf den liberalen Rechtsstaat, der die USA einst prägte. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in ihren Fokus gerückt, entsprechende Gesetze werden geprüft. Viele Amerikanerinnen fürchten, dass auch Verhütungsmethoden eingeschränkt werden könnten, weil sie angeblich nicht in „Gottes Plan“ passen. Das sind Horrorvorstellungen, die nichts mehr mit einem modernen westlichen Staat zu tun haben und den Demokraten um Joe Biden den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Der auf Dauer konservativ dominierte Supreme Court würde alles abräumen, was dem fundamentalistischen christlichen Weltbild entgegensteht. Und sollte es den Republikanern gelingen, die Mehrheit im Kongress zu erringen, werden sie ein bundesweites gesetzliches Abtreibungsverbot ein- und durchbringen, gegen das Joe Biden lediglich sein Veto einlegen und das Gesetz nicht unterzeichnen könnte. Good Night America …
Putin freut es
Die liberalen europäischen Staaten stecken spätestens seit diesen beiden Entscheidungen in einem Dilemma, denn die konservativen Eliten „ihrer“ Führungsmacht haben die USA von den immer beschworenen gemeinsamen Werten inzwischen meilenweit entfernt. Das konnten selbst die Staats- und Regierungschefs beim G7-Gipfel im bayrischen Elmau nicht mehr verbergen. „Schlecht“, „Rückwärtsgewandt“ und drastischer wurden die Entscheidungen genannt und Joe Biden in Schutz gegen das eigene Verfassungsgericht genommen. Einzig Wladimir Putin dürfte es freuen, wenn sich die transatlantische Wertegemeinschaft auseinanderentwickelt. Russland und China wollen keine Weltordnung mehr hinnehmen, die unter der Fuchtel der Regierung in Washington steht – so tönt es immer mal wieder aus Moskau oder Peking. Das zurückzuweisen wird angesichts der innenpolitischen Entwicklung in den USA nicht einfacher. So sehen manche Beobachter in den „half-term“-Wahlen im November eine vielleicht letzte Chance, die Entwicklung in den USA aufzuhalten oder gar umzudrehen: Wenn sich nämlich der Zorn der enttäuschten Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen und Wähler in einem Kreuz für die Demokraten entlädt – aber das ist äußerst ungewiss.
blog | juni 2022 | watergate - Einbruch mit folgen
Einbruch mit Folgen: Watergate, die USA und die Welt
Es war einer der folgenschwersten Tage der jüngeren amerikanischen Geschichte, als am 17. Juni 1972 fünf Männer in das Wahlkampf-Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate-Komplex am Potomac-River einbrachen. Sie sollten im Auftrag der Republikanischen Partei während des Präsidentschaftswahlkampfs 1972 die Telephone der Wahlkampfzentrale der Demokraten anzapfen und die Büros verwanzen. Aber sie wurden von einem Wachmann überrascht und festgenommen. Als Anführer wurde James McCord ausgemacht, der vorher Jahre lang Agent des US-Geheimdienstes CIA und anschließend Sicherheitschef des „Komitees für die Wiederwahl des Präsidenten“ war. Der amtierende Präsident war Richard Nixon, der sich um seine Wiederwahl eigentlich keine Sorgen machen musste, denn alle Umfragen sahen ihn mit einem uneinholbaren Vorsprung auf den demokratischen Kandidaten George McGovern. Die Demokraten hatten den Fehler begangen, mit George McGovern einen Vertreter des linken Flügels zu ihrem Kandidaten zu küren, der für ein sofortiges Ende des Vietnamkrieges, für die Begnadigung von Kriegsdienstverweigerern, für die Lockerung der Drogenpolitik und für ein liberales Abtreibungsrecht eintrat – Themen, mit denen eine Präsidentschaft nicht zu gewinnen war. Als klar wurde, dass die Demokraten einer krachenden Niederlage entgegen gingen, kam es in der Partei zu offenem Streit. Manche Kongressabgeordnete und Senatoren stellten sich gegen ihren eigenen Kandidaten McGovern. Insofern ist es einigermaßen verwunderlich, warum im republikanischen Wahlkampteam überhaupt jemand auf die Idee gekommen ist, die Aktivitäten dieses Kandidaten auszuspionieren.
Aber die Affäre weitete sich mehr und mehr aus. Das FBI ermittelte zwei weitere Mitarbeiter des Wahlkampfkomitees für Nixon, die in den Einbruch involviert waren. Mit Howard Hunt und Gordon Liddy betraten weitere ehemalige CIA bzw. FBI-Agenten die Bühne, die im Auftrag der Republikaner kriminelle Taten planten und ausüben ließen. Rasch kam die Frage auf, inwieweit Geheimdienste und Bundespolizei oder gar das Weiße Haus in die Angelegenheit verwickelt waren. Das Weiße Haus reagierte prompt und negierte jede Beteiligung an diesem „drittklassigen Einbruch“, Richard Nixon selbst erklärte vor der Presse, dass weder er noch ein Mitarbeiter des Weißen Hauses oder seines Wahlkampfkomitees etwas mit der Angelegenheit zu tun hätten. Und damit begann der eigentliche Skandal, der sich in den kommenden Monaten mit unerbittlicher Konsequenz erst auf das Umfeld des Präsidenten und schließlich auch auf Nixon selbst zu bewegte. Aber vorher war noch Wahltag und der machte Nixon nervös trotz der sehr guten Prognosen für ihn.
Große politische Karriere
Er hatte bis dahin eine fulminante politische Karriere hingelegt, sie galt als Exempel für den amerikanischen Traum, den jeder sich erfüllen könne. 1913 im Süden Kaliforniens in einfachen Verhältnissen geboren, hatte er allen Schwierigkeiten zum Trotz einen atemberaubenden Aufstieg geschafft: sehr guter College-Abschluss, Jurastudium mit Auszeichnung und nach dem Zweiten Weltkrieg Kongress-Abgeordneter, Senator und schließlich US-Vizepräsident von Dwight D. Eisenhower. Nixon hatte sich wegen seines taktischen Geschicks in zahllosen Ausschuss-Sitzungen den Spitznamen „Tricky Dick“ erworben und galt Ende der 1950er Jahre als einer der einflussreichsten Politiker des Landes. Aber Nixon blieb skeptisch gegenüber jener bürokratischen Elite, die ihn zwar lobte, aber - wie er meinte – hintergehen würde, wenn es notwendig war. Der intelligente und extrem ehrgeizige Nixon sah 1960 am Ende der zweiten Amtszeit von Präsident Eisenhower seine Zeit gekommen und kandidierte trotz großer Bedenken seiner Partei bei den Präsidentschaftswahlen. Er unterlag denkbar knapp gegen John F. Kennedy und grollte mit den Medien, die ihn angeblich benachteiligt hätten und schimpfte auf das „Ostküstenestablishment“, das ihm mit schier unendlichen Geldströmen den Sieg „geklaut“ hätte.
Zwei Jahre später verlor er auch noch die Gouverneurswahlen in Kalifornien gegen den Demokraten Pat Brown und gab in seiner „letzten Pressekonferenz“ einen Einblick in sein offensichtlich verletztes Seelenleben: „Sie haben Nixon nicht mehr, um herumzutreten, denn, meine Herren, dies ist meine letzte Pressekonferenz.“ Aber das Chaos in seiner Partei, die mit dem reaktionären Barry Goldwater bei der Wahl 1964 gegen Lyndon B. Johnson eine verheerende Niederlage hatte einstecken müssen, und die durch blutige Rassenkonflikte und Anti-Vietnam Proteste erschütterte amerikanische Gesellschaft, brachten ihn in die Politik zurück. Nixon empfahl sich der Partei und den Wählern als „Mann der Stärke“, der Gesetz und Ordnung wieder herstellt und der schweigenden Mehrheit in den USA eine Stimme verleiht. Bei der anschließenden Wahl 1968 gewann Nixon knapp gegen Hubert Humphrey von den Demokraten. Er war am Ziel seiner Träume, entwickelte eine erfolgreiche Politik, setzte den von seinem Vorgänger begonnenen Abzug aus Vietnam fort, kurbelte die Wirtschaft an und drückte der amerikanischen Außenpolitik mit einem spektakulären Besuch beim ideologischen Feind Mao Zedong seinen Stempel auf.
Eine historische Wahl 1972
Nichts deutete darauf hin, dass diese Erfolgsgeschichte so jäh enden könnte. Aber im Inneren des Weißen Hauses herrschte ein barscher Kommandoton. Nixon war misstrauisch gegen alles und jeden und scharte Mitarbeiter um sich, die es im Zweifelsfall mit dem Gesetz nicht so ernst nahmen. Im Oval Office kursierten „Feindlisten“ von angeblich linken Aktivisten, die genauso wie politische Gegner oder missliebige Journalisten durch Sonderprüfungen der Steuerbehörden unter Druck gesetzt wurden. Derartige Machenschaften steigerten sich im Wahlkampf 1972, ob mit dem Wissen des Präsidenten oder gar auf seine Anordnung ist unklar. Die Präsidentschaftswahl jedenfalls endete am 7. November 1972 wie von allen Umfrageinstituten vorhergesagt: Von den 537 Wahlmänner konnte Richard Nixon 520 auf sich vereinigen. Ein historisches Ergebnis, das es davor und danach nicht gegeben hat. Aber die Geschichte holte den frisch gewählten Präsidenten bald ein, nachdem er mit seinem Stabschef „Bob“ Haldeman entschieden hatte, die Hintergründe und die Auftraggeber des Einbruchs in das Wahlkampfbüro der Demokraten zu vertuschen. Aber der Versuch schlug in dem Moment fehl, als die „Washington Post“ – Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein mit Hilfe eines anonymen Informanten aus dem Weißen Haus eine eindeutige Verbindung zwischen den Einbrechern und dem Umfeld Nixons nachweisen konnten. Kurz darauf gab James McCord vor Gericht zu, vom Weißen Haus Schweigegeld und die Zusage auf eine baldige Begnadigung bekommen zu haben. Nun bekamen auch die Mitarbeiter des Präsidenten kalte Füße, denn die fraglichen Delikte Strafvereitelung, Meineid sowie Anstiftung zu Straftaten wurden mit Gefängnis geahndet. Auch der Präsident reagierte, schmiss eine Reihe engster Mitarbeiter raus und präsentierte sich der Öffentlichkeit als Saubermann.
Der Absturz
Nach und nach zog sich die Schlinge um den Präsidenten immer mehr zu. Es stellte sich heraus, dass die Gespräche des Präsidenten im Oval Office mitgeschnitten wurden. Untersuchungsausschuss und Sonderermittler forderten die Herausgabe der Tonbänder, Nixon verweigerte das mit dem Hinweis auf persönliche und vertrauliche Inhalte und begründete das mit dem „Privileg der Exekutive“, mit dem auch einer seiner Nachfolger, Donald Trump, seine Beteiligung am Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 verschleiern wollte. Damit nicht genug, denn Nixon forderte die sofortige Entlassung des Sonderermittlers. Aber sowohl der Justizminister als auch dessen Stellvertreter weigerten sich und traten zurück. Der Präsident hatte die rote Linie überschritten und das Land in eine schwere Verfassungskrise gestürzt. Als auch noch Vizepräsident Spiro Agnew im Oktober 1973 wegen einer Bestechungsaffäre zurücktreten musste, war es um das Ansehen des Amtes und des Präsidenten geschehen: Das Weiße Haus schien ein Hort abgrundtiefer Korruption zu sein. Im April 1974 stellte ein Untersuchungsbericht fest, dass Richard Nixon eine halbe Million Steuerschulden hatte, was den Präsidenten noch weiter in die Defensive drängte. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, veröffentlichte das Weiße Haus schließlich eine teilweise zensierte, also unleserliche Abschrift der Tonbandmitschnitte. Aber der Supreme Court der USA ordnete am 24. Juli 1974 an, dass sämtliche Tonbänder einem Ausschuss des Repräsentantenhauses auszuhändigen seien.
Im Ausschuss gab es nach Anhören der Tonbänder eine klare Mehrheit für ein Impeachment gegen Richard Nixon wegen Strafvereitelung im Amt, Falschaussagen, Zeugenbestechung, Missbrauch von Bundesbehörden und Missachtung der verfassungsmäßigen Rechte des Kongresses. Wenige Tage später setzte Richard Nixon dem unwürdigen Spektakel selbst ein Ende, als er einen bis dahin zurückgehaltenen Mitschnitt veröffentlichen ließ, der ihn als Drahtzieher der Verschleierungsaktionen der vergangenen Jahre entlarvte. Und wieder legte er unfreiwillig Zeugnis von seinem seltsamen Umgang mit der Realität ab, indem er sagte, das veröffentlichte Gespräch belaste ihn gar nicht und überführe ihn auch nicht der Lüge oder irgendeiner anderen Straftat. Damit war auch bei seinen Parteifreunden das Maß voll, viele republikanische Abgeordneten ließen durchblicken, einem Impeachment zuzustimmen. Dem kam Richard Nixon allerdings durch seinen Rücktritt am 8. August 1974 zuvor.
Affäre mit Folgen
Aber auch das Ende der Affäre ist überschattet von einem Skandal, denn Nixon hatte vorher mit seinem Vizepräsidenten und Nachfolger Gerald Ford ausgehandelt, dass dieser ihn nach seinem Rücktritt umgehend amnestieren würde. Damit blieb der Privatmann Richard Nixon trotz schwerer Straftaten juristisch unbehelligt. Der Watergate-Skandal war sicher die schwerste innenpolitische Krise, die die USA bis dahin zu überstehen hatte. Sie war aber auch ein Warnsignal, denn ganz offensichtlich hatte sich im Weißen Haus eine kaum noch zu kontrollierende Macht angehäuft – und das nicht erst seit dem Amtsantritt Richard Nixons. Die allgegenwärtige Entscheidungskompetenz des Präsidenten in der Innen- wie in der Außenpolitik hatten die Machtbalance in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben. Nur so ist zu erklären, dass die Präsidenten Kennedy und Johnson öffentlich und ohne Konsequenzen über den Vietnamkrieg gelogen haben und nur so ist zu erklären, dass in den 1950 und 60er Jahren das FBI reihenweise Bürgerrechtler oder Kriegsgegner illegal überwacht und bespitzelt hat.
Aber das Machtzentrum Weißes Haus belog und hinterging die amerikanische Öffentlichkeit auch nach der Watergate-Affäre. Ronald Reagan handelte gesetzeswidrig, als er 1985 Einnahmen aus illegalen Waffengeschäften mit dem Iran an die rechtsgerichteten Rebellen in Nicaragua lenkte und damit nicht nur vorsätzlich Gesetze gebrochen, sondern Verbote des Kongresses missachtet und Beweismaterial vernichtet hat. Ähnliches gilt für George W. Bush, der unter falschen Voraussetzungen, die von vielen Beobachtern als glatte Lügen eingestuft wurden, gemeinsam mit Großbritannien in einen Vergeltungskrieg gegen den Irak zog, weil dort angeblich Massenvernichtungswaffen gehortet würden. Und schließlich soll es keinen Tag der Amtszeit von Donald Trump gegeben haben, an dem die amerikanische Öffentlichkeit nicht belogen wurde. Das sind nicht nur inneramerikanische Vorkommnisse, sondern Vorgänge, die Auswirkungen auf die Welt haben und Fragen aufwerfen: Kann man sicher sein, dass politische Aussagen und Handlungen der Schaltzentrale der westlichen Demokratien dem Ideal der Wahrheit verpflichtet sind. Kann man den führenden Personen im Weißen Haus trauen oder sind sie bereit, Sachverhalte so zu verändern, dass sie in ihre politische Agenda passt. Jedenfalls hat das Vertrauen in die westliche Führungsmacht schweren Schaden genommen, was den Nährboden für krude Verschwörungs- und Weltuntergangstheorien bereitet. Je mehr das Vertrauen in die politischen Entscheidungsinstanzen schwindet, desto schwächer werden die Demokratien und desto stärken werden rechtsgerichtete Populisten, die versprechen, alles besser zu machen.
blog | mai 2022 | moskau - das dritte rom
Moskau – das dritte Rom
Russland und natürlich Moskau sind in der Vorstellungswelt des Wladimir Putin der Hort einer besseren Welt. Frei von Verschmutzung und Sünde ist Russland der Garant für ein Gott gewolltes Leben und gleichzeitig Schutzwall vor westlicher Dekadenz. Bei dieser Weltsicht stützt sich der russische Präsident zum einen auf eine uralte christliche Vorstellung aus dem Buch Daniel Kap. 2 und 7. Dort findet sich die Prophezeiung vom Weltuntergang, wenn das „vierte Weltreich“ - das christliche Imperium Romanum – untergehe. Um das zu verhindern, muss Rom am Leben bleiben. Zum anderen bezieht sich Wladimir Putin auf einen Ideologen namens Iwan Iljin. Jener Iljin lebte von 1883 bis 1954 und war ein slawophiler Faschist, der mit seinen kruden Ideen die Welt in Gut und Böse, in ein Russlandfreundliches und ein Russlandfeindliches Lager einteilte. Iljin war Gegner der Bolschewiki, wurde trotzdem von den Nationalsozialisten geächtet und in der UdSSR von der Zensur unterdrückt. Das postkommunistische Russland rehabilitierte ihn und ließ seinen Leichnam 2005 in einer großen Feierlichkeit nach Moskau überführen, wo er im Donskoi-Kloster ein zweites Mal beigesetzt wurde.
Russland – Bollwerk gegen den Teufel
Iwan Iljin hat in seinen Schriften Russland die Rolle zugeschrieben, gegen den vom Westen gesteuerten Teufel das Bollwerk des „unbefleckten Wesenskerns“ zu sein. In diesem Sinne sei Russland kein normaler Staat, sondern eine „lebendige organische Einheit“, die von einem starken Mann regiert wird: „Macht kommt von ganz allein zum starken Mann.“[1] Jener starke Mann – heute zweifellos Wladimir Putin – sei in der Lage, Russland vor der Welt des Teufels zu bewahren, die widernatürliche Trennung der russischen Völker zu überwinden und die „organische Einheit“ von Russen („Großrussen“), Ukrainern („Kleinrussen“) und Weißrussen („Belarussen“) wieder herzustellen. Bei diesem Prozess, den Iljin angesichts der Oktoberrevolution, des stalinistischen Terrors und schließlich des Zweiten Weltkriegs formuliert hat, kann Russland keine Demokratie (im westlichen Sinn) sein. Ganz im Gegenteil: Für Russland komme nur eine autokratische, teilweise diktatorische Regierungsform in Betracht. Das würde nicht nur erklären, warum Wladimir Putin eben kein „lupenreiner Demokrat“ – wie es Ex-Kanzler Gerhard Schröder behauptet hat – sein kann und will. Es lässt auch die ungebrochene – oder wieder entstandene – Popularität Stalins in einem anderen Licht erscheinen.
Und Wladimir Putin hat offensichtlich im ideologischen Reservoir von Iljin hemmungslos gestöbert und sich daraus eine eigene Ideologie zusammengebastelt, die von außen nicht zu beeinflussen ist. Iljin propagierte die „Männlichkeit Russlands“. Putin lässt kaum eine Gelegenheit aus, sich als genau das zu zeigen: mit freiem Oberkörper auf dem Rücken eines Pferdes, beim Eishockey spielen, in der Muckibude oder beim Angeln in wilden Gewässern. Iljin verdammt Homosexualität als vom Westen gesteuerte Bedrohung Russlands, Putin wettert gegen die „Homodiktatur“ und lässt Demonstranten einsperren, die für gleiche Rechte aller Menschen eintreten. Ähnlich rigide ist Putins Ablehnung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit. Für den russischen Präsidenten ist Rechtstaatlichkeit Teil einer Russland einlullenden westlichen Dekadenz und keineswegs universales Bestreben, das Zusammenleben der Menschen gerechter zu machen.
Iljin als Handreichung
Die Wiederauferstehung des Ideologen Iljin hat konkrete Auswirkungen auf den Krieg gegen die Ukraine, die nach Auffassung Putins eine russische Kreation ist: „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann. Unsere Verwandtschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie lebt in den Herzen und im Gedächtnis der Menschen im heutigen Russland und in der Ukraine, in Gestalt der Blutsbande, die Millionen unserer Familien verbinden. Gemeinsam waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließlich sind wir ein Volk.“ Abgesehen von der bedenklichen Verwendung der „Blutsbande“ zur Herleitung einer genetisch bedingten (!) Gemeinsamkeit aller Russen legt der russische Herrscher damit fest, dass eine ukrainische Unabhängigkeit nur darin bestehen kann, gemeinsam mit Russland unabhängig von westlichen Einflüssen zu bleiben. Deswegen besteht die eigentliche Gefahr für Putins Russland nur vordergründig in der nach Osten erweiterten NATO. Die wahre Gefährdung sieht er in der „Verwestlichung“ der ukrainischen Bevölkerung, die im Begriff ist, auch auf das (jüngere) russische Volk überzuspringen.
Auf dieser Grundlage basiert das Handeln des russischen Präsidenten. Lüge und Krieg ersetzen jede Moral, weil es darum geht, Russland und den guten Teil Welt zu retten. Jedes Mittel ist recht, weil Russland seit jeher vom Bösen bedroht ist. Der Hort des Bösen ist der Westen nicht nur weil „seine“ NATO gen Osten rückt, sondern weil er absichtsvoll Verlockungen an die russischen Menschen sendet, um sie vom Wahren und Schönen abzubringen. Da Russland sich seit Menschengedenken im Kampf der Welt Gottes gegen die Welt des Teufels befindet, reicht allein die Existenz des Westens, um aus Putins Sicht eine Gegnerschaft zu definieren. All das funktioniert in Russland, weil Wladimir Putin nicht nur ein gewählter Präsident ist, sondern der Erlöser, der starke Führer, der Russland befreit und die Reinheit des Landes gegenüber dem verkommenen Westen bewahrt.
Abwehr einer immerwährenden Bedrohung
Russland fühlt sich durch den freien Westen bedroht. Sie wollen uns vernichten, lässt Ministerpräsident Medwedew verkünden und fügt hinzu, dass man sich mit einem „lauten Knall“ verabschieden werde, wenn das gelänge. Die staatliche Propaganda spricht täglich von der russischen Unschuld, der Zersetzung russischer Werte durch westliche Dekadenz und von einem unabdingbaren Kampf gegen diese westliche Bedrohung. Wahrscheinlich steckt dahinter die berechtigte Angst, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung lieber in der dekadenten, aber freien und offenen westlichen Gesellschaft leben würde, als in der von staatlichen Massenmedien gelenkten Unfreiheit. Das heutige Russland und das Deutsche Reich der 1920er Jahre gleichen sich fast wie ein Ei dem anderen (siehe Blogeintrag April 2022). Damals – der jüdische Bolschewismus - wie heute – der aggressive, dekadente Westen - diente eine imaginäre äußere Bedrohung zur Begründung einer Politik, die den eigenen Untergang einkalkulierte und zumindest im Falle Deutschlands 1945 auch auslöste.
Nach 1933 wurde in Deutschland zuerst die politische, dann die gesellschaftliche und schließlich die „genetisch bedingte“ (!) Opposition fertig gemacht. Gleichzeitig wurde alles, was nicht nationalsozialistisch war, gleichgeschaltet. Dann wurde das Land mit einer immer gleichen Propaganda überzogen: Gegen den Versailler Vertrag, gegen die Juden, gegen die Bolschewisten, für ein neues Germania usw. Nicht anders in Putins Russlands: jedwede Opposition ist außer Landes oder hinter Gittern, gegen das Minsker Abkommen, gegen den Westen und für eine neue Kiewer Rus, in der alle Russen unter der Führung Moskaus leben. Auf dem Weg dahin haben beide Diktatoren die Demokratie im eigenen Land zerstört. Sie haben den Weg für jene Menschen versperrt, die einen Blick über den eigenen Tellerrand wagen und mit neuen Ideen zurückkehren wollten. Beide „Führer“ haben ihr Land zerstört und für Jahre diskreditiert.
Religion und Macht
Dem Journalisten und Historiker Joachim Fest ist die Erkenntnis zu verdanken[2], wie stark die Propaganda Hitlers und seiner Paladine von kirchlichen oder sakralen Elementen durchzogen war. Hitler fügte zur Bekräftigung öfters ein „Amen“ an den Schluss einer Rede an und als Propagandaminister Joseph Goebbels die furchtbare Rede über den „totalen Krieg“ am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast hielt, war der Innenraum von einem riesigen weißen Kreuz geprägt[3]. Derartige Anspielungen finden sich auch bei Wladimir Putin, allerdings gehen sie auf eine längere Geschichte zurück. Sie beginnt mit der Reichsteilung des Imperium Romanum im Jahr 395.
In jenem Jahr starb Kaiser Theodosius I., sein Nachfolger wurde sein Sohn Flavius Honorius. Aber er regierte nur im Westen des Reichs mit der Zentrale in Rom, während im Osten der andere Sohn, Arcadius, mit dem Zentrale Konstantinopel herrschte. Diese Zweiteilung war wegen der Größe des Reichs und der ständig steigenden Bedrohungen an den Grenzen notwendig geworden. Kurz vorher war das Christentum per Dekret zur vorherrschenden Religion im eigentlich heidnischen Römischen Reich gemacht worden. Das Zentrum der Christenheit war – neben Jerusalem natürlich - Rom, das allerdings 476 von einem germanischen Söldner namens Odoaker eingenommen wurde. Damit war das weströmische Reich untergegangen und der neue italienische König Odoaker übersandte die Insignien der kaiserlichen Macht nach Konstantinopel. Der dortige Patriarch und oströmischer Kaiser nahm diese Unterwerfung dankend an. Damit war das „erste Rom“ untergegangen und gleichzeitig das „zweite Rom“ in Konstantinopel auferstanden.
Das „dritte Rom“
Fortan war Konstantinopel die Bastion der – orthodoxen – Christenheit. Der Patriarch von Konstantinopel war mächtig, befand sich aber nach der „muslimischen Expansion“ im 8. Jahrhundert mehr und mehr in Bedrängnis. Dieser Zustand verschlechterte sich dramatisch, als es muslimischen Herrschern gelang, immer näher an Konstantinopel und die Heimstatt der abendländischen Christenheit heranzurücken. Angesichts dieser Bedrohung setzten westliche Herrscher wie Karl der Große oder Otto I. darauf, gemäß der Bibel, das „vierte Großreich“ vor dem Untergang zu bewahren, weil das - der Bibel folgend - das „Ende der Welt“ bedeuten würde. Sie nannten es „Translatio imperii“ („Übertragung des Reichs“) und später „Restauration Imperii“ („Wiederherstellung des Reichs“). Damit sollte das Römische Reich vor dem Untergang gerettet, auf den Schultern westlicher Herrscher weiter getragen und die Welt vor ihrem Ende bewahrt werden. Bis 1453 war diese christliche Welt in Ordnung, weil das oströmische Reich – das „zweite Rom“ mit Sitz in Konstantinopel – allen Anfeindungen standgehalten und muslimische Angriffe abgewehrt hatte.
Aber Sultan Mehmed II. gelang 1453 die Einnahme der christlichen Metropole am Marmarameer, was nicht nur das Ende Konstantinopels (und den Beginn Istanbuls), sondern auch das Ende des „zweiten Roms“ bedeutete. Und nebenbei bemerkt: Der muslimische Eroberer Konstantinopels, Mehmet II., stellte sich ebenfalls in das eschatologische Konzept der Bibel, nannte sich „Kaiser der Römer“ und wollte so die Ankunft der zerstörerischen Antichristen, der das Ende der Welt bedeutet hätte, verhindern. Den meisten Einwohnern Konstantinopels dürfte das egal gewesen sein. Viele packten ihre Sachen und flohen nach Europa, unter ihnen auch die Nichte des letzten oströmischen Patriarchen Konstantin XI., der bei der Einnahme der Stadt ums Leben gekommen war. Jene Zoe Palaiologa heiratete im November 1472 den Großfürsten von Moskau Iwan III., wodurch im Laufe der Zeit Moskau zur neuen Hüterin des orthodoxen christlichen Glaubens wurde – das „dritte Rom“. Heute versteht sich Putins Moskau als Diener Gottes, dessen „Jugendsünde“ korrigiert werden müssen. Bei Putins geistigem Mentor Iljin liest sich das so: „Am Anfang war das Wort, Reinheit und Vollkommenheit, und das Wort war Gott. Doch dann beging Gott eine Jugendsünde. Er schuf die Welt, um sich zu vervollkommnen, beschmutzte sich stattdessen jedoch selbst und verbarg sich in Scham. Die Ursünde wurde von Gott, nicht von Adam begangen: die Freisetzung des Unvollkommenen. Sobald die Menschen in der Welt waren, nahmen sie Tatsachen wahr und erlebten Gefühle, die sich nicht mit dem vereinbaren ließen, was Gott im Sinn gehabt hatte. Jeder einzelne Gedanke und jede einzelne Leidenschaft verstärkten den Zugriff des Teufels auf die Welt.“
Dagegen ist keine Argumentation gut genug, um eine Umkehr zu bewirken, weil Wladimir Putin offenbar der Meinung ist, ein Dialog mit dem Westen gleiche einer Unterhaltung mit dem Teufel.
[1] Michael Rasche Blog: Putin – ein Ausflug in sein Denken vom März 2022 [2] Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 1973 [3] https://www.zdf.de/dokumentation/momente-der-geschichte/goebbels- fordert-den-totalen-krieg-102.html
blog | april 2022 | "peace for our time"
Peace for our time “
Mit diesem Satz beruhigte am 30. September 1938 der britische Premierminister Neville Chamberlain seine Landsleute. Er hatte zuvor in München mit Adolf Hitler, Benito Mussolini und dem französischen Ministerpräsidenten Eduard Daladier ein Abkommen unterzeichnet, das die Zerstückelung der Tschechoslowakei besiegelte. Damit sei die „letzte territoriale Forderung“ Deutschlands erfüllt, hieß es aus der Berliner Reichskanzlei. Aber nur etwas mehr als fünf Monate später zerplatzte die Idee „des Friedens für unsere Zeit“. Hitler ließ mit dem Einmarsch in Prag am 15. März 1939 die so genannte „Resttschechei“ zerschlagen. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg hatte begonnen.
Man sollte mit historischen Analogien sehr vorsichtig sein. Sie taugen nicht als Blaupause für aktuelle Themen. Aber gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und Russland nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1991 drängen sich auf. Mit dem Abkommen von München sollte Deutschland befriedet werden, das Minsker Abkommen von 2015 erfüllte einerseits territoriale Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Andererseits aber lebte die Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Konflikts gerade mal drei Tage. Dann eroberten russlandtreue Kämpfer Debalzewe in der Ostukraine und eröffneten einen langen, zermürbenden Kampf mit ukrainischen Regierungstruppen. Sowohl 1938 in München, als auch 2015 in Minsk hat mindestens einer der Unterzeichner nicht vorgehabt, sich an die Vereinbarung zu halten.
Vom Hegemon zum Paria
Es drängen sich weitere Parallelen sowohl zwischen Hitler und Putin als auch zwischen der Art und Weise, wie ein Konflikt erst ausgelöst und dann „begründet“ wurde. Kaum war 1919 der Versailler Vertrag unterschrieben, ging ein Aufschrei der Empörung durch die deutsche Gesellschaft. Die große Mehrheit empfand die deutsche Alleinschuld am Beginn des Ersten Weltkriegs nicht einfach nur ungerecht, sondern als einen Anschlag auf das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen. Eben noch europäischer Hegemon wurden sie mit ein paar Unterschriften zum Paria des Kontinents – und eigentlich auch der ganzen Welt. Gleichzeitig demoralisierte die „Dolchstoßlegende“ Geist und Seelen der Deutschen. Eine „im Felde unbesiegte“ Armee sei an der mangelnden Unterstützung durch die von Juden und Sozialdemokraten unterminierte Heimat gescheitert und nicht an der Übermacht der Feinde. Die Wirkung war verheerend, weil sie den Republikfeinden jede Menge Argumente für ihre Rhetorik gegen die Weimarer Republik und die europäische Friedensordnung an die Hand gab. Und das Gebrüll von Hitler und Konsorten verfing. Die Ablehnung des Versailler Vertrags, der Wunsch nach Revision der Gebietsabtretungen und der Schwur, Rache zu nehmen, einte viele Deutsche mit der braunen Partei der Nazis.
Kaum anders in Russland. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ zwischen 1941 und 1945 hatte die Rote Armee wesentlichen Anteil daran, die Sowjetunion und das restliche Europa von der Plage des Faschismus zu befreien. Stalin hatte den Menschen in der Sowjetunion 1945 einen – wie sie meinten – gerechten Teil an der Beute gesichert und ihr Land zur atomaren Weltmacht geführt. Ihre politischen Führer agierten mit den USA auf Augenhöhe, waren im Kalten Krieg gefürchtet, weil die UdSSR – auch atomar - hochgerüstet war. Dann folgte Ende der 80er Jahre der Absturz, weil die militärische Hochrüstung und ein ineffizientes Wirtschaftssystem das Land in den Ruin geführt hatten. Es dauerte nur wenige Jahre, da stellte sich bei vielen Russen das Gefühl ein, das die Deutschen in den 20er Jahren auch hatten: eben noch europäischer Hegemon und nun „Regionalmacht“, wie es der amerikanische Präsident Barack Obama leichtfertigt behauptete. Und es stellten sich auch ähnliche Reaktionen ein.
Wladimir Putin spricht seit Jahren davon, dass nicht etwa der Zweite Weltkrieg samt Holocaust, sondern der Untergang der Sowjetunion die „größte Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Er beklagt den Verlust der vielen Teilrepubliken, hat überall dort militärisch interveniert, wo er glaubte, alte Sowjetzeiten wieder implementieren zu können: 1999 in Tschetschenien mit der Zerstörung Grosnys, zehn Jahre später in Georgien und nun seit 2014 in der Ukraine. Die NS-Propagandisten hatten sich für diese Art Repatriierungspolitik den Begriff „Heim ins Reich“ ausgedacht: Saarland 1935, Österreich 1936, das Sudetenland 1938. In Deutschland wie in Russland wurden entweder mit brachialer Gewalt oder unter Androhung militärischer Interventionen die Ergebnisse historischer Entwicklungen erst nicht akzeptiert und dann ins Gegenteil verkehrt. In beiden Fällen war das aber nur der Anfang. Hitlers Zusage, dass mit der Annexion des Sudetenlandes 1938 alle territorialen Forderungen erfüllt seien, und die Ankündigung Putins „nur“ den Donbass und die Krim annektieren zu wollen, sind Nebelkerzen zur Verschleierung der wahren Absichten.
„Rettung“ von Minderheiten
Zudem ist der Zynismus erschreckend, mit dem die Invasionen damals und heute „begründet“ werden. Die Deutschen reklamierten, „deutsche Minderheiten“ schützen und heimholen zu müssen. Bei Wladimir Putin sind es russische Minderheiten, die im Donbass, auf der Krim oder in Georgien zu beschützen seien. Damit rechtfertigten damals deutsche, heute russische Militärs die Bombardierung ziviler Ziele, den Tod Tausender Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur eines Landes. All das basiert auf Lügen und einer gezielten Propaganda, die an Menschenverachtung nicht zu überbieten ist. In der Nacht des 31. August 1939 kaperten einige als polnische Soldaten verkleidete SS-Männer den Radiosender Gleiwitz. Am nächsten Morgen verkündete Hitler im Deutschen Reichstag, dass Polen „heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen“ habe, nun werde „Bombe mit Bombe vergolten.“ Einige Tage zuvor hatte er im Kreis der Oberbefehlshaber der Wehrmacht gesagt: „Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht.“
Nach diesem Muster geht auch der ehemalige KGB-Agent Putin vor, wenn er behauptet, dass die russische Minderheit in der Ukraine „Misshandlung und Genozid“ ausgesetzt sei. Deswegen müsse die Ukraine einer Entmilitarisierung und Entnazifizierung unterzogen werden: „Wir werden diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.“ Leicht durchschaubare Lügen, mit denen der Versuch bemäntelt wird, die europäische Ordnung auf den Kopf zu stellen, die sich nach dem Ende des sozialistischen Ostblocks 1991 entwickelt hat. Nichts anderes hatte Hitler mit der europäischen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg vor: Der Kontinent sollte vom Deutschen Reich beherrscht, ausgebeutet und versklavt werden. Putin strebt nach einer Arrondierung der russischen Föderation, bis sie wieder jene Teilrepubliken entweder besitzt oder politisch beherrscht, die sich nach dem Ende der Sowjetunion für einen eigenständigen Weg entschieden haben.
Ausschalten der Opposition
Damit er das in die Tat umsetzen kann, hat er über Jahrzehnte die russische Opposition zum Schweigen gebracht: Mord im In- und Ausland, obszöne politische Prozesse mit langen Haftstrafen und das Verbot von Menschenrechtsorganisationen waren die probaten Mittel auf dem Weg der Gleichschaltung der russischen Gesellschaft. Heute ist die russische Opposition ohne Organisationsmöglichkeit und trotzdem ist sie immer wieder zu hören. Das Ausschalten der Opposition gehört zu den ersten Aktionen einer jeden Diktatur. Das war in Deutschland nicht anders. Mit dem Tag der Machtübertragung an Hitler und die NSDAP am 30. Januar 1933 begann die gnadenlose Verfolgung von Oppositionellen. Zigtausend Menschen verschwanden hinter Zuchthausmauern oder in Konzentrationslagern. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, Zeitungen und Organisationen wurden „gleichgeschaltet“ oder verboten. Die Eliminierung von „missliebigen Elementen“ war und ist die Voraussetzung, das eigene Volk belügen und in einen Krieg führen zu können, der damals „Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus“ genannt wurde und heute „Militärischer Spezialeinsatz“ heißt.
Von dem Versuch, die europäische Ordnung umzustürzen hat sich Hitler ebenso wenig durch Verträge oder Verhandlungen abhalten lassen, wie Putin durch das Abkommen von Minsk oder durch wirtschaftliche Sanktionen, die seinem Land anhaltenden schweren Schaden zufügen. Beide haben einen Weg eingeschlagen, von dem sie nicht mehr abzubringen waren und sind. Je weiter sie diesen Weg gehen, desto mehr schotten sie sich ab. Hitler war die letzten Monate eine zitternde, blasse Gestalt, kaum noch Herr seiner Sinne und seines Körpers. Am Schluss wollte er „verbrannte Erde“ in Deutschland und damit vollständiges Chaos in der Mitte Europas hinterlassen. Putin droht in ähnlicher Absicht mit dem Einsatz von Atomwaffen und schottet sich ebenfalls immer mehr ab. Der russische Präsident ist umgeben von Jasagern und Angsthasen, die Geheimdienst und Arbeitslager fürchten. Er ist beratungsresistent und gefällt sich in der Rolle des besserwissenden Historikers, der ausländische Staatsgäste mit seiner Sicht der geschichtlichen Abläufe langweilt. Auch das hat er mit Hitler gemeinsam, dessen ausufernde Monologe bekannt und gefürchtet waren.
blog | märz 2022 | der umgang mit den "brown Babies"
Die „Brown Babies“ oder die „Kinder der Befreiung“
Es war die CDU-Bundestagsabgeordnete Luise Rehling, die am 12. März 1952 ihre Stimme für die so genannten „Brown Babies“ erhob. Diese „Negermischlinge“, wie sie im Sprech der frühen 1950er Jahre formulierte, würden ein „menschliches und rassisches Problem besonderer Art darstellen.“ Was zunächst wie eine rassistisch motivierte Rede gegen die Kinder schwarzer amerikanischer Besatzungssoldaten und weißer deutscher Frauen anmutete, endete in einem Appell, der für die Nachkriegszeit nicht selbstverständlich war. Man solle den Kindern, so Luise Rehling, „nicht nur die gesetzliche, sondern auch die menschliche Gleichberechtigung“ gewähren und könne damit einen „Teil der Schuld abtragen, die der Nationalsozialismus durch seinen Rassendünkel auf das deutsche Volk geladen hat.“(1)
Luise Rehling ist 1896 in Bochum zur Welt gekommen und in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen. Dort erhielt sie einen ihr ganzes Leben prägenden Einfluss. Ihr Ehemann, den sie im Hause des evangelischen Theologen Martin Niemöller kennengelernt und 1925 geheiratet hat, war ebenfalls Pfarrer. Beide gehörten während der NS-Zeit zu den aktiven Mitgliedern der Bekennenden Kirche, was zu entsprechenden Konflikten mit den braunen Machthabern führte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Luise und Kurt Rehling an der Gründung der CDU in Hagen beteiligt. Luise Rehling war erst Abgeordnete im Hagener Stadtrat und dann im deutschen Bundestag. Luise Rehling verteidigte ihr Direktmandat 1953 und 1957, 1961 gelang der Einzug in den Bundestag über die NRW-Landesliste, anschließend war sie kurzzeitig stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion. Mit dieser Bilderbuchlaufbahn gehörte Luise Rehling zu den wenigen Frauen, denen in den frühen Jahren der Bundesrepublik eine politische Karriere gelang. Ihr Aufruf zu „menschlicher Gleichberechtigung“ für die Kinder der Besatzungssoldaten war dagegen erfolglos.
Rassistische Nachkriegsgesellschaft
Erbarmungslos rassistisch und menschenverachtend zog die überwiegende Mehrheit der Deutschen über die „Negerkinder“ her. Ihre Mütter waren „Ami-Huren“ und Schlimmeres. Die Frage nach den Zukunftsaussichten dieser Kinder war mehr als scheinheilig. Müttern, die ihre Kinder nicht freiwillig zur Adoption freigeben wollten, schlug Fassungslosigkeit und blanker Hass entgegen. Mehrere Tausend Kinder sind in den Jahren nach Kriegsende in der Bundesrepublik zur Welt gekommen, die eine deutsche Mutter und einen afro-amerikanischen Vater hatten. Ihrem Schicksal standen aber nicht nur die Deutschen teilnahmslos gegenüber, sondern auch die amerikanische Militärverwaltung. Zunächst galt ein striktes Fraternisierungsverbot für die amerikanischen Soldaten. In Schulungsfilmen wurden sie vor den Deutschen gewarnt, die zwar freundlich täten, aber eigentlich Monster seien, die den Holocaust ins Werk gesetzt hätten. Besondere Bedrohung ginge von den Frauen aus, die sich an die GIs „ranschmeißen“ würden, um ihren kargen Lebensunterhalt aufzubessern. Aber schon nach fünf Monaten zog die Militärverwaltung das Verbot zurück, weil es ohne jede Wirkung geblieben war. Und das lag keineswegs nur an den deutschen Frauen.
Denn in den Vereinigten Staaten hatten die schwarzen GIs Rassendiskriminierung erlebt, obwohl die Sklaverei schon lange abgeschafft war. Aber die Realität – vor allem in einigen Südstaaten – glich dem eines Apartheitsstaates. Es wurden nicht nur Schwarze und Weiße sorgsam voneinander getrennt, sondern die schwarze Bevölkerung auch von Rechten ferngehalten, die für Weiße ganz selbstverständlich galten. Für die schwarzen GIs war das Nachkriegsdeutschland deshalb ein Paradies. Zum ersten Mal durften sie ungehindert in Nachtclubs, Bars und Tanzcafés ein und ausgehen. Dort konnten sie weiße Frauen treffen, die in ihrer Heimat einen großen Bogen um sie gemacht hätten. Dabei lernten sie deutsche Frauen und Mädchen kennen, deren Männer oder Freunde im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft geraten waren. Viele von ihnen waren begeistert von den jungen Afro-Amerikanern und hofften auf eine gemeinsame Zukunft in den USA.
Im Stich lassen oder Abtreibung
Aber dagegen hatten die meisten GIs und vor allem die amerikanische Militärverwaltung etwas einzuwenden. Viele Soldaten wurden versetzt und so von ihren deutschen Freundinnen getrennt. Außerdem wurden die Soldaten aufgefordert, die Frauen zu einer Abtreibung zu überreden oder sie einfach im Stich zu lassen. Damit wurden die jungen Frauen ein Fall für die Jugendämter, die den Müttern die Erziehungsfähigkeit absprachen und als gesetzliche Vormünder in Erscheinung traten. Und damit begann das Martyrium für die Kinder und ihre Mütter, denn die Jugendämter wollten die Kinder erst in spezielle „Heime für Mischlingskinder“ stecken, um sie dann zur Adoption frei zu bekommen. Dazu mussten die leiblichen Mütter ihr Einverständnis geben. Das aber gab es in den seltensten Fällen freiwillig. Im Gegenteil: Jugendämter, amerikanische Militärverwaltung und das gesellschaftliche Umfeld setzten die Frauen unter Druck. Die „Negerkinder“ hätten keine Zukunft in Deutschland, könnten auf keine normale Schule gehen, wären intellektuell dazu auch nicht in der Lage und schließlich würden sie auch keinen „anständigen“ Beruf ausüben können, weil sie ja „nicht richtig lernen“ könnten. Die in dieser Weise zermürbten jungen Frauen stimmten dann irgendwann einer Adoption zu und sahen ihre Kinder nie wieder.
Denn sobald die Unterschrift der Mutter unter der Freigabe zu einer anonymen Adoption stand, hatten sie alle Rechte aufgegeben. Ihre Kinder verschwanden für immer in die USA, in Australien oder einigen skandinavischen Ländern. Dort kamen sie in Familien, die sich aufopfernd um die Kinder kümmerten und großgezogen. Viele von ihnen konnten studieren, lukrative Berufe ergreifen und eigene Familien gründen. Aber die adoptierten Kinder litten zeitlebens darunter, nicht zu wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind. Das lag nicht an einer Verweigerungshaltung ihrer Adoptiveltern, sondern an der Tatsache, dass vielfach in den Adoptionspapieren ihre Namen verändert und gefälscht worden waren. Die Suche nach Vater und Mutter war damit massiv erschwert und in vielen Fällen unmöglich geworden. Mit der endgültigen Löschung ihres richtigen Namens war nicht nur ein Verbrechen an den Kindern, sondern auch an ihren Müttern begangen worden. Einige Hundert Fälle sind bekannt, in denen beide Seiten erfolglos gesucht haben – oft ein Leben lang.
Alle Menschen sind gleich
Mehr als 60 Jahre nach der Rede von Luise Rehling im Deutschen Bundestag, die allein deshalb schon ein Andenken verdient, weil sie eine menschliche Wahrheit formuliert hat, die Jahrzehnte später – endlich - auch in Deutschland gelebte Realität geworden ist: Alle Menschen sind gleich, alle Menschen verdienen den Respekt der Gesellschaft und die Chance auf individuelle Entwicklungsmöglichkeit. Und diese Wahrheit gilt für alle Menschen – unabhängig von Hautfarbe, Religion und ethnischer Herkunft. Das ist im ersten Satz des Grundgesetzes mit der schlichten Formulierung festgehalten, dass die „Würde des Menschen unantastbar“ ist. Unantastbar waren auch damals schon das Leben und die Würde der „Kinder der Befreiung“[2]. Es waren die Kinder jener Soldaten, die Deutschland vom Nationalsozialismus befreit haben. Ihnen hätte die deutsche Gesellschaft mit Respekt und Anstand gegenübertreten müssen, anstatt sie zu missachten und auszugrenzen.
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(1) Nachzulesen ist die Rede in den Stenographischen Berichten der Verhandlungen des Deutschen Bundestags der 1. Legislaturperiode, Bd. 10. 198. Sitzung am 12. März 1952, Punkt 10 der Tagesordnung, S. 8505 ff.
(2) So der Titel des Buchs von Marion Kraft: Kinder der Befreiung. Transatlantische Erfahrungen und Perspektiven Schwarzer Deutscher der Nachkriegsgeneration. Münster 2015
blog | Februar 2022 | Der radikalenerlass von 1972
Der Radikalenerlass von 1972
Eigentlich beginnt die Geschichte des sozial-liberalen Radikalenerlasses, der am 28. Februar 1972 von den Bundes- und Landesregierungen verabschiedet wurde, schon Anfang der 1950er Jahre. Die Bundesrepublik Deutschland war nach dem Willen der drei westlichen Alliierten am 23. Mai 1949 gegründet worden. Der junge Staat sollte zu einem prosperierenden Schaufenster der kapitalistischen Welt des Westens werden. An der Nahtstelle zum sozialistischen Osten entstand dann auch ein kapitalistischer Musterstaat, der mit Wohlstand und einer Erzählung vom „goldenen Westen“ Menschen in Osteuropa anlocken und zum Seitenwechsel anregen sollte.
Bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 hatten sich zwar die bürgerlich-konservativen Parteien durchgesetzt und Konrad Adenauer zum Kanzler gewählt, aber einen faden Beigeschmack hatte das Wahlergebnis doch: am linken Rand hatte die KPD mit 5,7 Prozent den Einzug in den Bundestag geschafft und die „Deutsche Konservative Partei“ (DKP) war am rechten Rand zwar mit mageren 1,8 Prozent gescheitert. Aber kurz nach der Wahl spaltete sich der radikale Flügel der DKP ab und gründete die neonazistische Organisation „Sozialistische Reichspartei“ (SRP). Somit schien es, als sei die „freiheitlich-demokratische“ Ordnung der noch jungen Bundesrepublik durch Feinde von links und rechts existenziell bedroht.
Und nicht nur das: Die Alliierten wachten mit Argusaugen darüber, dass der westdeutsche „Frontstaat“ im Kalten Krieg auf Linie blieb und seine politischen Ränder sauber hielt. Deshalb verabschiedete die Regierung Adenauer am 19. September 1950 einen Erlass, mit dem die Verfassungstreue von Personen und Organisationen überprüft werden sollte. Wer als Beamter, Angestellter oder Arbeiter in den öffentlichen Dienst wollte, durfte keine „Organisationen oder Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Staatsordnung“ unterstützen. Der Erlass zählte anschließend 13 Verbände, Parteien und Organisationen auf, bei denen eine Mitgliedschaft oder auch eine Unterstützung als „unvereinbar mit den Dienstpflichten“ erklärt wurden. Eine derart schwammige und juristisch kaum verifizierbare Umschreibung eines Sachverhalts hat ebenso Kritik hervorgerufen wie die Tatsache, dass nur auf formale Mitgliedschaften und nicht auf persönliche Aktivitäten der Beamtenanwärter abgehoben wurde.
Unabhängig davon wurde 1952 die SRP verboten und vier Jahre später die KPD. Vor allem das Verbotsverfahren gegen die KPD stand auf wackligen Füßen und wurde erst nach massiven Interventionen des Bundeskanzleramtes regelrecht durchgezogen. Zumindest in der Außendarstellung konnte die Bundesregierung dadurch gegenüber den Westalliierten punkten und sich als treuer Vasall der westlichen Werteordnung empfehlen. Tatsächlich entwickelte sich die Bundesrepublik im Westen genau wie die Deutsche Demokratische Republik im Osten zum Musterbeispiel eines kapitalistischen bzw. sozialistischen Staates. Während im Osten seit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 der interne Protest verstummte, wurde er im Westen immer lauter. In den 1960er und 1970er Jahren beherrschte der Studentenprotest gegen den Vietnamkrieg, gegen die ausbeuterischen Systeme im damaligen Persien oder auch in den USA und gegen die im konservativen „Weiter so!“ erstickte Bundesrepublik die Schlagzeilen der Nachrichten. Vor allem die Springer-Presse berichtete in ihren Massenblättern nicht nur täglich über die „aufmüpfige“ Jugend, sondern dramatisierte ihren Protest auch noch.
1969 wurde eine kleine Koalition aus SPD und FDP gebildet, deren Schwerpunkt neben der Ostpolitik auf der Liberalisierung von Justiz und Bildung lag. Neue Bildungswege und neue Möglichkeiten, ein Studium zu beginnen, öffneten Millionen junger Menschen den Weg über die Universitäten in den öffentlichen Dienst. Anfang der 1970er Jahren bestanden die Abschlussjahrgänge der Universitäten aber zu einem großen Teil aus genau jenen Studentinnen und Studenten, die gegen den Krieg in Vietnam oder die Rassendiskriminierung in den USA demonstriert hatten. Aus diesem Kreis hatten sich einige für den bewaffneten Kampf gegen das System entschieden, andere folgten dem Aufruf von Rudi Dutschke, den „langen Marsch durch die Institutionen“ mit dem Ziel anzutreten, das politische System der Bundesrepublik von innen zu verändern.
Diese Vorstellung löste bei vielen Parlamentariern im Deutschen Bundestag Panik aus. Vor allem in der CDU-CSU-Fraktion mehrten sich die Stimmen, die nach gesetzlichen Maßnahmen zur Abwehr gegen „linke Extremisten“ im öffentlichen Dienst riefen und Berufsverbote oder ähnlich drastische Maßnahmen ins Spiel brachten. In dieser innenpolitischen Gemengelage kam noch ein zweites Thema hinzu, dass gesellschaftlichen Sprengstoff besaß. Die Ostpolitik der neuen Regierung wollte eine Aussöhnung mit den osteuropäischen Völkern ins Werk setzen, die im Zweiten Weltkrieg von Deutschen überfallen worden waren. Die Aussöhnung mit dem Westen war in den 1950er Jahren durch Beitritt zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und zur westlichen Verteidigungsbündnis NATO gelungen. Mit der Ostpolitik sollte dieser Prozess auch mit den Staaten in Osteuropa beginnen.
Aber die Ostpolitik spaltete die Gesellschaft in zwei ziemlich genau gleich große Teile. Die einen beklagten lautstark den „Verlust der deutschen Ostgebiete“. Denn mit der Anerkennung der zwischen der DDR und Polen verlaufenden Oder-Neiße-Grenze durch die Regierung Brandt/Scheel wären die östlich davon liegenden Gebiete unweigerlich verloren. Die Vertriebenenverbände wollten stattdessen diese ehemaligen „deutschen Ostgebiete“ mittel- und langfristig zurückbekommen, mobilisierten ihre Anhänger und brachten beeindruckende Demonstrationen auf die Straßen der Bundesrepublik. „Verzicht ist Verrat“ hieß es auf Spruchbändern oder „Wer Schlesien, Pommern und Ostpreußen verrät, verrät auch Deutschland“. In einer derart aufgeheizten Stimmung schien es manch einem Sozialdemokraten angeraten, auf einem anderen politischen Feld der Opposition, die im Bundestag ebenfalls lautstark gegen die Ostpolitik agitierte, entgegen zu kommen. Und dieses Feld war die Innere Sicherheit, die zum einen durch den angeblichen „Marsch durch die Institutionen“ und zum anderen durch die hochgradig emotionalen Diskussionen um die Ostpolitik in Schieflage geraten war.
Um zumindest einen Teil dieser Schieflage wieder grade zu rücken, sollte der Radikalenerlass vom 28. Januar 1972 wenigstens die Bedrohung der Inneren Sicherheit wirksam bekämpfen. Dahinter steckte auch das Kalkül, durch harte Maßnahmen gegen „kommunistische Bewerber für den öffentlichen Dienst“ die Emotionen gegen die Ostverträge etwas einzudämmen. Für die SPD war das so etwas wie der Preis für die Ostpolitik, denn schon etwas mehr als ein Jahr zuvor, hatten die Genossen einen Abgrenzungsbeschluss gegen kommunistische Organisationen und Personen beschlossen. Sie wollten damit einerseits dem stetig größer werdenden Druck von CDU und CSU, die SPD hätte gegenüber den Staaten des kommunistischen Ostblocks zu sehr nachgegeben, entgegentreten. Andererseits sollte bewiesen werden, dass die auf Verständigung zielende Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel nicht ohne Weiteres ein besseres Verhältnis zu Kommunisten im eigenen Land nach sich ziehen würde.
Diese fatale Einschätzung führte zum Radikalenerlass, durch den alle Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst ihre Verfassungstreue nachweisen mussten. Dieses nicht umsetzbare Unterfangen löste in den kommenden 20 Jahren mehr als 3,5 Millionen so genannter Regelanfragen beim Bundesamt für den Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst oder dem Militärischen Abschirmdienst aus. Das Ergebnis war mager, lediglich ein paar Tausend Verfahren, von denen bis 1978 etwa 1.100 dazu führten, junge Männer oder Frauen nicht in den öffentlichen Dienst zu übernehmen. 1978 wurde der Erlass so entschärft, dass er eigentlich nicht mehr den Zweck erfüllen konnte, für den er ursprünglich erdacht war.
Während das Ergebnis dürftig war, war Ansehensverlust der Regierung enorm. Willy Brandt sprach später von einem „Kardinalfehler“, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner fürchtete, dass „Gesinnungsschnüffelei“ zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung „der erste Schritt“ zu ihrer Beseitigung sei. Besonders fatal war die Wirkung bei jenen jungen Menschen, die zwar rebellisch waren, aber durch die sozial-liberale Regierung wieder in den demokratischen Prozess zurückgeholt werden sollten. Ihnen wurde mit dem Radikalenerlass vorgeführt, wie man Andersdenkende mit Repressionen bedrohen und gefügig machen konnte. Die Tatsache, dass der Radikalenerlass von 1972 in der historischen Betrachtung als gescheitert und vor allem als unpraktikabel eingeschätzt werden muss, sollte uns etwas lehren. Es nützt nichts, einen Erlass gegen Menschen in Stellung zu bringen, die heute innerhalb und außerhalb des parlamentarischen Betriebs gegen „das System der Altparteien“ agitieren, die die Maßnahmen gegen Corona als „Freiheitsberaubung“ bezeichnen und teilweise offen darüber spekulieren, wer irgendwann einmal „an die Wand gestellt gehört.“ Sie zu bekämpfen, braucht es andere Mittel, von denen der Staat hoffentlich bald einige anwenden wird.
blog | januar 2022 | das camp x-ray in guantanamo bay
20 Jahre Guantanamo
„Stundenlang war ich wieder in dem schwarzen Raum. Angekettet am Fußboden. In der Hocke musste ich da ausharren, die Hände zwischen den Füßen gefesselt. Die Ketten der Handschellen so kurz, dass ich nicht aufstehen konnte, nicht sitzen, mich nicht nach vorne oder hinten bewegen“, so beschreibt ein Gefangener des Camps X-Ray in Guantanamo seinen Alltag. Nach wenigen Tagen dieser Tortur ist er ein Zerrbild seiner selbst und nicht mehr in der Lage, Realität, Wahnsinn und Schmerzphantasien zu unterscheiden.
„Seine Augen sind weit aufgerissen. Dann sind sie zusammengekniffen. Manchmal sieht es aus, als würde er schreien. Ob er es tut, weiß ich nicht. Die Musik ist viel zu laut. Selbst hier im Nebenraum, hinter meiner Scheibe, die vom Verhörraum aus verspiegelt ist. Selbst hier ist die Musik so ohrenbetäubend, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe und in den Pausenraum gegangen bin. 9 Stunden hockt er jetzt schon in dem Raum. Zeit mein Glück zu versuchen“, so beschreibt einer seiner Bewacher die Szenerie (1). Was dann folgt, ist ein menschenverachtendes Verhör, in dem der Gefangene gestehen soll, an einem Terroranschlag oder wenigstens an seiner Vorbereitung beteiligt gewesen zu sein. Aber der Mann ist seit Tagen verhöhnt, gequält und gefoltert worden: Er weiß nicht, ob er sich an die Wahrheit erinnert oder an die von seinen Peinigern in sein Gehirn geprügelten Phantasien.
Der 11. September 2001 und der Kampf gegen die „Achse des Bösen“
Ort des Geschehens ist der amerikanische Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba. Auslöser für diese dauerhaften Menschenrechtsverletzungen waren die Terroranschläge des 11. September 2001, als binnen weniger Minuten islamistische Terroristen vier US-amerikanische Maschinen entführten, die Flugzeuge von den Bildschirmen der Luftraumüberwachung verschwanden und in Ziele gelenkt wurden, die die westliche Welt ins Mark trafen: Die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers und das amerikanische Verteidigungsministerium – das Pentagon in Washington. Die vierte Maschine, die möglicherweise das Weiße Haus ansteuern sollte, stürzte auf eine Wiese bei Shanksville östlich von Pittsburgh. Verantwortlich für diese Taten, die etwa 3.000 Todesopfer forderten, war die islamistische Terrororganisation Al-Qaida, deren Chef Osama bin Laden als führender Kopf ausgemacht wurde.
Die Welt hielt in den folgenden Tagen den Atem an und wartete gespannt auf die Reaktion der Bush-Administration. Präsident George W. Bush hatte schon am Tag nach den Anschlägen dem islamistischen Terror einen weltweiten Kampf angesagt und auf die Hilfe der Verbündeten in der westlichen Welt gesetzt. Am 29. Januar 2002 präzisierte er in eine Rede zur Lage der Nation vor beiden Kammern des amerikanischen Kongresses seinen Kampf gegen die „Achse des Bösen“. Wider besseres Wissen stellte er dabei den Irak in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, obwohl seine Experten und Berater klargestellt hatten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein mit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 nichts zu tun hatte: „Der Irak stellt weiterhin seine Feindseligkeit gegenüber Amerika offen zur Schau und unterstützt den Terrorismus. Schon seit über einem Jahrzehnt versucht das irakische Regime insgeheim, Milzbranderreger, Nervengas und Atomwaffen zu entwickeln. Dieses Regime hat bereits Giftgas eingesetzt, um tausende seiner eigenen Bürger zu ermorden – und ließ danach Leichen von Müttern zurück, zusammengekauert über ihren toten Kindern. (…) Staaten wie diese, und die mit ihnen verbündeten Terroristen, bilden eine Achse des Bösen, die aufrüstet, um den Frieden der Welt zu bedrohen.“
Für diesen Kampf gegen das Böse in der Welt bemühte George W. Bush nicht nur göttlichen Beistand, sondern umging auch die Regeln der amerikanischen Zivilgerichtsbarkeit. Auf der Suche nach einem Ort, zu dem weder die amerikanische Justiz, noch die Weltöffentlichkeit Zugang hatte, fiel die Wahl des Präsidenten auf den amerikanischen Militärstützpunkt Guantanamo-Bay auf Kuba. Diese Militärbasis war exterritoriales Gebiet, wurde von kubanischen Behörden weiträumig abgesperrt und stand unter der alleinigen Kontrolle des amerikanischen Militärs – und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Kuba und die USA
Beide Länder verbindet eine lange Geschichte. Während die Amerikaner unter der britischen und französischen Kolonialherrschaft zu leiden hatten, waren die Spanier auf Kuba und in anderen Teilen Mittel- und Südamerikas die beherrschende Kolonialmacht. Nach der Befreiung Nordamerikas mit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und den darauffolgenden militärischen Auseinandersetzungen mit dem Vereinigten Königreich am Beginn des 19. Jahrhunderts definierte Präsident James Monroe am 2. Dezember 1823 die Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik. Danach gab es zwei Sphären, von denen die eine die des amerikanischen Doppelkontinents war. Da die USA sich „irreversible“ vom europäischen Kontinent getrennt hatten, war die zweite Sphäre alles außerhalb des amerikanischen Kontinents.
Gleichzeitig verkündete Monroe einerseits selbstbewusst, man werde allen Kolonialisierungsversuchen des „alten Kontinents“, wenn es sein müsste, mit Waffengewalt begegnen und versprach andererseits, dass sich die USA aus allen Konflikten im Rest der Welt heraushalten werden. Mit dieser „Monroe-Doktrin“ und dem Schlachtruf „Amerika den Amerikanern“ machten sich die USA daran, als Hegemon des Kontinents aufzutreten. Im April 1898 eskalierte der Streit mit der spanischen Kolonialmacht um Kuba und Puerto Rico. Vorher hatten sich schon Venezuela, Kolumbien, Panama, Peru, Bolivien und Ecuador von Spanien befreit. Aber sowohl für Großbritannien als auch für Spanien waren die Häfen der Inseln in der Karibik von geostrategischer Bedeutung. Ende März 1867 war es den USA gelungen, Alaska vom russischen Zarenreich abzukaufen. Nach diesem Prinzip wollte die US-Administration auch im Falle Kubas und Puerto Ricos verfahren und machte Spanien ein Angebot, beide Inseln käuflich zu erwerben. Als das scheiterte, begann am 23. April 1898 der amerikanisch-spanische Krieg. Er endete mit dem Frieden von Paris und der Unabhängigkeit Kubas und Puerto Ricos. Während Kuba bis heute ein eigener Staat ist, gilt die andere Karibikinsel Puerto Rico als „nicht inkorporiertes Gebiet“ der USA und verzichtet auf eine eigene Außenpolitik, ist aber kein US-amerikanischer Bundesstaat. Jedenfalls gerieten beide Inseln am Beginn des 20. Jahrhunderts unter amerikanischen Einfluss, besser gesagt, sie wurden von den USA kontrolliert.
USA kontrollieren Kuba
Wie stark die Abhängigkeit Kubas von den USA war, zeigte sich bei den Wahlen der kubanischen Präsidenten kurz nach dem Frieden von Paris: Tomas Estrada Palma war als US-Staatsbürger von 1902 bis 1906 der erste Präsident der Republik Kuba, einer seiner Nachfolger, Jose Miguel Gomez, bekam 8 Mio. USD für seine Firmen. Er regierte von 1909 bis 1913. Danach gewann Mario Garcia Menocal die Präsidentschaftswahl, er führte Kuba an der Seite der USA in den Ersten Weltkrieg und musste 1916 eine Niederlage gegen den Chef der kubanischen Volkpartei einstecken. Darauf intervenierte das US-Militär kurzerhand und hievte ihn trotzdem ins Amt. All das war möglich, weil mit dem „Platt Amendment“ der Kongress der Vereinigten Staaten am 2. März 1901 die amerikanisch-kubanischen Beziehungen festgeschrieben hatte. Damit war die rechtliche Grundlage geschaffen, „zur Wahrung der kubanischen Unabhängigkeit, zur Erhaltung der Regierung, die den Schutz des Lebens, Eigentums und der individuellen Freiheit garantiert, zu intervenieren“, wie es der Art. 3 des Gesetzes festhält. Außerdem legt Art. 7 fest, dass die USA „Land von Kuba kaufen oder pachten können, um es als Marinestützpunkte zu nutzen.“ Auf amerikanischen Druck wurde das Amendment auch in die kubanische Verfassung aufgenommen, wodurch die USA in der Folgezeit auf Kuba schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte.
So kam Guantanamo-Bay am 23. Februar 1903 auf Grund eines Pachtvertrags mit Kuba in amerikanische Verwaltung und wurde zu einem Militärstützpunkt ausgebaut. Erst galt der Vertrag für 99 Jahre, 1934 wurde er mit einer Zusatzvereinbarung unbefristet verlängert. Als 1959 nach der kubanischen Revolution die Castro-Regierung den jährlichen Scheck akzeptierte und einlöste, bestätigte sie damit die 1934 beschlossene Entfristung des Platt Amendments. Bis heute wird dieser Rechtsstandpunkt von der Regierung in Havanna bestritten – geändert hat das nichts, denn die USA üben immer noch die Hoheit über Guantanamo Bay aus. Das Areal umfasst gut 117 km², verfügt über einen Flughafen und ist mit Befestigungsanlagen versehen.
Camp X-Ray
Auf der Suche nach einem Ort, an dem ungestört von der eigenen Justiz verbotene Verhörmethoden nach den Anschlägen des 11. September 2001 angewendet werden können, fiel die Wahl auf das Camp X-Ray. Dorthin wurden so genannte ungesetzliche Kombattanten verbracht, denen vorgeworfen wurde, absichtsvoll gegen das internationale Kriegsrecht verstoßen zu haben. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Präsident George Bush erlaubten in einem geheim gehaltenen Memorandum des Justizministeriums ausdrücklich die Anwendung von Folter: Schläge auf den Kopf, stundenlang nackt stehen, Dauerbeschallung mit aggressiver Musik, Schlafentzug und schließlich das Water-Boarding. Gebracht haben diese Methoden wenig, denn es wurden keine Informationen ans Tagelicht gefördert, die nicht auch auf andere Weise herausgefunden werden konnten.
Das Lager in Guantanamo Bay und die Ereignisse im Bagdader Gefängnis Abu Ghraib, wo nach dem dritten Golfkrieg Anfang irakische Gefangene durch amerikanische Soldaten gefoltert wurden, haben das Ansehen der USA weltweit schwer beschädigt. Als 2004 und 2006 Photos aus Abu Ghraib veröffentlicht wurden, auf denen nackte Menschen zusammengebunden auf dem Boden lagen oder Gefangene während der Folter mit Elektroschocks zu sehen waren, brach eine weltweite Empörungswelle aus. Die amerikanische Justiz verurteilte 14 Täterinnen und Täter von Abu Ghraib zu teilweise langjährigen Haftstrafen, während die Taten im Camp X-Ray auf Kuba ungesühnt blieben.
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(1) Diesen Hinweis und die Zitate verdanke ich Kristin Mockenhaupt aus der Sendung „Eine Stunde Historie“ vom 10. Januar 2022
2021
BLOG | dezember 2021 | die gründung der "Gemeinschaft unabhängiger staaten" gus
Die Gründung der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“
Der 25. Dezember 1991 war ein folgenschwerer Tag – nicht nur für die Sowjetunion. Wochenlang hatte Präsident Michail Gorbatschow versucht, abtrünnige Republiken davon abzuhalten, eine neue Union zu gründen und die UdSSR auf die historische Müllhalde zu werfen. Aber es gab kein Zurück mehr. Persönlicher Ehrgeiz, Ärger über die viel zu schleppend verlaufenden Reformen und einen wirtschaftlichen Niedergang, der soziales Elend nach sich gezogen hatte, waren größer als der Wunsch die „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ am Leben zu erhalten. An jenem Abend des ersten Weihnachtstags 1991 trat ein sichtlich mitgenommener Staatspräsident Michail Gorbatschow vor die Kameras des staatlichen Fernsehens und verkündete seinen Rücktritt von allen Ämtern in Staat und Partei. Er hatte seine politischen Vorstellungen schon lange nicht mehr durchsetzen können, so dass sein Rücktritt folgerichtig war. Weihnachten 1991 zerbrach aber nicht nur die politische Karriere des im Westen gefeierten sowjetischen Staatspräsidenten, sondern auch die Existenz einer Supermacht. Gleichzeitig endete der kalte Krieg und es begann eine Zeit großer Verunsicherung in Russland und den anderen Sowjetrepubliken, deren Ausläufer bis heute zu spüren sind.
Begonnen hat der Auflösungsprozess am 17. März 1991. Gorbatschow hatte an diesem Tag zu einer Volksabstimmung aufgerufen, die über eine Reform der UdSSR entscheiden sollte. „Halten Sie den Erhalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken, in der die Rechte und Freiheiten des Menschen jeglicher Nationalität in vollem Umfang garantiert werden, für notwendig?“, lautete die Frage des Referendums und die Antwort war eindeutig. 75 Prozent der Wahlberechtigten stimmten mit „ja“.
Reform der UdSSR
Das Ergebnis war nicht verwunderlich, denn einerseits hatte die UdSSR den Menschen das Gefühl gegeben, in einer Weltmacht zu leben, die den Zweiten Weltkrieg gegen das faschistische Deutschland gewonnen hatte und sich als Sieger der Geschichte fühlen durfte. Auch wenn im Westen die Sowjetunion als marode und wirtschaftlich zurückgeblieben belächelt wurde, hatte sie andererseits im Inneren den Menschen Identität und Heimat gestiftet. Als die Sowjetbürger im März 1991 nach der Zukunft ihres Staates gefragt wurden, formulierten sie zwei Wünsche: sie wollten zum einen Reformen und zum anderen den Erhalt einer reformierten UdSSR.
Gorbatschow reagierte auf dieses Votum, in dem er versuchten, das Verhältnis der allmächtigen Zentrale in Moskau zu den einzelnen, auf elf Zeitzonen verteilten Unionsrepubliken zu reformieren. Dabei sollten nicht nur die Republiken mehr Autonomie und Eigenverantwortung bekommen und die UdSSR zu einer tatsächlich funktionierenden Föderation umgebaut werden, sondern auch das Gefühl für die Menschen bewahrt werden, in einem großen und mächtigen Staat zu leben. Aber seine Bemühungen standen unter einem schlechten Stern, denn im Frühsommer 1991 stiegen mit Armenien, Estland, Georgien, Lettland, Litauen und Moldawien sechs der insgesamt 15 Sowjetrepubliken aus den gemeinsamen Beratungen aus und erklärten, ihre völlige Unabhängigkeit anzustreben.
„Union Souveräner Staaten“
Am 17. Juni 1991 einigten sich die verbliebenen neun Sowjetrepubliken auf einen neuen Unionsvertrag, der in einer großen Zeremonie am 20. August in Moskau unterzeichnet werden sollte. Der Vertrag sah vor, dass ein Bund unabhängiger Staaten entstehen sollte, der sich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtete, ansonsten aber die Eigenständigkeit der Bundesmitglieder garantierte. Der Vertrag wurde heftig diskutiert. Den einen ging er nicht weit genug, den anderen überschritt er das Maß des Erträglichen bei weitem. Vor allem in den alten Politkadern der KPdSU regte sich Widerstand, der von militärischen Hartlinern innerhalb und außerhalb der kommunistischen Partei unterstützt wurde.
Hinter den Kulissen formierte sich der Widerstand gegen Gorbatschows Kurs einer reformierten UdSSR, der schließlich zur Gründung eines „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ führte. Diesem dubiosen Komitee gehörten Militärs und KP-Funktionäre an, die sich in einer Gästeresidenz des Geheimdienstes KGB außerhalb von Moskau trafen. Zu ihnen gehörte Gennadi Janajew, der Vizepräsident der UdSSR, Premierminister Walentin Pawlow oder auch Verteidigungsminister Dmitri Jasow. Teilweise verdankten sie ihre hohen Ämter Michail Gorbatschow, den sie nun stürzen wollten. Das Ziel des reaktionären Staatskomitees war die Verhinderung der Reform der UdSSR durch den Unionsvertrag, der nach Meinung der Putschisten den Teilrepubliken zu viel Macht und Eigenständigkeit einräumte. Obendrein sollte eine endgültige Abkehr vom Kommunismus verhindert werden.
Putsch in Moskau
Während sich Gorbatschow mit seiner Familie in einem Ferienhaus in Foros auf der Krim aufhielt, bekam er unerwarteten Besuch von Offizieren der Roten Armee, die im Auftrag der Putschisten zu ihm gereist waren. Sie forderten ihn auf, eine Rücktrittserklärung aus gesundheitlichen Gründen zu unterschreiben. Als er sich weigerte, wurde er verhaftet und mit seiner Familie in dem Ferienhaus festgesetzt. Sein Domizil war zu einem Gefängnis geworden, sämtliche Telephonleitungen wurden gekappt, der Präsident der UdSSR war von der Außenwelt abgeschnitten. Mehr noch: Den Koffer mit den Codes für die sowjetischen Atomwaffen musste Gorbatschow den Putschisten aushändigen.
Die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“
Da ihr Präsident handlungsunfähig war, nahmen die Bürger Moskaus das Heft des Handelns selbst in die Hand und organisierten mit dem Präsidenten der sowjetischen Teilrepublik Russland, Boris Jelzin, den Widerstand gegen den Putsch. Nach drei Tagen brach der Putsch in sich zusammen und Gorbatschow konnte nach Moskau zurückkehren. Aber seine Rückkehr war auch sein politisches Ende, denn Boris Jelzin stellte sich nun jeder weiteren Reform der alten UdSSR entgegen und steuerte auf eine Auflösung der Sowjetunion zu. Dabei trieb Boris Jelzin offenbar übergroßer Ehrgeiz und die Aussicht auf eine eigene politische Karriere als Präsident der größten Teilrepublik der UdSSR – nämlich Russland. Er verließ die kommunistische Partei, die wegen der Verstrickung in den Putsch etwas später unionsweit verboten wurde, und gründete mit den Chefs der Teilrepubliken Ukraine, Leonid Krawtschuk, und Belarus, Stanislau Schuschkewitsch, am 8. Dezember 1991 die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ - GUS. Zwei Wochen später traten Aserbaidschan, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan der GUS bei.
"Glasnost" und "Perestroika" gescheitert
Michail Gorbatschow war politisch ins Abseits geraten, konnte die Entwicklung nicht verhindern und hatte jegliche Unterstützung beim Volk verloren. Sein wagemutiges Reformprogramm, das weltweit unter „Glasnost“ und „Perestroika“ Schlagzeilen gemacht hatte, war krachend gescheitert. Der Lebensstandard der Menschen in der Sowjetunion war drastisch gesunken, die Versorgung mit dem Nötigsten war nicht durchgehend gesichert und das Leben war für einen Großteil der Sowjetbürger beschwerlicher geworden. Zudem hatte sich das Gefühl breit gemacht, Verlierer des Kalten Kriegs zu sein, obwohl die UdSSR doch die Hauptlast des siegreichen Zweiten Weltkriegs getragen hatte, der in Russland nicht umsonst „Großer Vaterländischer Krieg“ genannt wird. In allen Staaten des Ostblocks hatten sich Oppositionsbewegungen durchgesetzt und die regierenden kommunistischen Parteien vom Hof gejagt. Aus der einstigen Welt- und Supermacht UdSSR war ein Trümmerhaufen geworden.
Als am 25. Dezember 1991 die rote Fahne über dem Kreml eingeholt und durch die russische Flagge ersetzt wurde, sollte das den Aufbruch in eine neue und vor allem bessere Zeit signalisieren. Aber das Gegenteil war der Fall. Die GUS konnte zu keiner Zeit die inneren und die bilateralen Probleme der Nachfolgestaaten der UdSSR lösen. Sie konnte allenfalls dazu beitragen, den Transformationsprozess nach dem Ende der Sowjetunion friedlich zu gestalten. Aber sie hat keine integrative Kraft entwickelt, sie konnte 2008 den kriegerischen Konflikt im Kaukasus nicht verhindern und musste im gleichen Jahr zusehen, wie mit Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine sechs GUS-Mitglieder die „östliche Partnerschaft“ mit der Europäischen Union eingingen. Geradezu hilflos musste die GUS miterleben, wie 2014 Russland die Krim annektierte und im Osten der Ukraine bestimmenden politischen Einfluss erlangte.
Historisch betrachtet war die heute noch existierende GUS zwar ein Ausweg aus einer komplizierten politischen Lage, in der sich die UdSSR Ende 1991 befand, aber sie war kein adäquater Ersatz. Sie konnte weder die von der Mehrheit der Russen gewünschte staatliche Einheit aufrechterhalten, noch Autonomie gewähren und gleichzeitig die zentrifugalen Kräfte des untergegangenen sowjetischen Riesenreichs in Schach halten. Dabei war – und das ist Ironie des Schicksals – die GUS nichts weiter als die Umsetzung der „Union Souveräner Staaten“. Aber der Urheber dieser Idee – Michail Gorbatschow – musste erst zurücktreten, damit seine Idee umgesetzt wurde und dann unter seinem Nachfolger Boris Jelzin scheiterte.
BLOG | november 2021 | der nationalsozialistische untergrund - nsu
Terror von Rechts – 10 Jahre NSU
Am Morgen des 4. November 2011 schreckt der Notruf einer Bank im thüringischen Eisenach die Polizei auf. Maskierte Täter haben bei einem Überfall auf die Sparkasse am Nordplatz Geld erbeutet und einen Angestellten schwer verletzt. Als ein Augenzeuge berichtet, einer der Täter sei mit einem Wohnmobil geflüchtet, löst die Polizei eine Ringfahndung aus. Dabei konzentrieren sich die Beamten auf ein Wohnviertel in der Nähe der Sparkasse, dort finden sie ein Wohnmobil mit einem Kennzeichen aus Sachsen. Gegen Mittag nähern sich zwei Polizisten dem Fahrzeug mit gezogenen Waffen, weil sie aus vorherigen Banküberfällen wissen, dass die Täter bewaffnet sind und von der Schusswaffe auch Gebrauch machen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse, denn aus dem Wohnmobil sind zwei Schüsse und ein lauter Knall zu hören. Im Inneren des Wagens entwickelt sich starker Rauch. Nachdem die Feuerwehr den Brand gelöscht hat, finden die Ermittler zwei Leichen: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Während die ermittelnden Beamten in Eisenach das Wohnmobil zur genaueren Untersuchung abtransportieren lassen, explodiert im rund 100 Kilometer entfernten Zwickau eine Bombe in einer Wohnung. Zunächst ist der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen nicht klar, erst als in den Resten der zerstörten Wohnung in Zwickau und im ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach die Tatwaffen anderer Tötungsdelikte gefunden werden, dämmert es den Ermittlern: Sie sind auf die Täter einer lange zurückreichende Mordserie in Deutschland gestoßen.
Die Öffentlichkeit erfährt zunächst wenig über diesen brisanten Zusammenhang. Aber die Ermittlungen fördern weitere Waffen zutage, die einer Mordserie aus den Jahren 2000 bis 2007 eindeutig zuzuordnen sind. In diesen Jahren waren neun Männer mit Migrationshintergrund und eine Polizistin zwischen Rostock und München getötet worden. Bei der Suche nach den Tätern hatte die Ermittler von „Döner-Morden“ gesprochen und sogar die Familien der Opfer verdächtigt. Damit wurde die politische Dimension der Mordserie entweder schlicht nicht erkannt oder – weit schlimmer – wissentlich ignoriert. Aber das Narrativ von „Ausländer- oder Mafiakriminalität“ lässt sich nach diesem 4. November 2011 nicht mehr aufrechterhalten. Weitere Waffenfunde weisen nicht nur auf die eindeutig zuzuordnenden zehn Tötungsdelikte, sondern auf 43 weitere Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge in Nürnberg und Köln sowie 15 Raubüberfälle – alle begangen von denselben Tätern.
Der NSU und Paulchen Panther
Noch klarer wird der Zusammenhang zwischen den beiden Toten im Wohnmobil und der Mordserie, als Bekenner-Videos auftauchen, in denen sich eine Gruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ als verantwortlich für die Taten outet. Sie belegen ihre Täterschaft mit Filmsequenzen von den Tatorten und verhöhnen die Opfer und ihre Angehörigen dadurch, dass sie Szenen aus der Zeichentrickserie „Der rosarote Panther“ hinzufügen: „Und Paul beschließt in diesem Augenblick: Ich hol‘ die gute alte Zeit zurück!“. Vier Tage nach den Ereignissen in Eisenach stellt sich eine gewisse Beate Tschäpe in Begleitung eines Anwalts der Polizei in Jena. Sie hatte mehr als ein Dutzend Bekennerschreiben und Videos mit den „Paulchen Panther-Sequenzen“ an Zeitungen, rechtsextreme Parteien und Moscheevereine geschickt, damit der NSU bekannt wird. Anschließend hatte sie die Wohnung im Zwickauer Stadtteil Weißenborn in die Luft gejagt und das Mehrfamilienhaus damit unbewohnbar gemacht. Mit dem Brandanschlag wurde Beweismaterial vernichtet, dass möglichweise Hintermänner und eine Unterstützer-Szene belastet hätte.
Dennoch war mit den Bekenner-Videos klar, dass sich in Deutschland eine schwer bewaffnete, rechtsterroristische Untergrundszene gebildet hatte, die es nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund abgesehen hatte, sondern das gesamte politische System des Landes in Frage stellte. Schnell tauchte die Frage auf, wie es geschehen konnte, dass eine rechtsterroristische Vereinigung über so viele Jahre unerkannt Morde, Mordanschläge und Banküberfälle durchführen konnte. Warum war die Polizei von Einzeltätern ausgegangen, hatte sogar Angehörige der Opfer im Verdacht? Und warum ist nie der Fokus der Ermittlungen auf die Existenz einer kriminellen Vereinigung aus dem rechtsextremen Spektrum gelenkt worden. Im November 2011 kommen nahezu täglich Informationen ans Tageslicht, nach denen der NSU 1998, also lange vor der ersten Mordtat, schon hätte unschädlich gemacht werden können. Offenbar waren die entsprechenden Ermittlungen über Jahre behindert worden oder der Verfassungsschutz hatte interveniert, um verdeckte Ermittler in der rechtsextremen Szene zu schützen. Seit 1998 hatte es nämlich immer wieder Hinweise darauf gegeben, dass ein „Skinhead-Trio“ Banküberfälle und Schlimmeres plane. Aber diese und andere Ermittlungsergebnisse gelangten nicht an die Zielfahnder, die dem NSU schon Ende der 1990er Jahre dicht auf den Fersen waren.
Terror von links
Ganz anders waren die Ermittlungsbehörden in den 1970er Jahren dem Terror von links hinterher. Seit Mitte der 1960er Jahren war eine Radikalisierung von Teilen der „Außerparlamentarischen Opposition“ zu beobachten gewesen. Die meisten „Außerparlamentarischen“ hatten irgendwann ihren Frieden mit dem politischen System der Bonner Republik und der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt gemacht. Andere wanderten in so genannte „K-Gruppen“ ab, von denen einige beim Gründungsparteitag der Grünen im Januar 1980 in Karlsruhe eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Einem kleinen Teil der außerparlamentarischen Bewegung war das zu wenig, sie wählten den Weg in den Untergrund, der zunächst Gewalt gegen Sachen und später auch gegen gezielt ausgesuchte Funktionsträger „des Systems“ einschloss.
Der Staat reagierte auf die Attentate, Mordanschläge und Entführungen mit Härte und der Ansage, dass mit „Terroristen nicht verhandelt“ wird. Der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, entwickelte die Rasterfahndung, bei der Informationen aus verschiedenen Massendatenspeichern auf Personen mit bestimmten Eigenschaften oder Merkmalen abgeglichen wurden. Das Ziel war, eine Gruppe von Menschen herauszufiltern, die dann schneller überprüft werden konnte. Zudem gab es unentwegt Straßen- und Personenkontrollen, Festnahmen und Hausdurchsuchungen, um der bis dahin schwersten innenpolitischen Krise der Bundesrepublik Herr zu werden. Nach der dramatischen Entführung von Arbeitsgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer am 5. September 1977 und der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ am 13. Oktober 1977 endete diese als „deutscher Herbst“ bezeichnete Eskalation der Gewalt. Hanns-Martin Schleyer sollte gegen zahlreiche inhaftierte Angehörige der „Rote Armee Fraktion“ ausgetauscht werden. Als die Bundesregierung das ablehnte, kaperten vier palästinensische Terroristen die „Landshut“, um den Druck zu erhöhen. In der Nacht des 17. Oktober 1977 stürmte ein Spezialkommando der Bundespolizei, die GSG 9, die Lufthansa-Maschine und befreite die Passagiere. Nach dieser vom Deutschlandfunk am nächsten Morgen verbreiteten Nachricht nahmen sich die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden RAF-Mitglieder Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben, Irmgard Möller überlebte ihren Selbstmordversuch. Hanns-Martin Schleyer wurde von seinen Entführern daraufhin ermordet, seine Leiche fand die Polizei einen Tag später im Kofferraum eines im elsässischen Mühlhausen abgestellten PKW.
Terror vor rechts
Damit hatten vor allem die Familie Schleyer einen extrem hohen Preis bezahlt, aber der Terror von links war überwunden. Dennoch wurden die Rasterfahndung, das Kontaktsperregesetz von 1977 oder die Notstandsgesetze des Jahres 1968 nicht außer Kraft gesetzt – sie bestehen bis heute weiter. Während der Kampf gegen die Terror von links also mit entschlossener Härte durchgeführt wurde, waren die Aktivitäten gegen den rechten Terror vergleichsweise harmlos. Zwar hatte die Bundesregierung unter dem Druck, das Land zu demokratisieren und damit zum Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft zu werden, die neonazistische „Sozialistische Reichspartei“ 1952 ebenso wie in den folgenden Jahren entsprechende Verbände und Kameradschaften verbieten lassen. Bei terroristischen Anschlägen erlahmte allerdings dieses Engagement. Im Oktober 1980 verübte der 21jührige Gundolf Köhler ein Attentat auf das Münchner Oktoberfest, dem 13 Menschen zum Opfer fielen und 221 zum Teil schwer verletzt wurden. Dieser bis dahin schwerste rechtsextremistische Terrorakt in der Geschichte der Bunderepublik wurde trotz vieler anderslautender Hinweise als Tat eines Einzelnen dargestellt und zu den Akten gelegt.
Rechter Terror in der Weimarer Republik
Das legte den Grundstein für den Vorwurf, der Staat sei „auf dem rechten Auge blind“ und verharmlose die Gefahr, die von rechtsterroristischen Netzwerken ausgehe. Vielfach wurde der mahnende Vergleich zum laxen Umgang mit rechtsextremen oder faschistischen Terroristen in der Weimarer Republik gezogen. Tatsächlich ist der Ursprung rechtsextremen Terrors in der Weimarer Republik zu verorten. Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Republik aus der Taufe gehoben wurde, strömten Hunderttausende Soldaten von der Westfront ins Land, die sich „unbesiegt“ fühlten. Die von der Obersten Heeresleitung unters Volk gebrachte Verschwörungstheorie der „im Felde unbesiegten Armee“ stellte Sozialdemokratie und das „bolschewistische Judentum“ an den Prager, beide hätten mit ihrem „vaterlandsvergessenen“ Handeln die „Heimatfront“ geschwächt und so die Niederlage herbeigeführt. Diese „Dolchstoßlegende“ entbehrte natürlich jeder Grundlage, war aber geeignet, die bei den Militärs und den konservativ-reaktionären Eliten verhasste Republik vom ersten Tage an zu diskreditieren. Damit aber nicht genug, denn nach dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrags am 28. Juni 1919 hatte Deutschland die „Alleinschuld“ am Beginn des Ersten Weltkriegs, musste große Gebiete in Ost und West an die alliierten Kriegsgegner abtreten, hatte dramatisch hohe Reparationszahlungen zu leisten und durfte nur eine auf 100.000 Mann geschrumpfte Armee unterhalten.
Das waren die Zutaten für das Aufblühen einer rechtsextremen, faschistischen Stimmung, die sich unter vielen Soldaten, aber auch in anderen Teilen der Bevölkerung rasch ausbreitete. Aus dieser Unzufriedenheit entwickelte sich eine menschenverachtende Ideologie, die zum Sturm auf Juden, Andersdenkende, überzeugte Demokraten oder Ausländer aufrief. Ihr Zorn richtete sich auf die Repräsentanten der liberalen Weimarer Gesellschaft, ihre demokratischen Ordnung und die offene, pluralistische und egalitäre Lebensform, die auch heute noch vorbildhaft ist. Auch wenn man sich davor hüten sollte, allzu simple Analogien zu ziehen, gibt es dennoch einige Ähnlichkeiten zwischen Berlin und Weimar, die wir nicht zu klein erachten sollten. 1920 wie 2020 entfernen sich immer mehr Menschen von dem politischen System insgesamt. Die Zahl derer, die sich ausgenutzt, unverstanden und missachtet fühlen, wird größer. Sie nehmen am Diskurs der demokratischen Gesellschaft nicht mehr teil. Während der Weimarer Republik stieg die Zahl der Staatsgegner derart rasant an, dass der Auflösungsprozess schließlich Fahrt aufnahm und dann nicht mehr zu stoppen war.
Heute nehmen wir mit Erschrecken zur Kenntnis, dass offener Rassismus, gewalttätiger Antisemitismus und lautstarke Homophobie mehr und mehr zu Alltag gehören. Gleichzeitig bringt zum Beispiel der Prozess gegen Beate Tschäpe zum Vorschein, dass es uns offenbar nicht gelingt, die neonazistischen Netzwerke, die Unterstützerkreise und die Geldgeber des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und anderer gewaltbereiter Kreise aufzudecken. Aber nur die Kenntnis über Hintermänner und Financiers erlaubt es uns, derartige systemzerstörende Netzwerke zu zerschlagen.
BLOG | oktober 2021 | das anwerbeabkommen mit der türkei 1961
Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961
Herbst 1961: Die Stimmung in Deutschland ist schlecht. Das Land ist geteilt, nunmehr in Stein gehauen durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August. Im Westen schimpfen viele Menschen auf die untätigen West-Alliierten und im Osten resignieren die meisten, weil ihnen der Weg nach Westen versperrt ist. Versperrt ist auch der Weg für mehr 50.000 Grenzgänger, die im Osten gelebt und im Westen gearbeitet haben. Sie sind den DDR-Organen, aber auch vielen DDR-Bürgern, die im Osten leben und arbeiten, ein Dorn im Auge. Die Grenzgänger verdienen im Westen viel Geld, mit dem sie im Osten billig leben können. Den Zorn kann man an den Türen vieler Geschäfte im Grenzgebiet lesen. Es sei „unter unserer Würde“, steht dort, „Grenzgänger zu bedienen“. Man werde sie „erst dann wieder zuvorkommend bedienen, wenn sie eine Arbeit in unserer Republik aufgenommen haben.“
Derartige Ressentiments, die nicht zu stoppende Republikflucht und die gescheiterten Pläne eines geeinten, aber sozialistischen Deutschlands haben im August 1961 zum Bau der Berliner Mauer und in den folgenden Jahren zum Ausbau eines nahezu unüberwindlichen Grenzstreifens zwischen Ost- und Westdeutschland geführt. Die Konsequenzen dieser menschenverachtenden Tat sind nicht nur Tausende zerstörter Familien, Beziehungen und Lebensplanungen im Osten, sondern auch das Ausbleiben von vielen Tausend Arbeitskräften im Westen. Die werden nun zwar wieder „zuvorkommend“ in den Geschäften der DDR bedient, weil sie eine „Arbeit in unserer Republik“ aufnehmen mussten, fehlen aber in den Betrieben der westdeutschen Bundesrepublik.
Wirtschaftswunder braucht Arbeitskräfte
Dort freut man sich über das Wirtschaftswunder, das von dem stets Zigarre qualmenden Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit dem Wort vom „Maß halten“ begleitet wird. Aber es fehlen zunehmend Arbeitskräfte. Seit Mitte der 1950er Jahre werden deshalb „ausländische Arbeitskräfte“ ins Land geholt, die einerseits den Arbeitskräftemangel beheben und andererseits dafür sorgen sollen, dass die Lohnforderungen der Gewerkschaften nicht durch die Decke gehen. Denn in der kapitalistischen Angebots- und Nachfragekultur steigen die Preise bei starker Nachfrage – nach Arbeitskräften – und geringem Angebot – an Arbeitskräften. Allein deshalb waren in den 1950er Jahren die Arbeiter aus Italien, Griechenland oder Spanien gesucht. Aber sie werden als Arbeitskräfte – oder schlimmer - als „Ware“ gesehen und nicht als Menschen: Sie müssen nach zwei Jahren Land wieder verlassen, ihre Familien dürfen nicht nachziehen und sie leben in Unterkünften weit ab von der deutschen Bevölkerung.
Mehr noch: Viele Westdeutsche begegnen den Menschen aus fernen Ländern abfällig, sehen in ihnen „Menschen zweiter Klasse“ und sind nicht bereit, sie als „normalen“ Teil der westdeutschen Gesellschaft zu akzeptieren. Diese Integration ist für die ausländischen Arbeitnehmer auch deshalb schwierig, weil ihnen weder Sprachkurse noch andere Maßnahmen angeboten werden, die ein Leben in der Bundesrepublik hätten vereinfachen können. Es entsteht in diesen Jahren das was später die „Parallelgesellschaft“ heißen wird. Dabei geraten die ausländischen Arbeitnehmer zunehmend in eine Zwickmühle, die ihnen ihre Herkunftsländer und die Bundesrepublik aufstellen.
Auf der einen Seite sind die Westdeutschen nicht integrationswillig und wollen die „Gastarbeiter“ im wahrsten Sinne des Wortes alle zwei Jahre durch Rotation wieder loswerden. Auf der anderen Seite sind die Herkunftsländer wegen großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten froh, auf diese Weise die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Hier nicht willkommen und da gerne verabschiedet – das ist das wenig erfreuliche Motto für die ausländischen Arbeitnehmer. Während die ausländischen Arbeitskräfte zwar benötigt werden, aber nicht gerne gesehen sind, bereiten zwei Entwicklungen den westdeutschen Ökonomen großes Kopfzerbrechen. Ende der 50er Jahre machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge der Kriegsgeneration in den Betrieben bemerkbar. Immer weniger deutsche Arbeitskräfte suchen nach einer Arbeit und gleichzeitig gehen ältere Arbeitnehmer wegen der Senkung des Renteneintrittsalters früher in den Ruhestand. Arbeitsminister Theodor Blank sieht 1959 einen steigenden Bedarf an Arbeitskräften, trotz „fortschreitender Rationalisierung und Mechanisierung der Produktionsverfahren in der Bundesrepublik“.
Außenpolitische Überlegungen
Während der Bedarf an Arbeitskräften in der Bundesrepublik steigt, die Berliner Mauer und die innerdeutschen Sperranlagen den Ost-West-Transfer von Arbeitskräften stoppt, gerät ein außenpolitisches Argument immer mehr in den Blick. Seit 1952 ist die Türkei Mitglied der NATO und als Staat mit Grenzen zur UdSSR und zum Warschauer-Pakt-Mitglied Bulgarien von besonderer Bedeutung. Das enorme Bevölkerungswachstum liegt in der Türkei seit Jahren weit über dem wirtschaftlichen Wachstum. Beides verursacht immer deutlicher werdende innenpolitische Spannungen, die eine Destabilisierung der NATO-Südostflanke befürchten lassen. Die Initiative für ein Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik geht von der Regierung in Ankara aus. Sie will die überzähligen Arbeitskräfte – wenigstens zeitweise – ins Ausland verabschieden, um damit den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten. Und gleichzeitig spekuliert sie darauf, dass die Geldüberweisungen der türkischen Arbeitnehmer das Handelsbilanzdefizit der Türkei gegenüber der Bundesrepublik verringern.
Damit wird klar, dass für das Anwerbeabkommen mit der Türkei nicht nur wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Überlegungen der Bunderegierung, sondern auch die innenpolitische Stabilisierung der Türkei wichtig gewesen ist. Wie schon bei den Anwerbeabkommen in den 1950er Jahren gilt auch jetzt, dass die Arbeiter nach zwei Jahren das Land wieder verlassen müssen und durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden sollen. Da ein Familiennachzug untersagt ist, könnte man auch von einer modernen Form des Menschenhandels sprechen, bei dem die Arbeiter nach Belieben und den Bedürfnissen von Politik und Wirtschaft hin- und hergeschickt werden können. Letztlich sind es die Industrieunternehmen, die diesem Treiben ein Ende setzen. Sie leiden nämlich darunter, dass alle zwei Jahre in der Belegschaft rotiert werden muss, sie haben große innerbetriebliche Probleme, weil die ausländischen Arbeiternehmer kein deutsch sprechen und die Einarbeitungszeit aus diesen Gründen viel zu lange dauert und nicht effizient ist.
Neues Anwerbeabkommen 1964
Auf Grund der massiven Beschwerden der deutschen Wirtschaft wird am 19. Mai 1964 in einer Neufassung des Anwerbeabkommens mit der Türkei nicht nur das Rotationsprinzip aufgehoben, sondern auch der Familiennachzug erlaubt. 1973 kommt es mit der ersten Ölkrise zu einer Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik, in deren Gefolge sämtliche Anwerbeabkommen gekündigt werden. Zu der Zeit befinden sich rund 600.000 Türkinnen und Türken in Westdeutschland. Sie werden vor die Wahl gestellt, in die Türkei zurückzukehren oder dauerhaft zu bleiben. Die meisten bleiben und begründen damit den Beginn einer kontinuierlichen türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Es ist nach der Einwanderung polnischer Bergarbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die zweite Zuzugswelle, ohne die der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik nicht geglückt wäre. Damals hatten polnische Bergleute für eine rasche Industrialisierung des deutschen Kaiserreichs gesorgt und waren bald als „Kumpels“ aus dem Ruhrgebiet nicht mehr wegzudenken.
In den 1960er Jahren waren die türkischen Arbeiter zwar auch maßgeblich am „Wirtschaftswunder“ beteiligt, haben durch ihre Beiträge die Kassen der Sozialversicherungen stabilisiert und ihren Lohn größtenteils in der Bundesrepublik ausgegeben, aber die ihnen gebührende Anerkennung dafür haben sie nie erlangt. Ohne türkische Arbeitnehmer wäre die Rentenversicherung schon Anfang der 70er Jahre zusammengebrochen. Sie haben in die Kassen der anderen Sozialversicherungssysteme eingezahlt, obwohl die Leistungen, die sie daraus erhalten haben, nur einen Bruchteil davon ausgemacht haben. Bis heute schleppen wir diesen misslungenen Anfang der Beziehung zwischen der deutschen Bevölkerung und den nicht-deutschen Arbeitskräften mit uns herum. Es wird Zeit, eine echte Integrations- und Willkommenspolitik zu beginnen.
BLOG | september 2021 | Die hoffnungsrede von james francis byrnes
Eine Rede, die Hoffnung machte
6. September 1946: Im Zuschauerraum des Stuttgarter Staatstheater haben sich etwa 2000 Gäste versammelt. Die meisten sind Angehörige der amerikanischen Besatzungsmacht, die in Stuttgart, der heimlichen Hauptstadt der USA in ihrer Besatzungszone, stationiert sind. Unter die Gäste haben sich auch die Ministerpräsidenten der drei Länder der amerikanisch besetzten Zone, der Stuttgarter Erzbischof und einige Verwaltungschefs der Gemeinden gemischt. Sie sind gebeutelt von den Alltagssorgen dieser Nachkriegsmonate, die meisten werden zum ersten Mal eine Rede in englischer Sprache hören.
Sie erwarten eine Rede des amerikanischen Außenministers James Francis Byrnes, bei der es sich um mehr als nur eine Grußbotschaft des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman handeln soll. Byrnes kommt aus Berlin und zwar in dem Zug, der als „Führersonderzug“ von Adolf Hitler genutzt worden ist und jede Menge Luxus bietet: Salon, Speisewagen und Schlafgemach. Als er den Saal des Stuttgarter Staatstheaters betritt, sind die Erwartungen hoch, denn es kündigt sich ein Paradigmenwechsel in der US-amerikanischen Außenpolitik an. Aus der Militärmacht USA, die sich als Schutzmacht des amerikanischen Kontinents sieht, wird an diesem 6. September 1946 die „Weltpolizei“. Die USA wollen eine aktive Politik in Europa betreiben und im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Europa auch militärisch vertreten sein. Fortan mischen sich die USA in die Freiheitskämpfe all jener Völker ein, die sich von kommunistischer Unterdrückung bedroht sehen.
Alliierte Siegermächte entfremden sich
Byrnes beginnt seine Rede, in dem er die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs schildert. Seit der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 hätten sich die einstigen Waffenbrüder des Zweiten Weltkriegs mehr und mehr entfremdet. Die USA hätten „wohl oder übel lernen müssen, dass wir alle in einer Welt leben, von der wir uns nicht isolieren können“.
Im Gegensatz zur UdSSR hätten sich die USA und die westlichen Alliierten, allen voran das Vereinigte Königreich, an den in Potsdam vereinbarten Grundsatz gehalten, „es der deutschen Wirtschaft zu ermöglichen, als Wirtschaftseinheit zu arbeiten“. Allerdings habe der gemeinsame alliierte Kontrollrat mit Sitz in Berlin nicht die dazu notwendigen Maßnahmen eingeleitet, obwohl „die Potsdamer Beschlüsse die notwendigen deutschen Zentralverwaltungskörper ausdrücklich verlangen“. Diese diplomatisch-freundliche Umschreibung des Bruchs zwischen der UdSSR und den westlichen Alliierten signalisiert den Zuhörern, dass die USA einen neuen Kurs gegenüber den Deutschen in den drei westlichen Zonen einschlagen wollen.
Byrnes konkretisiert diesen neuen Kurs, indem er von einer Wirtschaftseinheit Deutschlands spricht. Dafür müssten die Zonenschranken fallen, „soweit sie das Wirtschaftsleben und die wirtschaftliche Betätigung in Deutschland betreffen“. Was erst noch etwas nebulös klingt, wird im nächsten Gedanken konkret:
„Die jetzigen Verhältnisse in Deutschland machen es unmöglich, den Stand der industriellen Erzeugung zu erreichen, auf den sich die Besatzungsmächte als absolutes Mindestmaß einer deutschen Friedenswirtschaft geeinigt hatten“.
Die Schranken zwischen den vier aus Sicherheitsgründen von den Alliierten besetzten Zonen zu überwinden, sei „weit schwieriger als die zwischen normalen Staaten“, so dass es an der Zeit sei, die Zonengrenzen nicht länger als „eine Kennzeichnung für abgeschlossene wirtschaftliche oder politische Einheiten“ zu betrachten. Den Zuhörern stockt der Atem, der hessische Ministerpräsident Karl Geiler kann seine Tränen nicht unterdrücken und der spätere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard schreibt in jenen Tagen von einer „befreienden Tat“ des amerikanischen Außenministers, der den Deutschen die Möglichkeit eröffnet hätte, ihr „eigenes Schicksal zu gestalten“.
Katastrophale Lage im Nachkriegsdeutschland
Die Reaktionen sind nachvollziehbar, eröffnen sie doch zumindest für die Westzonen einen Weg aus der katastrophalen Lage, in der sich die besiegten Deutschen etwas mehr als ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befinden. Ihr Alltag ist geprägt von Hunger, zerstörter Infrastruktur, zerbombten Städten und den erschreckenden Erkenntnissen, die der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess über die Gräueltaten in deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslagern zu Tage gefördert hat. Die meisten Deutschen stehen vor dem Nichts, haben keine Zukunftsperspektive und zudem sind Millionen aus Osteuropa vertriebene Deutsche ins Land geströmt, für die es weder Arbeit noch ausreichend Unterkünfte gibt.
„Der Hauptzweck der militärischen Besetzung war und ist, Deutschland zu entmilitarisieren und entnazifizieren“, fährt Byrnes fort und macht damit deutlich, dass die Aufhebung der „künstlichen Schranken“ für die westdeutsche Wirtschaft nicht zu einer Wiederaufrüstung führen dürfe. Da ein wirtschaftlicher Kollaps im besiegten Deutschland nicht Ziel der amerikanischen Besatzungspolitik sei, konkretisiert Byrnes die Pläne der US-Administration. Zum 1. Januar 1946, so Byrnes, werden sich die amerikanische und die britische Zone zu einem „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“ zusammenschließen. Die „Bizone“ ist geboren, der sich im März 1948 die französischen Besatzer anschließen und aus den Deutschen in den westlichen Besatzungszonen die „Eingeborenen von Trizonesien“ machen, wie es in einem Schlager des Kölner Karnevalssängers Karl Berbuer heißt.
Niemand im Stuttgarter Theater ahnt, welche Auswirkungen diese neue britisch-amerikanische Politik haben wird. Wenig später kommt noch das „European Recovery Programm“ dazu, das im Volksmund als „Marschall-Plan“ – benannt nach dem Byrnes Nachfolger George C. Marschall - bekannt ist. Die Aufhebung der wirtschaftlichen Schranken durch die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums in den Westzonen ist die Grundlage für die später als „Wirtschaftswunder“ berühmt gewordene wirtschaftliche Erholung der 1949 aus „Trizonesien“ gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Aber die neue amerikanische Deutschlandpolitik war keineswegs allein aus dem Grund entstanden, den deutschen Lebensstandard zu heben.
Die USA werden Weltpolizist und die Deutschen Teil des Kalten Kriegs
Vielmehr wollte der amerikanische Präsident Harry S. Truman die Westdeutschen im beginnenden Kalten Krieg auf seiner Seite haben. Ähnlich wie die ebenfalls 1949 aus der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone entstandene Deutsche Demokratische Republik auf der östlichen Seite sollte die Bundesrepublik auf der westlichen Seite der Demarkationslinie ein treuer Vasall der westlichen Wertegemeinschaft werden. Und dazu – so das Kalkül von Truman – war die wirtschaftliche Prosperität der westdeutschen Wirtschaft unabdingbare Voraussetzung. Truman löste damit – ohne es zu wollen – eine Entwicklung aus, die die Bundesrepublik binnen weniger Jahrzehnte an die Spitze der Industrienationen führen und zu einem angesehenen Mitglied der G-7-Familie machen sollte. Aber das ist noch nicht alles, denn Außenminister Francis Byrnes vollführt vor den Augen des deutschen Publikums eine zweite – dieses Mal außenpolitische - Wende der USA, als er sagt:
„Im Jahre 1917 wurden die Vereinigten Staaten zur Teilnahme am ersten Weltkrieg gezwungen. Nach diesem Krieg weigerten wir uns, dem Völkerbund beizutreten. Wir glaubten, uns den europäischen Kriegen fernhalten zu können, und verloren das Interesse an europäischen Angelegenheiten. Dies schützte uns aber nicht davor, zum Eintritt in den zweiten Weltkrieg gezwungen zu werden. Wir wollen jenen Fehler nicht wiederholen. Wir sind entschlossen, uns weiter für die Angelegenheiten Europas und der Welt zu interessieren. Wir haben zur Organisation der Vereinten Nationen beigetragen und glauben, dass dadurch Angreifernationen davon abgehalten werden, Kriege anzufangen. Weil wir das glauben, wollen wir die Vereinten Nationen mit unserer ganzen Macht und allen unseren Hilfsquellen unterstützen.“
In der amerikanischen Administration hatte in den Monaten zuvor die Erkenntnis Platz gegriffen, dass die ideologische Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Lager unter der brachialen Führung des sowjetischen Machthabers Stalin nicht an den USA und nicht an Europa vorbeigehen wird. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA das europäische Schlachtfeld zwar als Sieger verlassen, waren ein paar Jahre später doch eigentlich Verlierer. Denn die von den USA maßgeblich erdachte Friedensordnung hielt kaum mehr als zehn Jahre. In dieser Zeit brachte Europa Faschismus, Kriegstreiberei, Nationalismus, ungezügelten Revanchismus und einen blutrünstigen Antisemitismus hervor, was in einem zweiten, weitaus schlimmeren Weltkrieg mündete. Und wieder mussten die Vereinigten Staaten von Amerika etwas tun, was die Mehrheit der Amerikaner ablehnte – nämlich in einen Krieg außerhalb des amerikanischen Kontinents eintreten. Aber der Angriff auf den Marinestützpunkt Pearl Harbour, im Süden der Insel Hawaii am 7. Dezember 1941, ließ dem damaligen US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt kaum eine andere Wahl, als dem deutschen Verbündeten Japan den Krieg zu erklären und damit die deutsche Kriegserklärung an die USA auszulösen.
Von der Monroe-Doktrin zur Truman-Doktrin
Mit diesem Kriegseintritt hob Roosevelt die Gültigkeit der Monroe-Doktrin von 1823 (siehe Blog 1/2020) auf. Jene Doktrin beschränkte das amerikanische Interesse auf den eigenen Kontinent und schwor jeder Einmischung in kriegerische Auseinandersetzungen an einer anderen Stellt der Erde ab. Das war die innere Logik des Rückzugs der Amerikaner aus Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Als Lehre aus den Ereignissen nach 1918 wollen die USA nach 1945 aktiv an der Friedenssicherung in Europa mitarbeiten, die Stabilität zumindest des westlichen Teils des Kontinents garantieren und gemeinsam mit den westlichen Verbündeten den Kampf gegen das kommunistische Lager im Kalten Krieg aufnehmen. Aus der Monroe-Doktrin wird wenig später die Truman-Doktrin, die man als „Begründung“ für die amerikanische Rolle als Weltpolizei deuten kann:
„Es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre Weise selbst bestimmen können. Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt - und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation“.
Fortan waren die USA die Weltpolizisten, griffen überall politisch und militärisch ein, wo es galt, den ideologischen Gegner zu bekämpfen. Sämtliche Stellvertreterkriege der Nachkriegszeit fanden unter Beteiligung der US-Army statt und forderten einen hohen Blutzoll bei den eigenen Soldaten. Als 1990 der kalte Krieg vorbei war, Deutschland und Europa nicht mehr getrennt waren und die Sowjetunion ihrem Ende entgegentaumelte, haben es die USA nicht vermocht, diese Rolle wieder loszuwerden, weil der Kampf gegen den internationalen Terrorismus an die Stelle des Ost-West-Konfliktes im 20. Jahrhundert getreten war. Donald Trump schließlich machte sich die öffentliche Meinung zu eigen und versprach, möglichst viele amerikanische Soldaten nach Hause zu holen. Der Rückzug aus Afghanistan war Teil dieses Versprechens und eine Rückkehr zur Monroe-Doktrin des Jahres 1823.
Insofern hat die historische Rede von Francis Byrnes von 1946 den außenpolitischen Weg der USA für die nächsten 70 Jahre vorgezeichnet. Die Rede war Wegweiser und zugleich Wendepunkt für Amerikas Politik. Außenminister Francis Byrnes bereinigte die Fehler der USA nach dem Ersten Weltkrieg und gab den Deutschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, als er zum Schluss seiner Rede sagte:
„Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben."
BLOG | August 2021 | der Mauerbau in berlin und die deutsche teilung
60 Jahre Berliner Mauer
Es sind dramatische Tage im Sommer 1961. Quasi über Nacht beginnt die DDR mit dem Bau einer Mauer entlang der innerstädtischen Demarkationslinie zwischen dem sowjetischen Sektor und den drei von den westlichen Alliierten verwalteten Sektoren Berlins. Die Bilder von weinenden Menschen, die mit Taschentüchern über die allmählich höher werdende Mauer winken, gehen um die Welt. Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Willy Brandt, richtet einen flammenden Appell an die Angehörigen der Nationalen Volksarmee, „nicht auf Landsleute“ zu schießen. Ohne Erfolg: Am 24. August 1961 wird er gerade mal 24jährige Günter Litfin beim Versuch, durch den Humboldthafen die DDR schwimmend und tauchend zu verlassen, von DDR-Transportpolizisten mit gezielten Schüssen in den Hinterkopf getötet. Nach drei Stunden wird seine Leiche - vor den Augen Hunderter Zeugen auf der Westberliner Seite des Hafenbeckens - geborgen.
Diese Brutalität, mit der die DDR ihre Bürger am Verlassen des Landes hindert, hat eine Vorgeschichte, die eigentlich schon 1945/46 mit der Bodenreform beginnt. Angetreten waren die Gründer der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Vorsatz, nach dem Desaster des NS-Regimes ein besseres und vor allem friedliches Deutschland aufzubauen. Aber schon in den ersten Monaten offenbart sich das, was 1953 zu einem blutigen Aufstand, 1961 zum Bau der Mauer und einer innerdeutschen Absperranlage und 1989 zum Zusammenbruch der DDR führen sollte. Denn die Bodenreform, die auf Ansage der Sowjetunion in der DDR und den anderen Ostblockstaaten durchgeführt wurde, enteignete entschädigungslos die so genannten Großgrundbesitzer sowie tatsächliche und vermeintliche Kriegsverbrecher oder NSDAP-Mitglieder. Grund und Boden über 100 ha wurde vergemeinschaftet und „Neubauern“, Landlosen oder Kleinpächtern zur vererbbaren Nutzung übereignet. Das Ergebnis waren zornige, verarmte ehemals landbesitzende Bauern und plötzlich zu Land und Vieh gekommene ehemals mittellose Landwirte.
Aber die neuen Landbesitzer hatten oft keine Ahnung von Ackerbau und Viehzucht, ihre Höfe waren zu klein und es fehlte an Maschinen. Da kam die Idee einer „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“ (LPG) gerade recht, denn die versprach gemeinsame Anschaffung und Nutzung von Maschinen und gegenseitige Hilfe für die landwirtschaftlich unerfahrenen Städter, die durch die Bodenreform unvermittelt Bauern geworden waren. Ab 1952 wuchs der Druck, einer solchen LPG beizutreten, weil das Genossenschaftsprinzip der neuen Staatsräson entsprach und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt wurde. Repressionen und Diskriminierung waren nun an der Tagesordnung. Viele Bauern wollten sich nicht freiwillig einer LPG unterordnen, resignierten oder verließen über die so genannte „grüne Grenze“ die DDR. Dieser massenhafte Vorgang unterminierte das Vertrauen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger in eine gute Zukunft ihres Landes.
Gleichzeitig begannen die Staatsorgane der DDR, Anfang der 1950er Jahre den etwa 125 Kilometer langen Berliner Außenring dicht zu machen und die persön-lichen wie sozialen Verbindungen ins brandenburgische Umland zu kappen. So wurde West-Berlin zu einem Fremdkörper auf DDR-Gebiet. Die immer wieder propagierte Zugehörigkeit zur westdeutschen Bundesrepublik war für die SED-Führung nicht nur ein Ärgernis, sondern ein Angriff auf die eigene territoriale Integrität. West-Berlin wurde zu einem Streitpunkt im Kalten Krieg. Überhaupt die Bundesrepublik Deutschland: Für die DDR war sie der Hauptfeind in der west-östlichen Auseinandersetzung der Systeme. Hier der „gute“ und zukunftsfähige Sozialismus, dort der menschenfeindliche und imperialistische Kapitalismus, dessen westdeutsche Agenten angeblich vor einer atomaren Auseinandersetzung nicht zurückschrecken würden.
Die Führung der DDR bekam Unterstützung vom großen Bruder in Moskau, erst in Person Stalins und dann durch dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow. Wie überall im Ostblock demonstrierte die Sowjetunion ihren Führungsanspruch, übte großen Einfluss auf die Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes aus und ließ immer dann die militärischen Muskeln spielen, wenn das kommunistische System ins Wanken geriet: 1953 beim Volksaufstand in der DDR, 1956 bei den Aufständen in Polen und Ungarn und später 1968 bei der Niederschlagung des Prager Frühlings in der CSSR. Einzig die DDR unter dem als herrisch verschrieenen Walter Ulbricht brachte es fertig, Eigenständigkeit nicht nur zu demonstrieren, sondern auch – jedenfalls teilweise – durchzusetzen.
Als Nikita Chruschtschow nach dem Tod Stalins im März 1953 einen neuen, liberaleren Kurs intonierte, setzte Walter Ulbricht unnachgiebig auf das Programm „Aufbau des Sozialismus“, dem später noch das Wort „planmäßiger“ vorangestellt wurde. Dieser nunmehr planmäßige Aufbau des Sozialismus sah mehr Arbeit für weniger Lohn, weiterhin eingeschränkte Reisemöglichkeiten und andere Maßnahmen vor, die die Legitimierung der DDR-Regierung beim eigenen Volk immer weiter zerstörten. Als im Sommer 1953 die Menschen in vielen Städten gegen diese Politik demonstrierten und skandierten, dass es gesamtdeutsche, freie Wahlen geben sollte, reagierte die DDR zwar vordergründig mit der Rücknahme einiger Maßnahmen, aber die Gründe der Unzufriedenheit in der Bevölkerung blieben: keine Reisemöglichkeiten, keine aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung und Mangel an allen Ecken und Enden. Mehr noch: Der Aufstand wurde durch die sowjetischen Besatzungstruppen militärisch niedergeschlagen, 55 Tote waren zu beklagen, sieben Menschen wurden nach Todesurteilen durch DDR-Gerichte hingerichtet, vier weitere Personen starben in der Haft – genauso viele begingen Suizid. Zudem gab es Dutzende zum Teil langjährige Haftstrafen.
Der Aufstand des 17. Juni 1953 wurde nicht nur brutal niedergeschlagen, sondern war auch ein Fanal in Ost und West: Für die einen als Warnung, die Macht der sozialistischen oder kommunistischen Einheitsparteien nicht herauszufordern, für die anderen als Erkenntnis, es mit einem wahrhaft unmenschlichen Regime zutun zu haben. Die Bundesregierung hatte schon 1949 die Parole ausgegeben, allein die legitime Vertretung aller Deutschen, also auch der Deutschen in der DDR, zu sein. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 bestätigte in Westdeutschland diesen „Alleinvertretungsanspruch“ und ließ den Tag zum Feiertag („Tag der deutschen Einheit“) werden. Darin wurde die westdeutsche Bundesregierung von der „freien Welt“ unterstützt. Mehr noch: Die westlichen Regierungen übernahmen eine poli-tische Doktrin, die dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Nachdruck verleihen sollte. Walter Hallstein, der spätere Kommissionsvorsitzende der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), formulierte 1954 am Rande einer deutsch-französischen Konferenz in Paris, die nach ihm benannte „Hallstein-Doktrin“: Jeder Staat, der mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnimmt, muss mit politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen rechnen, weil die Bundesregierung dieses Vorgehen als „unfreundlichen Akt“ ansieht.
Da es kaum einen Staat auf der Welt gab, der in den 1950 und 1960er Jahren auf gute wirtschaftliche Kontakte mit dem Land des Wirtschaftswunders verzichten wollte, zeigte die Hallstein-Doktrin große Wirkung: Die DDR war außerhalb des sozialistischen Lagers diskreditiert und isoliert, quasi nicht existent. Die ständige, internationale Missachtung der von Bundeskanzler Konrad Adenauer verächtlich als „Pankower Regime“ verleumdeten DDR-Regierung führte zu eklatanten Män-geln in der DDR-Wirtschaft und zu Versorgungsengpässen mit dringend benötigten Rohstoffen oder Bauteilen. Dadurch wurde das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West immer größer, obwohl Ulbricht den Auftrag erteilt hatte, den Westen wirtschaftlich erst einzuholen, um ihn dann zu überholen. Der ersten Delegitimierung auf der internationalen Bühne folgte auf diesem Weg die zweite. Zigtausend Pendler, die Tag für Tag in West-Berlin arbeiteten und billig in Ost-Berlin lebten, berichteten vom Schlaraffenland im Westen. Kein Mangel an Rohstoffen und anderen Produktionsmitteln, faire von Gewerkschaften erstrittene Löhne und eine Freizügigkeit, der auf den ersten Blick keinerlei Grenzen gesteckt war. Dazu kamen lukrative Arbeitsangebote für gut ausgebildete Arbeitskräfte aus dem Osten. Manch einem wurde für die Anwerbung einer Arbeitskraft aus dem Osten eine Prämien gezahlt. All das ergab eine zunehmende Destabilisierung des SED-Regimes.
Walter Ulbricht liebäugelte schon lange mit einer Abschottung der DDR gegenüber dem kapitalistischen Ausland. Allein die Zahl der Flüchtlinge machte den Handlungsbedarf sichtbar: 2,7 Millionen Menschen verließen zwischen 1949 und dem Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 die DDR. Viele waren gut ausgebildet, Ärzte, Lehrer oder Ingenieure. Sie hatten Kinder, die in der DDR zur Schule gegangen waren und nun die Früchte ihrer Ausbildung im Westen genießen konnten. Die DDR-Regierung wollte die Sowjetunion bewegen, Abwehrmaßnahmen zuzustimmen, war aber immer wieder auf Ablehnung gestoßen. Nikita Chruschtschow verfolgte einen anderen Kurs, der darauf abzielte, die westlichen Alliierten – allen voran die USA – zurückzudrängen und Deutschland zu entmilitarisieren. 1958 kleidete er diese politische Strategie in ein Ultimatum, das mit einem separaten Friedensvertrag zwischen der DDR und der UdSSR drohte und der DDR die alleinige Kontrolle über die Zufahrtswege nach West-Berlin eingeräumt hätte. Das hätte die Rechte der westlichen Alliierten betroffen und wäre sicher Anlass für härtere, vielleicht sogar militärische Auseinandersetzungen gewesen.
Chruschtschow ließ das Ultimatum, vielleicht auch wegen des hohen Risikos einer Eskalation, auslaufen und versuchte Anfang Juni 1961 bei einem Gipfeltreffen in Wien den neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy von einem Rückzug aus West-Berlin zu überzeugen. Als das fehlschlug und Kennedy kurze Zeit später im Gegenteil die „three essentials“ als Eckpfeiler der amerikanischen Außenpolitik präsentierte, schwenkte Chruschtschow um. Bei einer Tagung des Warschauer Paktes willigten alle Teilnehmer Anfang August 1961 in den Plan ein, Absperranlagen zum kapitalistischen Westen zu errichten. Dafür Ausschlag gebend war die „three essentials“ Rede, die John F. Kennedy am Abend des 25. Juli 1961 im amerikanischen Fernsehen hielt. Dabei machte der amerikanische Präsident erstens unmissverständlich klar, dass „unsere Anwesenheit in West-Berlin“ nicht zur Disposition steht. Zweitens bestand er auf den freien „Zugang zu dieser Stadt“ und garantierte drittens der West-Berliner Bevölkerung „ihre Sicherheit selbst angesichts von Gewalt“.
Die Rede wurde im Westen mit Beifall, im Osten mit Kritik aufgenommen. Aber die Experten im Kreml lasen aus dem Redetext noch etwas anderes: Der amerikani-sche Präsident hatte seine Garantien nur für West-Berlin und seine Einwohner gegeben und lediglich von den „zwei Millionen“ Einwohnern der westlichen Stadtteile, anstatt von 3,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger Gesamtberlins gesprochen. Zwar hatte Kennedy signalisiert, dass die „three essentials“ nicht verhandelbar sind, aber damit auch gesagt, was die US-amerikanische Administration hinnehmen würde: Nämlich alle Maßnahmen, die die „three essentials“ nicht betrafen und den Status Quo West-Berlins nicht veränderten. Kennedy hatte seine Rede bewusst mit dem Ziel gehalten, der Sowjetunion eine rote Linie aufzuzeigen, die nicht überschritten werden durfte. De facto konnte man das in Ost-Berlin und Moskau aber auch als eine politische Zustimmung zu Veränderungen auf dem Gebiet der DDR und Ost-Berlins verstehen.
Mit dieser Analyse war die Sorge vor einem Atomkrieg genommen. In Moskau und den anderen Hauptstädten des Ostblocks war nun klar, was die USA hinnehmen würden und was nicht. Hielt sich der Ostblock an diese Linie, war ein militärisches Eingreifen der USA oder der NATO mehr als unwahrscheinlich. Mit dieser Erkennt-nis und der Unterstützung des Warschauer Paktes im Rücken wagte sich die SED-Führung an den Bau der Berliner Mauer, die als „Aktion Rose“ kurz nach Mitternacht am 13. August 1961 begann. Mauer und innerdeutsche Sperranlagen befanden sich DDR-Territorium, der Status Quo von West-Berlin war damit nur indirekt und die Rechte der westlichen Alliierten im Westteil Berlins überhaupt nicht betroffen. Der Bau der Berliner Mauer tangierte also Kennedys „three essentials“ nicht und so gesehen hat der amerikanische Präsident im US-Fernsehen am 25. Juli 1961 das eigentliche „grüne Licht“ für den Mauerbau gegeben.
BLOG | juli 2021 | Juli 1914 - der weg in die urkatastrophe europas
Juli 1914 – Der Weg in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
Kaum eine Zeitspanne von etwas mehr als 30 Tagen hat die Welt derartig aus den Angeln gehoben wie die Zeit vom 28. Juni 1914 bis zum 4. August 1914. Am 28. Juni 1914 werden in Sarajewo das österreichische Thronfolgerpaar Franz Ferdi-nand und Sophie Herzogin von Hohenberg erschossen. Eine Gruppe bosnisch-serbischer Täter wird rasch gefasst, aber ihre Absichten bleiben ebenso verborgen wie auch sofort über ihre vermeintlichen Hintermänner spekuliert wird. Unmittelbar nach dem Attentat wird eine Untersuchungskommission eingesetzt, die heraus-finden soll, inwieweit die serbische Regierung in Belgrad Auftraggeberin des feigen Anschlags ist.
Ohne die Ergebnisse des mit der Aufklärung beauftragten österreichischen Diplo-maten Friedrich Wiesner abzuwarten, machen sich die gekrönten Häupter Europas daran, ihre offenbar lang gehegten hegemonialen Absichten in die Tat umzusetzen und mit einem angeblichen „serbischen Auftragsmord“ zu begründen. Der aller-dings Ende Juni 1914 nichts weiter als reine Spekulation ist. Als der deutsche Staatssekretär Heinrich von Tschirschky versucht, mäßigenden Einfluss auszu-üben, wird er von Kaiser Wilhelm II. barsch zurechtgewiesen: „Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald!“ Einen Tag später sinniert der ungarisch-österreichische Diplomat Alexander Graf von Hoyos über einen „Präventivkrieg gegen Russland“, weil das Zarenreich Drahtzieher einer panslawischen Verschwö-rung in der k.u.k.-Monarchie sein könnte. Kaiser Franz Joseph pflichtet ihm am 2. Juli 1914 bei und plädiert für eine „Isolierung und Verkleinerung Serbiens“. Derweil weisen die inhaftierten Täter unentwegt daraufhin, lediglich ein Fanal gegen die Unterdrückung der slawischen Minderheit in Österreich-Ungarn gesetzt und keiner-lei Verbindung zur Regierung in Belgrad zu haben. Den Vorwurf einer Verschwö-rung Serbiens weisen sie zurück.
Blankoscheck
Am 5. Juli 1914 schlägt dann die Stunde des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, als er verkündet, Deutschland werde „treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen“. Dieser Blankoscheck feuert die Regierung in Wien an, ein Ultimatum an Serbien zu stellen, welches nach den Worten ihres eigenen Außenministers Leopold Graf Berchthold „nicht gentlemanlike“ ist. Serbien sollte demnach österreichische Untersuchungen im eigenen Land zu lassen und öster-reichische Behörden in Serbien schalten und walten lassen. In diesem Moment meldet sich der Diplomat Friedrich Wiesner mit einem Untersuchungsergebnis zu Wort. Eigentlich müsste die Kriegstreiberei jetzt zu Ende sein, denn die serbische Regierung in Belgrad, schreibt Wiesner an Kaiser Franz Joseph, habe mit dem Attentat nichts zu tun. Er fügt eine Vielzahl von Belegen und Zeugenaussagen bei, aber seine Untersuchungsergebnisse landen im Giftschrank. An diesem 13. Juli 1914 hätte der Erste Weltkrieg ohne Gesichtsverlust für eine der beteiligten euro-päischen Mächte verhindert werden können. Aber die Verlockung, nicht nur die europäische, sondern gleich die Weltmacht zu erringen, ist in Wien, Paris, Berlin und St. Petersburg offenbar zu groß.
Die Großmächte agieren wie von Sinnen, beachten die Untersuchungsergebnisse von Friedrich Wiesner nicht und lavieren stattdessen den Kontinent zielgerichtet in den Untergang. Frankreich Präsident Raymond Poincaré besucht Mitte Juli 1914 Russland und ermutigt Zar Nikolaus II. zu einer „unnachgiebigen Haltung gegen-über Österreich und Deutschland“ und sichert Unterstützung zu. Dieser zweite Blankoscheck hat verheerende Wirkung, denn nun fühlen sich Deutschland und Österreich-Ungarn zunehmend von einem durch Frankreich gestärkten Russland unter Druck gesetzt. Zwei Tage später fordert der britische Außenminister Sir Edward Grey Deutschland auf, mäßigend auf seinen österreichischen Nachbarn einzuwirken. Diese Bemerkung bringt den deutschen Kaiser auf die Palme: „Das ist eine ungeheuerliche britische Unverschämtheit! (…) Serbien ist eine Räuberbande, die für Verbrechen gefasst werden muss. (…) Echt britische Denkungsweise und herablassend befehlende Art, die ich abgewiesen haben will!“
Mobilmachungen
Nun mischen auch die Russen mit: Das Militär wird am 24. Juli teilweise mobili-siert, während Außenminister Sasonow schon mal vorsorglich darauf hinweist, dass Russland eine „Zerstörung des Gleichgewichts auf dem Balkan“ verhindern werde. Am 25. Juli nimmt die serbische Regierung überraschend die meisten Forderungen des österreichischen Ultimatums an, was einen Waffengang erneut überflüssig macht. Aber schon einen Tag später werden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, der k.u.k.-Gesandte Wladimir Baron Giesl verlässt Belgrad gemäß der Anweisung seines Außenministers Leopold Graf Berchthold: „Wie immer die Serben reagieren – Sie müssen die Beziehungen abbrechen und abreisen; es muss zum Krieg kommen“. Nun beteiligt sich auch die britische Re-gierung aktiv am Konflikt auf dem Kontinent und warnt davor, dass Großbritannien Garantiemacht der belgischen Souveränität ist und ein deutscher Angriff über Belgien auf Frankreich unweigerlich den Eintritt des Empire in den Krieg bedeuten würde.
Kaiser Wilhelm II. zögert, die Mobilmachung zu unterzeichnen, schlägt vor, Belgrad als Pfand einzunehmen und eine politische Neuordnung auf dem Balkan vorzuneh-men. Aber der Chef des Großen Generalstabs, Helmuth von Moltke, drängt zur deutschen Mobilmachung und schlägt britische Vermittlungsbemühungen in letzter Minute aus. Am 2. August 1914 erfolgt dann die deutsche Mobilmachung, Reichskanzler von Bethmann Hollweg tätigt den folgenschweren Satz „England wird wegen eines Fetzen Papiers den Frieden nicht brechen“ und begeht damit einen Irrtum, der Millionen Soldaten das Leben kosten wird.
Machtpoker mit Folgen
Der Krieg ist das Ergebnis eines Vabanque-Spiels um die Weltmacht. Die wüste Rhetorik der beteiligten Politiker hat binnen 37 Tagen dazu geführt, dass sich alle angegriffen fühlen und mit dem nun beginnenden Ersten Weltkrieg dem europä-ischen Kontinent das schlimmste, vorstellbare Gift einträufeln. Die Auswirkungen dieses erschreckenden Fehlverhaltens sind bis in unsere Tage zu spüren. Der Erste Weltkrieg wird mit erbitterter Härte und unter großen Opfern auf allen Seiten geführt. Am Ende werden mit dem Versailler Friedensvertrag Deutschland nicht nur die Alleinschuld, sondern auch erhebliche Reparationszahlungen und eine massive Schwächung der Armee aufgebürdet. In Deutschland ist dieser Vertrag ein gefun-denes Fressen für die nationale Rechte, allen voran für die NSDAP, deren Propa-gandisten landauf, landab eine Revision des „Schandfriedens“, den Aufbau einer „Volksgemeinschaft“ versprechen, im Gleichschritt durch Deutschlands Straßen marschieren, Lieder von „gefallenen Kameraden“ singen und der Weimarer Repu-blik den Untergang schwören. Sie predigen die Wiederherstellung der deut-schen Nation, wollen dass sich die Deutschen zur Vorherrschaft über Europa aufschwin-gen und gewinnen dafür millionenfache Unterstützung. „Ja“ schreien die enthusia-stischen Menschen, Hitler hat Recht, lasst uns eine neue Zeit beginnen!
Aber diese neue Zeit führt geradewegs in den Zweiten Weltkrieg, der ein "Rassen- und Vernichtungskrieg" gewesen ist und den Deutschen angeblich benötigten „Lebensraum im Osten“ bescheren sollte. Tatsächlich beschert er den Deutschen aber die größte aller vorstellbaren Katastrophen durch die Shoah - den Völkermord an den europäischen Juden. In Osteuropa hinterlassen deutsche Panzer und ihre Soldaten verheerende Zerstörungen, vor deren qualmenden Resten die Welt 1945 erstarrt. Es kommen Bilder aus den Vernichtungslagern hinzu, die einen Bick in die Untiefen menschlicher Verhaltensweisen geradezu aufzwingen.
Kalter Krieg
Ein weiteres Mal richten die alliierten Sieger über die Deutschen, bevor sie sich heil-los untereinander zerstreiten. Sie teilen das Land und den Kontinent in zwei Lager, vertreiben Millionen Menschen von einem Land in ein anderes und sorgen so für Tod und Leid in einem kaum vorstellbaren Ausmaß. 1949 lassen die Alliierten die Gründung zweier deutscher Staaten zu. DDR und BRD sind fortan die eifrigsten Vasallen ihrer ehemaligen Kriegsgegner und die innerdeutsche Grenze wird zur Nahtstelle des Kalten Krieges, der in den kommenden 45 Jahren von Asien über Afrika und Europa die ganze Welt erfasst.
Im sozialistischen Ostblock werden Aufstände in Polen, Ungarn, in der DDR, in der CSSR und wieder in Polen mit brutaler militärischer Gewalt durch den „großen Bruder“ in Moskau niedergeschlagen. Erst als die Sowjetunion von inneren Wider-sprüchen und einer maroden Wirtschaft zerfressen ist, stellt sie sich den Befrei-ungskämpfen zunächst in Polen und dann in vielen anderen osteuropäischen Ländern nicht mehr entgegen. Die Folge sind 1989/90 das Ende des sozialisti-schen Ostblocks, die Überwindung der deutschen Teilung und der europäischen Spaltung und der Beginn einer neuen friedlicheren Zeit. Das alles ist das Erbe des verhängnisvollen Juli 1914, als Politiker und Regenten wie besoffen einen Konti-nent dem eigenen Untergang preisgegeben haben.
In den vergangenen 30 Jahren haben wir Deutschen lernen müssen, wie schwierig es ist, die Folgen der beiden Weltkriege auch knapp 80 Jahre nach dem Ende der letzten Kampfhandlungen zu überwinden: Noch immer sind die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht angeglichen, noch immer spüren wir die Sozialisationsunter-schiede zwischen Ost- und Westdeutschen, noch immer ist das politische Verhält-nis zu jenen Ländern kompliziert, die in zwei Weltkriegen Gegner der Deutschen waren und noch immer wird die Bundesregierung mit Reparationsforderungen konfrontiert, die die Verbrechen unserer Vorfahren sühnen sollen. Mit dem Soli-daritätszuschlag – auch wenn der mitunter zweckentfremdet worden ist – versu-chen wir die ökonomischen Unterschiede auszugleichen, die während der Spaltung Europas und der Teilung Deutschlands zwischen den "alten" und den "neuen" Bun-desländern entstanden sind. Und das wiederum wäre ohne den Ersten Weltkrieg nicht geschehen.
BLOG | Juni 2021 | Polens trauma - 1772 bis 1991
Polens Trauma - 1772 bis 1991
Sieht man mal von einigen anderen osteuropäischen EU-Staaten ab, sorgt vor allem die polnische Regierung seit Jahren für Kopfschütteln und Unverständnis innerhalb der Europäischen Union. Von Unvereinbarkeit mit den Werten der EU ist die Rede. Die Unabhängigkeit der polnischen Justiz sei ausgehebelt und die strikte Weigerung der Regierung in Warschau sich konstruktiv an einer europäischen Flüchtlingspolitik zu beteiligen, sorgt für erhebliche Verstimmung. Wegen der umstrittenen Justizreform ist obendrein auch noch ein Vertragsverletzungsver-fahren der EU gegen Polen anhängig. Ein absurder Vorgang, der dazu führen könnte, dass Polen finanzielle Einbußen und den Verlust des Stimmrechts innerhalb der EU hinnehmen müsste.
Sollte es dazu kommen, steht nicht nur Polen, sondern auch die EU vor existenziel-len Problemen, denn auf Dauer lassen sich diese offenbar konträren Auffassungen von Regierungshandeln in Europa nicht unter einen Hut bringen. Da hilft es viel-leicht, in die Vergangenheit zu schauen und das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche nationale Geschichte Polen in den vergangenen rund 250 Jahren hinter sich hat. Ja, 250 Jahre ist der Zeitraum und nicht etwa nur die Jahre seit der EU-Osterweiterung, durch die Polen und sieben weitere ehemalige Ostblockstaaten 2004 in die EU aufgenommen wurden. Diese Erweiterung kam für die meisten dieser Länder zu früh, weil sie kaum Zeit hatten, sich mit ihrer jüngsten Vergangen-heit seit 1945 auseinanderzusetzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie ungefragt Teil der sowjetisch dominierten sozialistischen Welt geworden. Die Traumata dieser Zeit wirken bis heute nach – nicht nur in Polen.
Für Polen aber gilt das ganz besonders. Ein Blick in die polnische Geschichte offenbart nämlich mehr als zwei Jahrhunderte, in denen die Menschen weder frei waren, noch in einem eigenen Staat leben durften. Zwischen 1569 und dem Ende des 18. Jahrhunderts umfasste der mächtige osteuropäische Staat Polen-Litauen weite Teile der heutigen Staatsgebiete von Polen, Litauen, Lettland, Belarus sowie Russland, Estland, Rumänien, Moldau und der Ukraine. Dieser Vielvölkerstaat wurde durch Lehnsgebiete in Preußen, Kurland und in der Walachei ergänzt. Aber zahlreiche Kriege mit Schweden, dem Osmanischen Reich und Russland hatten die Staatskassen geplündert und die Herrschaft von König Stanislaus II. August Poniatowski entscheidend geschwächt. Durch instabile innenpolitische Verhältnis-se war Polen zunehmend in Abhängigkeit des russischen Zarenreichs geraten. Mit dem allmählichen Niedergang der polnisch-litauischen Großmacht begann eine Spirale aus Gier und Aggression der Nachbarn Polens mit dem Ziel das entstande-ne Machtvakuum in Ostmitteleuropa selbst zu besetzen. Die Melange führte zur Annexion des polnischen Staatsgebietes durch Österreich, Russland und Preußen.
1772 setzen Friedrich II. von Preußen, Katharina von Russland und die österreichi-sche Erzherzogin Maria-Theresia einen Plan in die Tat um, den sie schon lange gehegt hatten. Sie verkleinerten das polnische Staatsgebiet um rund 30 Prozent und teilten die Beute unter sich auf. Friedrich II. gab vor, lediglich eine „Landverbin-dung“ zwischen Preußen und Ostpreußen haben zu wollen:
„Wenn man seine getrennten Staaten zu einem Ganzen verbinden kann, so möchte schwerlich ein Sterblicher zu finden sein, welcher das nicht mit Vergnügen unternehmen sollte. Es ist dabei wohl zu bemerken, dass alles noch dazu ohne Blutvergießen abgegangen ist“,
lässt er die Nachwelt wissen und gewährt damit einen tiefen Einblick in seine Seele. Bei dieser ersten Aufteilung Polens unter seinen Nachbarn verlieren knapp 4,3 Millionen Polen ihren Staat und werden entweder „russifiziert“ oder als „Beutepreußen“ einer Germanisierung unterzogen.
Aber damit nicht genug, denn das polnische Drama von raffgierigen Nachbarn umzingelt zu sein, ging am 23. Januar 1793 mit der zweiten polnischen Teilung weiter: Russland annektierte den Rest der Ukraine und Belarus, Österreich okkupierte Westgalizien bis nach Warschau und Preußen verleibte sich das so genannte Südpreußen ein. Weitere 4,2 Millionen Polen standen nun ohne eigenen Staat da. Von Polen blieb lediglich ein 250 Kilometer breiter Streifen zwischen Preußen und Russland übrig. Aber noch immer war der Durst der Nachbarn nicht gestillt, denn am 3. Januar 1795 gliederten Russland Litauen, Österreich die verbliebene Mitte Polens und Preußen den Rest des Landes mit der Hauptstadt Warschau in ihre jeweiligen Staatsgebiete ein. Lediglich Krakau blieb als Freistaat übrig. Polen hatte aufgehört zu existieren, es war der Raublust der europäischen Großmächte zum Opfer gefallen, die diesen Akt als „Befreiung von einem europäischen Unheil“ feierten. Weil Polen es gewagt hatte, sein Schicksal selbst zu bestimmen und dabei auch gegen die Wünsche seiner Nachbarn zu verstoßen, war sein Todesurteil gefällt und knapp 12 Millionen Polen standen am Ende des 18. Jahrhunderts ohne Polen da.
Dieses nationale Schicksal hätte beim Wiener Kongress 1814/15 behoben und entschädigt werden können. Aber stattdessen wurde Polen erneut zum Zankapfel der europäischen Großmächte. Zwar wurde das so genannte „Kongresspolen“ ins Leben gerufen, aber das geopolitische Geschacher machte auch vor diesem neuen Gebilde nicht Halt. Preußen wurde für die Abtretung einiger durch die „polnischen Teilungen“ ergatterten Gebiete mit einem Teil Schlesiens „entschädigt“. Die eben-falls in Wien gegründete Republik Krakau war ein Protektorat der Nachbarn Preus-sen, Russland und Österreich und wurde 1846 von Österreich endgültig annektiert. 1831 war auch die Eigenständigkeit von „Kongresspolen“ beendet, denn Zar Nikolaus I. nahm das Land ein, nachdem er einen antirussischen Aufstand in Polen blutig niedergeschlagen hatte. Wieder waren die Polen ohne eigenen Staat, daran änderten auch zahlreiche Aufstände nichts, die entweder durch Verrat oder an militärischer Unterlegenheit scheiterten.
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts musste die polnische Bevölkerung in den von Preußen und Russland besetzten oder annektierten Zonen eine massive Germanisierung oder Russifizierung über sich ergehen lassen. Die Bezeichnung „Polen“ wurde gestrichen und in Russland als „Weichselland“ geführt. Ähnlich wurde in Preußen verfahren, wo die Nationalität „Polen“ zwar weiterhin akzeptiert, der geographische Begriff „Polen“ hingegen aus preußischen Schulbüchern und Landkarten verbannt wurde. Mit der gescheiterten russischen Revolution Anfang 1905 gewann die nationale Opposition in Polen wieder an Bedeutung, ohne allerdings bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 zum Erfolg zu kommen. Mit dem Kriegseintritt der USA und dem vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vorgelegten 14-Punkte-Programm machten die USA die Schaffung eines polnischen Staates mit einem Zugang zur Ostsee zu einem ihrer Kriegsziele. Damit war der Startschuss für einen unabhängigen polnischen Staates im Falle eines alliierten Sieges gefallen.
Die zweite polnische Republik wurde am 11. November 1918 aus der Taufe gehoben. Aber ihr Start stand unter keinem guten Stern, denn die unmittelbare Nachbarschaft des neuen polnischen Staates war zusammengebrochen: Im Osten das Zarenreich der Romanows, im Süden die Habsburgermonarchie und die Hohenzollerndynastie hatte nach der Niederlage Deutschlands und der Flucht ihres Chefs Wilhelm II. in die Niederlande dem Thron entsagt. Kurz darauf begann im März 1919 der polnisch-russische Krieg, der auf beiden Seiten hohen Blutzoll forderte und mit einem polnischen Sieg endete. Im Frieden von Riga konnte Polen am 18. März 1921 seine Ostgrenze rund 250 Kilometer weiter nach Osten verschieben. Das hinzugewonnene Staatgebiet lag vorher in der Ukraine und in Belarus, was Polen eine multiethnische Bevölkerung in dieser Region einbrachte. Die nächsten Jahre waren durch Korruption und häufig wechselnde Regierungen gekennzeichnet, bis 1926 Marschall Józef Piłsudski sich an die Macht putschte. Er schloss zwar 1932 und 1934 Nichtangriffsverträge mit der Sowjetunion und Deutschland, aber der Traum, Polen als ostmitteleuropäische Hegemonialmacht zu etablieren, ließ sich nicht realisieren.
Ganz im Gegenteil vereinbarten am 23. August 1939 im Hitler-Stalin-Pakt die beiden Diktatoren Polen erst zu überfallen, dann zu besetzen und schließlich zu annektieren. Im östlichen Teil organisierte der spätere KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow den Einmarsch der Roten Armee, in Westpolen setzten sich die Deutschen fest. Sie gründeten in „ihrem“ Landesteil die Reichsgaue Danzig und Wartheland und das Generalgouvernement. Nachdem polnische Intellektuelle, Gewerkschafter, Kommunisten und Antifaschisten in den ersten Wochen der Besatzung umgebracht worden waren, wurde in Kulmhof, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Belzec und Auschwitz-Birkenau die Shoah in die grauenhafte Tat umge-setzt. Damit setzte sich das nächste Trauma in der polnischen Seele fest, das bis heute nachwirkt: In ihrem Land wurde das Unfassbare realisiert. Zwar waren die Täter Deutsche und eine Bande internationaler Hilfswilliger, aber die Ermordung der europäischen Juden hat in Polen stattgefunden. Deshalb steht es in Polen heute unter Strafe, von „polnischen Vernichtungslagern“ zu sprechen, selbst wenn damit nur die geographische Umschreibung gemeint sein sollte.
Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg wendete sich die komplizierte Geschichte unserer polnischen Nachbarn nicht zum Guten. Bei den alliierten Nachkriegskonfe-renzen in Teheran und Jalta setzte Stalin durch, dass die im Hitler-Stalin-Pakt 1939 gezogene deutsch-sowjetische Demarkationslinie mit wenigen Ausnahmen weiterhin in Kraft blieb und nun zur sowjetischen Westgrenze wurde. Das durch militärische Gewalt eroberte Ostpolen blieb also Teil der Sowjetunion. Zur Entschädigung wurde Polen um die gleiche Landfläche bis zu den Grenzflüssen Oder und Neiße gen Westen verschoben. Dadurch verlor Polen ein Drittel seines Staatsgebietes an die UdSSR. Mehr als anderthalb Millionen Polen wurden als „Repatrianten“ von der Roten Armee vertrieben. In den neuen Gebieten im Westen und Norden waren gegen Kriegsende schon mehr als fünf Millionen Deutsche geflohen, ihnen folgten nun weitere dreieinhalb Millionen, die von der polnischen Armee in Richtung Westen vertrieben wurden.
Das durch die Landverschiebung Polens ausgelöste doppelte Unrecht war aber immer noch nicht der Endpunkt einer wahrlich komplizierten und traumatisieren-den polnischen Geschichte. Denn nun schloss sich eine von der Sowjetunion oktroyierte kommunistische Diktatur und die zwangsweise Eingliederung der „Volksrepublik Polen“ in Ostblock und Warschauer Pakt an. 1956 erfolgte der erste Versuch, sich aus dieser Lage zu befreien, aber der Posener Aufstand wurde am 28. Juni 1956 blutig niedergeschlagen. Zwölf Jahre später unterdrückte das Militär einen Aufstand in Warschau, Danzig und Krakau. Im Dezember 1970 folgte der Aufstand der Arbeiter in Danzig und Stettin und im Juni 1976 traten mehr als 80.000 Arbeiter aus über 100 Betrieben in den Ausstand, um bessere Lebensverhältnisse zu erkämpfen. Auch sie wurden von Polizei und Militär niedergemacht.
Erst die Wahl des Erzbischofs von Krakau, Karol Wojtyla, zum Papst 1979 und ein Jahr später die Gründung der freien Gewerkschaft „Solidarnosc“ brachten den politischen Umschwung, der bis dahin immer gescheitert war. In Polen, genauer in der Danziger Lenin-Werft, begann das Ende des sowjetischen Imperiums, das Ende des Kalten Krieges und das Ende der Teilung des europäischen Kontinents. Die Menschen in Polen haben sich aus den Klauen einer Diktatur befreit, die sie 40 Jahre unterdrückt und misshandelt hat. Der „große Bruder“ in Moskau war für die meisten Polen ein Hassobjekt und bei vielen kann man heute den Eindruck haben, dass diese Rolle nun „Brüssel“ einnimmt.
Aber egal wie, vielleicht kann man Verständnis dafür aufbringen, dass die meisten Polen zwar einerseits für die EU und für ein gemeinsames Europa sind, sie aber andererseits eine Regierung wählen, die eine möglichst große Distanz zum „großen Bruder“ EU legt. Vielleicht haben viele Menschen in Polen den Einfluss unterschätzt, den die EU-Kommission auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten hat. Vielleicht sehnen sich viele Polen danach, ohne „Bevormundung“ oder „Gängelung“ durch eine in der Tat schwer durchschaubare Brüsseler Bürokratie über ihr Leben und ihren Staat entscheiden zu können. Vielleicht ist das so, weil ihnen – mit der 20jährigen Ausnahme nach dem Ersten Weltkrieg – genau das seit 1772 durch ihre Nachbarn verwehrt worden ist. Vielleicht können wir Verständnis für all das aufbringen, selbst wenn wir es nicht gutheißen.
BLOG | mai 2021 | 76 Jahre Kriegsende
76 Jahre Kriegsende
„Vergangenheit, die nicht vergehen will…“, so lautete der Titel eines Gastbeitrags des Historikers Ernst Nolte, der am 6. Juni 1986 in der FAZ erschien und den Text einer Rede beinhaltete, die „geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte.“ Nolte war zuvor als Redner bei den alljährlichen Römerberggesprächen ausgeladen worden. Der Titel der Gesprächsreihe lautete: „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Auseinandersetzung oder Schlussstrich?“ und Nolte sollte als einer der Hauptredner auftreten. Als man ihm mitteilte, dass nicht er, sondern der linksliberale Historiker Wolfgang Mommsen den Vortrag halten sollte, platzte ihm der Kragen. Er witterte hinter der Entscheidung der Organisatoren einen Akt der Zensur und damit einen Vorgang, den er schon seit Jahren als „Frageverbot“ an den Pranger gestellt hat.
Der erboste Ernst Nolte veröffentlichte daraufhin sein Redemanuskript für die Römerberggespräche in der FAZ und löste damit die „letzte große intellektuelle Auseinandersetzung in der alten Bundesrepublik“ aus, wie es später der Düsseldorfer Historiker Ulrich Herbert formulierte. Nolte fand, dass die zentrale Frage über die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland tabuisiert war. Was – so fragte er – waren die historischen Ursachen des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden? Dazu legte Nolte in seinem FAZ-Artikel einige Thesen vor, die er für „zulässig, ja unvermeidbar“ hielt. Er löste einen Sturm der Entrüstung und damit den Historikerstreit aus: „Vollbrachten die Nationalsozialisten eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?"
"Kausaler Nexus"
Die „asiatische“ Tat war nach Noltes Überzeugung der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, der sich – wenn seine These stimmte – an den Deutschen nun möglicherweise wiederholen könnte. Dieses Mal würde der Völkermord aber nicht vom Osmanischen Reich – wie an den Armeniern -, sondern von der bolschewistischen Sowjetunion am deutschen Volk begangen. Die Führung der Sowjetunion hätte seit Jahren die Weltrevolution propagiert und mehrfach bewiesen, dass sie mit Feinden und missliebigen Personen nicht gerade zimperlich umgeht. Beides stimmt: Die Weltrevolutionspropaganda kam durch die Moskau hörige KPD ins Land und die Nachrichten über das brutale Vorgehen Stalins gegen ukrainische Bauern während des Holodomor oder gegen sowjetische Ärzte, Armeeoffiziere oder Intellektuelle rissen nicht ab. Und an diesen beiden Stellen gibt es auch einen Zusammenhang zwischen Bolschewisten und Faschi-sten, denn Letztere inszenierten sich in ganz Europa als „antibolschewistisches Bollwerk“.
Das sowjetische System der Straflager – kurz „GuLag“ – basierte auf den Internierungs- und Konzentrationslagern, die es schon in der russischen Zarenzeit gegeben hatte. In den Wirren des russischen Bürgerkriegs aktivierte Lenin im Sommer 1918 dieses Lagersystem im Kampf gegen „Kulaken, Popen und Soldaten der Weißen Armee“. Die Kulaken waren landbesitzende Bauern und die Weiße Armee war eine von den alliierten Siegern des Ersten Weltkriegs unterstützte Truppe, die gegen Lenins Bolschewisten kämpfte. Insofern also existierten die sowjetischen GuLags tatsächlich vor den Konzentrations- und Vernichtungslagern des NS-Staates. Daraus folgerte Nolte ein „faktisches Prius“, also eine Zeitachse, auf der die GuLags vor den NS-Lagern stehen und deshalb einen „kausalen Nexus“ hergeben, also einen „ursächlichen Zusammenhang“.
Die Shoah als "antibolschewistischer Angstreflex"?
Das war die Kriegserklärung an einen großen Teil der deutschen Historiker. Gemeinsam mit dem Philosophen Jürgen Habermas wiesen sie den Versuch Noltes zurück, die Shoah in einen antibolschewistischen Angstreflex umzudeuten und damit zu relativieren. Hitler, erklärten sie, war natürlich auch als Gegenspieler Stalins zu verstehen. Aber die vom Bolschewismus ausgehende Vernichtungsan-drohung sei nicht ausschlaggebend für seinen blutrünstigen Antisemitismus gewesen, der seine brutalste Realisierung in Auschwitz und anderen Vernichtungs-lagern gefunden hätte. Antisemitismus ist prägender Bestandteil des einzige NSDAP-Parteiprogramms, das am 24. Februar 1920 beschlossen und nie wieder verändert wurde. In den Punkten 4 bis 8 des Programms wird ein rassistisch „begründeter“ Antisemitismus definiert, der zum Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft führen sollte. 1920 war das bolschewistische Russland in einen verlustreichen Krieg gegen Polen verwickelt, von „Klassenmord“ und anderen Gräueltaten war da noch nichts bekannt. Die Shoah war eine singuläre Tat und keine Reaktion auf Stalins „Klassenmorde“. Mithin – so argumentierten Noltes Gegner - sei der „Rassenmord“ des NS-Regimes auch keine sozusagen spiegel-bildlich konstruierte Gegenreaktion, um der eigenen Vernichtung durch den Gegner zuvorzukommen. Die Shoah sei kein „Akt der putativen Notwehr“ gewesen, bei der ein Täter irrtümlich davon ausgeht, dass die für eine Notwehr erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, also ein strafrechtlich bekannter Erlaubnisirrtum vorliegt.
Die Debatte um Noltes Thesen verursachte eine tiefgreifende und oftmals hitzige Debatte. Konservative Historiker, die ihre Forschungsschwerpunkte traditionell auf Faktendarstellung und die Bedeutung der Spitzenpolitiker gerichtet hatten, wurden von jüngeren Kollegen kritisiert, die Gesellschaftsgeschichte außer Acht zu lassen. Denn genau dort, reklamierten sie, fände man die Ursachen für den rasanten Aufstieg der NSDAP inklusive ihres Anführers Adolf Hitler. Rechtsextreme Autoren witterten Morgenluft und publizierten reihenweise Revisionsliteratur, wie etwa der britische Holocaustleugner David Irving, der noch im September 2009 in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Mundo behauptete, der Begriff des „Holocaust“ sei ein jüdischer Werbeslogan aus den 70er Jahren, der mit den Propagandamitteln eines Joseph Goebbels verbreitet worden sei. Derart schwer zu ertragender Unsinn war die Spitze eines in den 80er Jahren sichtbar werdenden rechtsextremen Gedankenmülls, der aber nicht von ungefähr kam.
Bitburg und die "Gnade der späten Geburt"
Im Oktober 1982 war Helmut Kohl mit einem konstruktiven Misstrauensvotum Bundeskanzler geworden. Ohne den frisch gebackenen Bundeskanzler auch nur ansatzweise in die rechtsextreme Ecke zu stellen, leistete er mit einem politische Statement dem Streit der Historiker aber doch Vorschub. Er werde eine „geistig-moralische Wende“ einleiten, hatte er versprochen, und sich damit gegen jene liberale und linke Gesellschaftsstruktur gewendet, die während der sozialliberalen Ära in der Bundesrepublik zum Mainstream geworden war. Unter dem Deckmantel dieser „geistig-moralischen Wende“ versuchten Denker der „neuen Rechten“ nun, die „Hoheit über die Definitionen“ zurückzuerobern. Und der neue Bundeskanzler leistete – bewusst oder unbewusst – tatkräftig Unterstützung. 1984 besuchte Helmut Kohl Israel und prägte dabei den Begriff der „Gnade der späten Geburt“. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass er der erste Repräsentant der Bundesrepublik war, der zu spät geboren wurde, um Täter gewesen sein zu können. Dieser Gedanke sorgte nicht nur in Israel für Kopfschütteln. Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, konterte, dass die Gnade der späten Geburt „nicht zum Fluch des frühen Rückfalls“ werden dürfe.
Die Kritik am Kanzler verschärfte sich, als ein Jahr später anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes US-Präsident Ronald Reagan und Helmut Kohl den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchten. Dort lagen neben Soldaten beider Weltkriege auch 59 Angehörige der Waffen SS. Die beiden Staatsmänner ehrten im Mai 1985 ohne Unterschied alle Soldaten durch Kranzniederlegungen und entfachten damit eine Kontroverse, die in dem Satz des damaligen Regierungs-sprechers Peter Boenisch gipfelte, eine „Entnazifizierung der Friedhöfe sei unmöglich“. Jürgen Habermas warf dem Kanzler daraufhin die „Entsorgung der Vergangenheit“ vor und der Politikwissenschaftler Claus Leggewie vermutete, dass Kohl Deutschland aus der „Demuts- und Büßerpose“ herausholen wollte, in der sich das Land seit dem Kniefall Willy Brandts am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos angeblich befunden habe.
Der "Tag der Befreiung"
Wegen dieser Debatten empfanden viele Deutsche die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 als einen wohltuenden Versuch, die Gräben zuzuschütten. Der 8. Mai – so der Bundespräsident – war der „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialisti-schen Gewaltherrschaft“. Aber er fügte auch das Leid der Heimatvertriebenen hinzu und erwähnte die „Verbitterung über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes“. Das war die Brücke, die in den folgenden Jahren zu einer Versach-lichung der Diskussion führte. Es setzte sich die Erkenntnis der Einmaligkeit des Holocaust ebenso durch wie die Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg von Deutschland ausging und dass das Ende des Krieges am 8. Mai 1945 untrennbar mit dem Anfang der NS-Gewaltherrschaft am 30. Januar 1933 verbunden war.
Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will...
Seitdem sind mehr als 35 Jahren vergangen und ein Beispiel aus jüngster Zeit macht darauf aufmerksam, dass die Folgen der NS-Herrschaft und die gesellschaftlichen Strukturen, die den Nationalsozialismus in den 20er und 30er Jahren möglich gemacht haben, noch lange nicht überwunden sind. Die Journalistin Lena Gilhaus hat Menschen ausfindig gemacht, die in den frühen Jahren der Bundesrepublik in Kinderkurheimen von ihren Schwestern und Pflegern, ihren Ärztinnen und Ärzten misshandelt worden sind. Das hat nur auf den ersten Blick nichts mit der NS-Diktatur zu tun! Die Kinder waren mangelernährt, nässten sich ein, waren nach Krankheiten erholungsbedürftig oder mussten aus anderen Gründen gepflegt werden. Sie wurden in Kurheime verbracht, wo sich ihnen eine Hölle offenbarte: nur zweimal am Tag gab es etwas zu trinken, einmal durften sie die Toilette aufsuchen. Falls sie Heimweh bekamen, wurden sie mit Tabletten ruhiggestellt. Viele torkelten über das Gelände, als seien sie betrunken. Die Kinder bekamen „neun Wochen nur klebrigen, stacheligen trockenen Reis“. Wer diesen Fraß erbrochen hat, musste ihn erneut essen.
Die so gepeinigten Kinder berichten heute von Angstzuständen und dem Gefühl, dass auch ihre Eltern sie aufgegeben hätten. Als ihre Tortur beendet war, begannen traumatische Jahrzehnte, die sie nie wieder loslassen sollten. Aber wer waren die Menschen, die sie derart schlecht behandelt haben? Es waren die Kinder der Jahrgänge 1930 bis 1940. Sie wurden in der NS-Zeit sozialisiert und durch HJ (Hitlerjugend) und BDM (Bund Deutscher Mädel) geprägt. Was sie dort erfahren, was sie im Krieg selbst erlebt und nach welchen „pädagogischen“ Kriterien sie erzogen wurden, haben sie an den Kindern in den Kurheimen in den 60er und 70er Jahren ausgelassen. Die Täterinnen und Täter haben in der NS-Zeit eine antihumanistische Erziehung „genossen“, die rassistisch und elitär war. Den Mädchen wurde eingeimpft, dass sie Mütter blonder, blauäugiger Soldaten sein müssten, während die Jungen „Bannerträger der Zukunft“ werden sollten.
Die Erziehung war antiempathisch, Babies sollten ruhig eine Weile – und die konnte durchaus lang sein – schreien. Das stärke die Lungenfunktion, hieß es. Den Eltern wurde empfohlen, zu ihren Kindern keine emotionale Bindung aufzubauen, weil eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung nur arglose Weicheier hervorbringe. Eltern hatten lediglich dafür zu sorgen, dass nach den Prinzipien von Zucht und Ordnung ein geordneter Tagesablauf eingehalten werde. Johanna Haarer war eine der Einpeitscherinnen dieser bestialischen Ratschläge und Bestseller-Autorin im Dritten Reich. Ihr Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hatte jede junge Mutter zur Hand. Dieser Leitfaden war die Blaupause für die Entstehung empathieloser Monster und hat die Sozialpädagogin Sigrid Chamberlain zu folgender Zusammenfassung veranlasst:
„Die Trennung von Familie und Kind beginnt gleich nach der Geburt: Sobald der Säugling gewaschen, gewickelt und angezogen ist, soll er für 24 Stunden allein bleiben. Erst danach soll er der Mutter zum Stillen gebracht werden. Von der ersten Minute des Lebens an wurde also alles getan, um die Beziehungsunfähigkeit zu fördern. Denn das Hauptziel bestand darin, die Beziehung zwischen der Mutter oder den Eltern und dem Kind gar nicht erst entstehen zu lassen. Diesem Zweck dienen auch Haarers Forderungen, keine Zeit gemeinsam zu verbringen außer beim Füttern, Windelwechseln, Anziehen, Baden. Dafür aber waren genaue Zeitspannen vorgegeben. Wenn das Kind bummelt oder trödelt, soll das Füttern oder Stillen abgebrochen werden. Essen gibt es erst wieder bei der nächsten planmäßigen Mahlzeit. Hat das Kind bis dahin Hunger, geschieht es ihm erstens recht und zweitens lernt es dann, dass es sich beim nächsten Mal mehr beeilen muss.“
Es ist keine Entschuldigung, aber die Täterinnen und Täter in den bundesdeutschen Kinderkurheimen haben in den 60er und 70er Jahren das gemacht, was ihre Eltern mit ihnen gemacht haben: die Umsetzung der furchterregenden NS-Ideologie, in der sich das Starke auf Kosten des etwas weniger Starken durchsetzen sollte. Insofern wirkt der Nationalsozialismus bis in unsere Tage, denn die Kinder der Kurheime sitzen heute beim Psychiater, um die Traumata loszuwerden, die sie indirekt wegen der NS-Erziehung bekommen haben. Die Vergangenheit ist tatsächlich noch nicht vergangen…
BLOG | April 2021 | die häutungen der spd
Die Häutungen der SPD
Die SPD hat es seit langem schon schwer. Wahlergebnisse und Umfragen deuten auf ein Dasein am Rand des Parteienspektrums hin. Im Bund reicht es nicht mehr für 20 Prozent, in manchen Bundesländern wurde bei den letzten Landtagswahlen die sarkastische Überschrift, die sich einst die Redakteure der „Taz“ ausdachten, bittere Realität: „SPD locker über 5%!“: In Sachsen waren es gerade mal 7,7%, in Sachsen-Anhalt 10,6% und in Thüringen 8,2%. Dabei stand hier die Wiege der Sozialdemokratie, in diesen ostdeutschen Ländern begann der Weg der SPD von einer marxistischen Arbeiterpartei am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer modernen Volkspartei. Derzeit sieht es so, als ob dieser Weg genau dort enden könnte, wo er einst begonnen hat.
SPD-Parteiprogramme
Es beginnt vielversprechend, als sich die damalige „Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (SDAP) am 8. August 1869 in Eisenach ihr erstes Parteiprogramm gibt und unter Berufung auf Karl Marx die Abschaffung der Klassenherrschaft fordert. Die bestehenden Produktionsverhältnisse im deutschen Kaiserreich wolle sie überwinden durch ein System „genossenschaftlichen Arbeitens“. Wohl wahr und sinnvoll, schließlich gehört Kinderarbeit in jenen Jahren zur Tagesordnung und wird erst 1905 für die unter 12Jährigen verboten. Aber Kinderarbeit ist ein wichtiger Teil des Familieneinkommens, auf den kaum eine Arbeiterfamilie verzichten kann. Also soll der durch das Arbeitsverbot für Kinder entstehende Verlust mit staatlicher Unterstützung aufgefangen werden. Schon 1869 fordert die SPD, dass die ärmeren Schichten des Volkes durch die Einführung einer direkten progressiven Einkommenssteuer und die Erhebung einer Erbschaftssteuer bei den Reichen entlastet werden. Zeitlose und berechtigte Forderungen!
Sechs Jahre später wird das Gothaer Programm verabschiedet. Es ist nötig geworden, weil sich der von Ferdinand Lassalle gegründete „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ mit der SDAP zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) zusammengeschlossen hat und ein neues gemeinsames Parteiprogramm braucht. Ihrem Spiritus rector, Karl Marx, stößt das Gothaer Programm übel auf. Es enthielte viel zu viele auf Reformen angelegte Positionen, anstatt das System insgesamt in Frage zu stellen, grummelte er enttäuscht über das Programm von Gotha aus dem fernen London. An diesem von Marx verurteilten Kompromiss ist neben August Bebel auch Wilhelm Liebknecht beteiligt, dessen Sohn Karl ge-meinsam mit Rosa Luxemburg das fragile Parteigefüge während des Ersten Weltkriegs zerstören sollte. An der Familie Liebknecht ist der Spalt-pilz zu erkennen, der die SPD – wie sie ab 1890 dann endgültig heißt – eigentlich von ihrem ersten Augenblick erfasst hat: Die systemzerstören-den Revolutionäre auf der einen und die staatstragenden „Kompromissler“ auf der anderen Seite. Diese beiden Lager zwingen die Parteispitze immer wieder zu einem Spagat, der oft gescheitert ist und Abspaltungen hervorgerufen hat.
Sozialistengesetze und Blütezeit
Reichskanzler Otto von Bismarck sieht in den Sozialdemokraten „vater-landslose Gesellen“ und nutzt zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. 1878 dazu, die Partei und ihre Organisationen zu verbieten. Sozialdemokra-tische Zeitungen dürfen nicht mehr erscheinen, ihre Versammlungen werden aufgelöst und das SPD-Parteileben kommt unter den staatlichen Verbotsvorschriften vollends zum Erliegen. So absurd das klingen mag, aber zu Wahlen darf die Partei antreten und ist am Ende dieser „Sozialistengesetze“ 1890 stärkste Fraktion im Berliner Reichstag. Es beginnt eine erste Blütezeit der deutschen Sozialdemokratie, die schließ-lich in diversen Regierungsbeteiligungen während der Weimarer Republik mündet. 1891 aber gibt sich die Partei erstmal das dritte in Erfurt verfasste Programm, das mit einer Ausnahme zur reinen Lehre der marxistischen Theorie zurückkehrt. Aber diese Ausnahme sollte wichtig und langlebig werden: Die SPD sagt sich in Erfurt endgültig von der proletarischen Revolution los, die nach Karl Marx „gesetzmäßig“ kommen werde und bei der die Proletarier nichts „als ihre Ketten“ zu verlieren hätten. Diese Entsagung bedeutet, dass die SPD zur staatstragenden Partei mutiert und für linke, gar revolutionäre Experimente nicht zur Verfügung steht. Das führt am Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, dass sich all jene Sozialdemokraten, die es mit Marx und Engels halten, von der SPD entfremden und den ersten Häutungsprozess einleiten.
Unabhängige Sozialdemokraten
Es ist eine parteiinterne Krise, die zur ersten Spaltung der SPD führt. Kristallisationspunkt dieser Krise ist die Frage, ob Sozialdemokraten den zwischen 1914 und 1918 von Kaiser Wilhelm II. geforderten Kriegskrediten zustimmen sollen oder nicht. Eigentlich hätte die Maxime des Kommu-nistischen Manifestes von Karl Marx und Friedrich Engels, nach der sich die Proletarier aller Länder vereinigen - und eben nicht aufeinander schießen - sollen, eine Zustimmung unmöglich gemacht. Aber die SPD hatte sich 1891 mit dem Erfurter Programm dazu bekannt, Staat und Vaterland über die internationale Solidarität des Proletariats zu stellen. Im August 1914 steht die SPD deshalb geschlossen hinter der Forderung nach Kriegskrediten. Bei einer fraktionsinternen Abstimmung stimmen von 100 Abgeordnete allerdings 14 gegen die Kriegskredite. Als im Dezember 1914 weitere Kredite bewilligt werden sollen, wird der parteiinterne Konflikt öffentlich: Der SPD-Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht lehnt als Einziger weitere Kredite ab, weil er gegen „die kapitalistische Politik, die diesen Krieg heraufbeschwor, gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die Regierung und die herrschenden Klassen auch heute noch schuldig machen,“ ein Zeichen setzen wolle. Diese mutige Rede steht am 2. Dezember 1914 am Beginn des Prozesses, der mit der ersten Spaltung der SPD enden wird.
Kaiser Wilhelm II. redet derweil den Menschen ein, man habe Deutschland „mitten im Frieden überfallen“ und belügt sie damit belügt. Deutschland ist nicht überfallen worden, Deutschland hat überfallen und zwar Belgien und Frankreich. Trotzdem steht die SPD-Fraktion gleichsam als patriotische Pflichtaufgabe hinter dem Kaiser und nickt mehrheitlich seine fortwähren-den Wünsche nach neuen Kriegskrediten in den folgenden Jahren ab. Liebknecht und eine wachsende Zahl sozialdemokratischer Reichstags-abgeordneter stimmen allerdings mit „Nein“ und sie treiben damit einen Keil in die SPD und in die deutsche Linke, der bis heute spürbar ist. Zum ersten Mal scheint etwas auf, was die SPD im folgenden Jahrhundert geradezu charakterisieren sollte: Ein Teil der Partei gibt die eigene Identität teilweise auf, weil sie der Meinung ist, damit ihrer Pflicht gegenüber dem Staat und Gesellschaft nachzukommen.
Entgegen der Devise eines „vereinigten Proletariats“ haben sich Sozia-listen in Deutschland in die Büsche geschlagen und klein beigeben, beschrieb die SPD-Historikerin Helga Grebing das Verhalten der SPD während des Ersten Weltkriegs. Die Ignoranz der SPD-Führung gegenüber den Kriegsskeptikern und Friedensaktivisten in den eigenen Reihen führt 1917 schließlich zur Gründung der „Unabhängigen Sozialdemokraten“. Die neue USPD stimmt gegen weitere Kriegskredite und gewinnt in den folgen-den Monaten mehr und mehr an Zuspruch. Zu ihnen gehört auch der Spartakusbund, der am 1. Januar 1919 zum Kreis der Mitbegründer der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ zählt. Nun gibt es neben der SPD zwei weitere Parteien am linken Rand des politischen Spektrums, die sich von ihrer ursprünglichen Partei – der SPD - abgewandt haben und bis heute Symbol für die gespaltene Linke in Deutschland sind: USDP und KPD. Das schlägt sich auch in Wahlergebnissen nieder, denn die USPD bekommt im Januar 1919 bei den Reichstagswahlen 7,6 % der Stimmen. Ein Jahr später sind es bereits 17,9 %, die nahezu ausschließlich dem Ergebnis der SPD schaden, deren Stimmanteil im gleichen Zeitraum von 37,9 % auf 21,6 % zurückgeht.
SPD und KPD
1921 wird die Spaltung der Linken mit dem Görlitzer Programm der SPD betoniert. Nun will sie Wähler auch außerhalb des „proletarischen Spek-trums“ ansprechen. Vor allem aber macht sie sich hübsch für andere Parteien im Reichstag, weil – wie es der erste SPD-Reichsministerpräsi-dent Philipp Scheidemann ausdrückt – die Republik „unter allen Umstän-den“ zu verteidigen sei und man sich bei der „Liebe zu unserem Vaterland und zu unserem Volke von niemandem übertreffen“ lassen wolle. Die USPD rutscht zwar Mitte der 20er Jahre in die Bedeutungslosigkeit, dafür aber steigt die KPD zum ernsthaften Konkurrenten für die SPD auf. SPD und KPD berufen sich auf Karl Marx und Friedrich Engels und werden doch zu den schärfsten politischen Gegnern in der Weimarer Republik. Für die KPD waren Sozialdemokraten „Sozialfaschisten“ und umgekehrt nannte der später SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher 1930 die Kommunisten eine „rotlackierte Doppelausgabe der Nationalsozialisten“. An einen gemeinsa-men Kampf gegen die immer stärker werdende NSDAP war angesichts derartiger Beschimpfungen nicht zu denken. Dabei wäre ein parlamentari-scher Widerstand Anfang der 30er Jahre durchaus möglich gewesen. SPD und KPD erreichen bei den drei Wahlen 1930 und 1932 jeweils zusammen rund 37 Prozent, ein Ergebnis, das die NSDAP mit 37,4 Prozent nur bei der Wahl im Juli 1932 erreicht. Bei den Novemberwahlen 1932 kommt die NSDAP "nur" noch auf 33,1 Prozent.
Diese Zahlen allein sagen natürlich nichts über den Fortgang der deut-schen Geschichte aus, aber eine vereinte Linke hätte den Aufstieg Hitlers sicher erschweren, vielleicht sogar verhindern können. 1931 wird die antidemokratische und rechtsextreme „Harzburger Front“ gegründet. „Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt“, notiert der spätere Bundeskanzler Willy Brandt, kommt es „auch als Ergebnis organisatorisch-disziplinari-schen Maßnahmen der Parteiführung zur Abspaltung des linken Flügels der Sozialdemokratie.“ Die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) ist ein wenig erfolgreicher Versuch, eine Einheitsfront von SPD, KPD und Gewerkschaften gegen die NSDAP auf die Beine zu stellen. Zu ihnen gehörte auch der 17jährige Herbert Frahm aus Lübeck, der in der Illegalität den Namen Willy Brandt angenommen hat. Die von der SAP gewünschte Einheitsfront kommt nicht zustande, das linke Lager bleibt zerstritten und wird 1933 leichte Beute für die Repressionsorgane des nationalsozialisti-schen Staates. Die linken Parteien werden sofort verboten, ihre Funktio-näre müssen fliehen oder werden verhaftet und zu Tausenden in Konzen-trationslager verbracht, wo viele von ihnen ermordet worden sind.
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Der Zweite Weltkrieg endet mit der Spaltung des Kontinents und der Aufteilung Deutschlands in vier alliierte Besatzungszonen, von denen die im Osten von der Sowjetunion verwaltet wird. Dort kommt es nach USPD 1917 und SAP 1931 zur dritten, allerdings unfreiwilligen Häutung der deutschen Sozialdemokratie. In der Ostzone beginnt nämlich das politische Leben für die SPD im April 1946 mit einem schmerzlichen Paukenschlag. Auf Geheiß des sowjetischen Machthabers Josef Stalin werden SPD und KPD, die einstigen politischen Gegner in der Weimarer Republik, zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ mehr oder weniger zwangsweise vereinigt. Im Osten, wo im 19. Jahrhundert die Geschichte der ältesten Partei Deutschlands begonnen hat, gibt es nun keine SPD mehr. Sie büßt damit ihre Wurzel ein und wird sie nie wieder so beleben können wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das zeigt sich am 18. März 1990, als die SPD bei der Volkskammerwahl mit knapp 22 Prozent weit abgeschlagen hinter der CDU durchs Ziel kam.
In der Bundesrepublik wandelt sich die SPD mit dem 1959 in Bad Godesberg verabschiedeten Parteiprogramm von einer sozialistischen Arbeiterpartei zu einer Volkspartei, die sich zur sozialen Marktwirtschaft und vor allem zu Atomkraft, Landesverteidigung und NATO bekennt. Dafür gibt es innerparteiliche Kritik vom linken Flügel und schroffe Reaktionen der CDU. Aber der Weg zur Regierungsbeteiligung in der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 ist damit ebenso vorgezeichnet wie SPD-geführte Koalitionen von 1969 bis 1982 und 1998 bis 2005. Anfang der 60er Jahre aber zahlt die SPD einen Preis für das Godesberger Programm, das die nächste Häutung auslöst. Marxisten, linke Studenten und Schüler verlassen die Partei, wenden sich der außerparlamentarischen Opposition zu und werden Teil der so genannten K-Gruppen, von denen nicht wenige die Basis der Parteigründung der Grünen im Januar 1980 in Karlsruhe stellen. Die Versuche von Jungsozialisten, grüne Ideen in die Programma-tik der SPD zu integrieren, scheitern. Die Grünen werden zunächst belächelt und nicht ernst genommen. Trotzdem ist eine neue politische Partei entstanden, die Anfang der 80er Jahre im linken Spektrum angesiedelt ist und der SPD Konkurrenz macht.
Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit
Es sollte ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung sein, deren Beschluss, den Sozialstaat umzubauen und zu erneuern, die mittlerweile fünfte Häutung der SPD einleitet und einen massiven Vertrauensbruch an der Basis der SPD-Wählerschaft auslöst. Gemeinsam mit dem britischen Premierminister Tony Blair hat sich Bundeskanzler Gerhard Schröder einem Weg zwischen dem wirtschaftsliberalen Kapitalismus und den Zielen der klassischen Sozialdemokratie verschrieben. Auf dem Weg zu dieser neuen Gesellschaftsordnung werden angesichts hoher Arbeits-losenzahlen am Beginn des 21. Jahrhunderts sowohl der Arbeits- als auch der Finanzmarkt dereguliert, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld I und II zusammengefasst und als neue Arbeitsver-mittlungsagentur „Jobcenter“ eingerichtet. Unter dem Schlagwort „Fördern und Fordern“ lösen die Reformen einerseits Freude bei Finanzdienst-leistern aus, andererseits aber empfinden Arbeitslose die gekürzten Leistungen des Arbeitslosengeldes als Bestrafung. Wut löst die Anforderung aus, vor dem Bezug des Arbeitslosengeldes erst wesentliche Teile des eigenen Vermögens aufzubrauchen. Damit wird aus unverschuldeter Arbeitslosigkeit ein erzwungener Weg in die Armut.
Der Vertrauensbruch ist groß, viele Stammwähler wenden sich von der SPD ab. Ein ehemals prominenter SPD-Politiker nimmt ihren Zorn auf und bietet mit der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) eine entsprechende Plattform an: Oskar Lafontaine. Ehemalige SPD-Mitglieder und enttäuschte Gewerkschafter treten der WASG bei, die 2006 bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg als Konkurrent der SPD auftritt und einige Stimmen gewinnt. 2007 erfolgt der Zusammenschluss der WASG mit der SED-Nachfolgepartei PDS zur Partei „Die Linke“. Parallel zu diesem erneuten Aderlass der SPD beginnt ein atemberaubender Sinkflug der deutschen Sozialdemokratie bei Wahlen auf Landes- und Bundesebene. Von 34,2 Prozent bei der Wahl 2005 auf 20,5 Prozent 2017.
BLOG | März 2021 | Von der Justinianischen Pest bis Corona
Von der Justinianischen Pest bis Corona
Pandemien sind nichts Neues in der Geschichte der Menschheit. Sie waren bisher eher die Ausnahme als die Regel. Während es immer wieder Seuchen und regionale Ausbrüche von Pest, Pocken, Cholera, Typhus oder Influenza mit verheerenden Folgen gegeben hat, sind in der nachchristlichen Geschichte vier Pandemien bekannt:
- Die Justinianische Pest, die 530 ausbrach und vermutlich 200 Jahre die Bevölkerung des europäischen Kontinents erheblich dezimierte,
- Die als „schwarzer Tod“ bekannt gewordene mittelalterliche Pest in Europa, die zwischen 1347 und 1353 vermutlich mehr als einem Drittel der Menschen auf dem europäischen Kontinent das Leben kostete,
- Die Influenza-Pandemie mit dem irreführenden Namen „Spanische Grippe“, die Schätzungen zu Folge bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte und
- Die Corona-Pandemie unserer Tage, die 2019 im chinesischen Wuhan begann, sich über den Erdball ausbreitete und bis Ende Februar 2021 etwa drei Millionen Tote forderte.
Zukunftsforscher und andere Allwissende diskutieren, dass Corona eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte einläuten wird. Mitunter wird etwas voreilig verkündet, dass sei in der Vergangenheit auch so gewesen, die bisherigen Pandemien hätten Pate gestanden für den Beginn neuer Epochen. Aber bei genauerem Hinsehen waren es alte Strukturen von Macht und Ungleichheit, die nach dem Ende einer Pandemie wieder zum Vorschein kamen und den Beginn einer neuen Epoche geradezu verhinderten. Sind also Pandemien Auslöser für Neues gewesen oder Katalysatoren für Entwicklungen, die es auch schon vorher gab?
Die Justinianische Pest
Am Ende der Justinianischen Pest – im 8. Jahrhundert - waren in 15 Wellen mehr als 50 Prozent der damaligen Bevölkerung an der Pandemie verstorben. Im Westen war das Römische Reich untergegangen, es herrschten Nahrungsmittelknappheit und Mangel an Arbeitskräften und Soldaten. In den großen Städten wie Rom, Karthago oder Athen hatte sich die Seuche mit rasender Geschwindigkeit ausgebreitet, weil zigtausend Menschen dicht gedrängt unter schlechten hygienischen Umständen gemeinsam mit erwünschten und nicht erwünschten Tieren in eng aneinandergebauten Häusern lebten. Sie wurden zur leichten Beute für den Tod.
Die Justinianische Pest traf in Europa auf eine weitgehend christliche Welt, die seit dem Dreikaiseredikt vom 28. Februar 380 von den römischen Kaisern garantiert wurde. Die Christen im Römischen Reich hingen der biblischen Eschatologie an, nach der der Weltenende nahe sei – entweder als Strafe für lasterhaftes Leben oder weil die vier Weltreiche der Babylonier, der Perser, der Griechen und eben der Römer untergangen waren. Viele Menschen der ausgehenden Antike sahen die Pest als ein Zeichen, dass diese biblische Prophezeiung nun in Erfüllung ging. Sie verloren ihren Lebensmut und waren dem Erreger, der immer wieder über die Menschen in Europa kam, schutzlos ausgeliefert. Und bald kam etwas hinzu, was die ohnehin verbreitete Endzeitstimmung noch verstärkte. Im fernen Mekka wird 570 ein Knabe geboren, der der Begründer einer neuen Religion werden sollte. Um die Wende zum 7. Jahrhundert soll ihm der Erzengel Gabriel den Koran diktiert haben. Auch der Koran kennt die in der Bibel beschriebene Endzeitstimmung, versieht sie aber mit dem Hinweis, vorher noch möglichst viele Menschen vom neuen Glauben zu überzeugen. Hier könnte ein Grund liegen, warum die „islamische Expansion“ bis 750 so erfolgreich war. Islamische Länder legten sich wie ein Halbmond um den europäischen Kontinent und flößten den Christen Angst und Schrecken ein. Im Westen untergegangen war das einst mächtige Imperium Romanum im Osten auf eine christliche Enklave inmitten islamischer Nachbarn geschrumpft. Die christliche Metropole Konstantinopel konnte nur mit Mühe 717/718 gegen ein Landheer und die Flotte des umayyadiaschen Kalifen Sulayman verteidigt werden.
732 gelang es zwar einem „europäischen“ Heer unter dem Kommando Karl Martells den Vormarsch der islamischen Mauren von Spanien in Richtung Paris an der alten Römerstraße zwischen Tours und Poitiers zu stoppen, aber der Machtverlust der christlich abendländischen Antike war unübersehbar. Gleichzeitig stieg Bagdad zum geistigen und geistlichen Zentrum auf. Zweifellos gingen der Untergang Roms und der Aufstieg Bagdads parallel mit der Pest und dem Siegeszug der islamischen Herrscher vonstatten, aber das eine mit dem anderen in einen kausalen Zusammenhang zu setzen, ist gewagt. Schließlich haben die Germanen 50 Jahre vor der Pest Rom erobert, das Ende des Römischen Reichs postuliert und eine eigene Königsherrschaft begonnen. Es waren die kleineren Nachfolgeimperien, die sich mit Pest und Islam auseinanderzusetzen hatten. Der Akt, mit dem der fränkische König Karl „der Große“ am Weihnachtsabend 800 in Rom von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt wurde, war in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Zum einen füllte der neue Kaiser das vom untergegangenen Römischen Reich hinterlassene Machtvakuum in Europa und zum anderen trat die Ideologie seiner Herrschaft der biblischen Prophezeiung vom Ende der Welt nach dem Untergang der vier Weltreiche entgegen. Und das mit einem einfachen Trick: Karl wurde nicht etwa fränkischer oder gar deutscher Kaiser, nein er wurde römischer Kaiser. Damit war einerseits der Epochenwechsel von der Antike zum Mittelalter vollzogen und andererseits das Römische Reich in die neue Zeit hinübergerettet – sozusagen auf den Schultern Karls des Großen. Die Beteiligten nannten das „translatio imperii“.
Karl und Leo wollten den durch die Pest allenfalls beschleunigten Prozess des Untergangs des römischen Imperiums aufhalten, in dem sie kurzerhand dessen Lebenszeit durch die Übertragung auf Karl den Großen verlängerten. Der oströmische Kaiser Justinian, in dessen Regentschaft die Pest ausgebrochen war, hatte Ähnliches vorgehabt: Er wollte das alte Reich rund um das Mittelmeer („mare nostrum“) im Zuge seiner „restauratio imperii“ zurückerobern und „wiederherstellen“. Das scheiterte vermutlich daran, dass die Pest die Reihen seiner Soldaten zu sehr gelichtet hatte. Insofern war die Justinianische Pest also nicht der Auslöser eines Epochenwandels aber ihr Katalysator. Vorher sichtbar gewordene Entwicklungen wurden durch die Seuche verstärkt und in ihrer Wirkung beschleunigt. Über all das gibt es keine Daten oder zeitgenössische Dokumente, es spricht aber einiges dafür, dass es diesen Zusammenhang gegeben hat.
Der „schwarze Tod“ – Pest in Europa
Die nächste Pandemie erreichte den Kontinent mit Schiffen aus China, auf denen infizierte Ratten mitfuhren, in Oberitalien an Land gingen und das Virus verteilen konnten. Die „Beulen- und Lungenpest“ breitete sich rasend schnell aus, die Menschen standen der Gefahr ebenso ignorant und wie unwissend gegenüber. Viele Menschen hielten die Pest für eine „gerechte Strafe Gottes“ für unchristliches Verhalten und ausschweifendes Leben. Es machte sich an vielen Orten Europas eine Mordlust gegenüber Juden breit, denen man die Verursachung der Pandemie unterstellte. Besonders in deutschen Ländern führte dieser Wahnsinn zu erschreckenden Pogromen. Die öffentliche Ordnung lag darnieder, durch Straßen zogen Anhänger der Geißlerbewegung und prügelten auf sich ein, um Buße zu tun. Als alles vergeblich schien, wurden infizierte Menschen in der Lombardei in ihren Häusern eingemauert, bis sie elendig verreckt waren. Die Lombardei kam durch diese Brutalität einigermaßen glimpflich davon, andernorts aber starben die Menschen wie die Fliegen an einem heißen Sommertag. Der Freiburger Historiker Volker Reinhardt zeigt in seinem neuen Buch „Die Macht der Seuche – wie die große Pest die Welt veränderte 1347 – 1353“, dass - damals wie heute – die Armen am meisten zu leiden hatten. Sie waren die Verlierer der Pandemie, während die Reichen sich nicht nur besser schützen, sondern auf diesem Wege auch lästige Konkurrenz beiseiteschieben konnten.
Als der „schwarze Tod“ endlich von Europa abgelassen hatte, standen gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche an, die das Gesicht des Kontinents veränderten. Die Pest hatte die Bevölkerung und dementsprechend auch die Zahl der Arbeitskräfte derart dezimiert, dass Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft vorherrschte, zumal viele Arbeiter in Handwerk und Gewerbe lukrativere Arbeitsplätze sahen. Der Produktionsrückgang in der Landwirtschaft traf auf eine stark dezimierte Bevölkerung, so dass nicht mehr so viele Mäuler wie vor der Pest gestopft werden mussten. Aber die Not nach der Pest hatte auch etwas Gutes, denn sie ließ soziale Schranken fallen, die bis dahin als unüberwindlich galten. Vorher Landlose konnten leerstehende Bauernhöfe übernehmen und unternehmerisch tätig werden. Gleichzeitig stieg der Bedarf an Arbeitskräften in den Manufakturen, wo viele neue Arbeitsplätze entstanden, die allerdings einen Anstieg der Arbeitskosten verursachten. Mit der Mechanisierung von manueller Arbeit sollte diesem Kreislauf begegnet werden. Der amerikanische Historiker David Herlihy weist daraufhin, dass das Spätmittelalter eine Epoche war, in der beeindruckende technische Errungenschaften erfunden wurden.
Zudem hat die Pest das Welt- und Menschenbild des Mittelalters verändert. Spiritualität und Sehnsucht nach Entschädigung für erlittene irdische Qualen im Jenseits wurden von einer zunehmenden Konzentration auf das Irdische verdrängt. Das himmlische Heilsversprechen der römischen Kirche verlor ein wenig seiner Anziehungskraft. Für den österreichischen Kulturhistoriker Egon Friedell sind damit alle bis dahin gültigen Glaubensgewissheiten über Bord gegangen. Diese spirituelle und religiöse Veränderung war die Grundlage für Humanismus und Renaissance, die den antiken Leitspruch „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ in die damalige Gegenwart übersetzten und damit das Tor zur Moderne aufstießen. Zwei Jahrhunderte bestimmten Humanismus und Renaissance das kulturelle Schaffen Europas und hinterließen am Ende mit der Kunst des Buchdrucks und der Reformation nicht nur eine neue und schnelle Form der Kommunikation, sondern auch eine neue Glaubensgewissheit.
Sicher war die Welt der Europäer nach der Pest nicht mehr so wie vorher, aber eine neue Epoche folgte dem „schwarzen Tod“ unmittelbar jedenfalls nicht. Zieht man aber einen längeren Zeitraum in Betracht, so könnte man den Beginn des Prozesses, der schließlich rund 150 Jahre später in die Moderne mündete, mit dem Wüten der Pest in Verbindung bringen. Als personalisierter Beleg dafür könnte der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio gelten, der von 1313 bis 1375 in Oberitalien gelebt hat. Seine Novellensammlung „Das Decamerone“ beschreibt das Leben von zehn jungen Menschen, die vor der in Florenz wütenden Pest in ein abgelegenes Landhaus geflüchtet sind. Boccaccio hat nicht nur eine bedeutende Novellensammlung geschaffen, sondern gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Renaissance-Humanismus. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass es auch ohne die Pest zu Humanismus und Reformation, zur Erfindung des Buchdrucks und der Post gekommen wäre.
Corona
Derzeit hat die Corona-Pandemie die Welt im Griff und stellt viele bis dahin nicht hinterfragte Angewohnheiten auf den Prüfstand. Noch ist das ganze Ausmaß nicht absehbar, noch wissen wir nicht, wie viele Menschen dem Virus zum Opfer fallen und noch ist nicht klar, ob der Wirkstoff gegen COVID 19 auch wirklich einen langfristigen Schutz bietet. Aber der Vergleich mit früheren Pandemien ist schon allein deshalb nicht seriös, weil bei Pest und Cholera im Mittelalter die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken bei 90 Prozent lag und eine hohe Mortalitätsrate die Bevölkerungen arg dezimierte. Mitte Februar 2021 liegt weltweite Sterblichkeit bei rund 2,5 Prozent. Das medizinische Wissen ist weiterentwickelt und abgesehen von einige Corona-Leugnern und anderen Spinnern, begreifen die Menschen die Corona-Pandemie weder als Strafe Gottes noch als „Brunnenvergiftendes Werk der Juden“, sondern als eine medizinische Katastrophe, der man mit Wissenschaft und Forschung zu Leibe rücken kann.
Gleichwohl wird die Pandemie auch in der modernen Welt unübersehbare Spuren der Veränderung hinterlassen. Das Virus hat die Angreifbarkeit der diversifizierten Wirtschaft, der weltweiten Lieferketten und der Verlagerung von Produktionsstandorten ans andere Ende der Welt offengelegt. Das Virus hat die Jagd nach Billigangeboten bei medizinischen Geräten, Schutzkleidungen oder pharmazeutischen Produkten ad absurdum geführt und sozusagen nebenbei die schwarzen Schattenseiten der Globalisierung aufgezeigt. Wenn es nach dem Historiker Andreas Wirsching vom „Institut für Zeitgeschichte“ geht, dann steht das Coronavirus für eine „epochale Zäsur“. Die ungebremste Globalisierung und die ebenfalls ungebremste Verknüpfung wirtschaftlicher Beziehungen, die ein hohes Maß an Abhängigkeit nach sich ziehen, werden stark verändert oder sogar „beendet“ werden, gab er vor einigen Wochen gegenüber der dpa zu Protokoll. Dazu gehören für Wirsching auch die internationale Mobilität als Merkmal der Globalisierung und die internationale Arbeitsteilung.
Die Pandemie hat für jeden die Abhängigkeit Europas von den in asiatischen Ländern hergestellten medizinischen Produkten sichtbar gemacht. Früher war Deutschland die „Apotheke Europas“, heute muss nahezu jede Pille importiert werden. Das wird sich ändern. Wenn es die Industrie nicht von allein angeht, dann auf Druck der Politik, denn die Menschen akzeptieren es nicht, einerseits auf einem hochindustrialisierten Kontinent zu leben und andererseits keine Atemschutzmasken in ausreichender Zahl zur Verfügung zu haben. Während der Pandemie ist der Flugverkehr nahezu gänzlich zum Erliegen gekommen. Die Klimaforscher jubeln und zeigen auf, wie sehr sich das positiv auf die Eindämmung der Erderwärmung auswirkt. Es liegt auf der Hand, dass viele Reisende nachholen wollen, was ihnen Virus und Lockdown verwehrt haben. Aber die Erkenntnis, dass weniger Flugverkehr nachhaltige Wirkung auf den Klimawandel hat, dürfte entweder Einsicht bei Reisenden oder eine politisch herbeigeführte Erhöhung der Flugpreise nach sich ziehen. Beides führt im Ergebnis zu weniger Umweltbelastung.
Bei genauerem Hinsehen verbergen sich aber hinter diesen „Konsequenzen“ aus der Corona-Pandemie wieder nur durch das Virus verstärkte, längst vorhandene Tendenzen. Insofern wirkt das Virus als Katalysator, nun endlich Arbeitswelt und Bildungswesen professionell zu digitalisieren, sich nun endlich auf den Weg einer nachhaltigen Wirtschaft zu machen und die Elektromobilität oder die Wasserstoffwirtschaft weiterzuentwickeln. Klimaschutz, technologische Innovationen und ein kritischer Umgang mit dem Massentourismus werden nach der Pandemie einen höheren Stellenwert haben als vorher. Insofern stehen wir mit dem Ende der Pandemie am Beginn einer neuen Zeit, aber nicht am Beginn einer neuen Epoche. Volker Reinhardt formuliert das so: „Wenn man aus der Geschichte der großen Seuchen etwas für die Zeit der Corona-Pandemie und ihre Folgen lernen kann, dann, dass noch keine Epidemie jemals eine neue Epoche eingeleitet hat.“
BLOG | FEBRUAR 2021 | Kirche und Staat – eine unendliche Geschichte
Kirche und Staat – eine unendliche Geschichte
2019 nahm die katholische Kirche 6,76 Mrd. Euro an Kirchensteuer ein, bei der evangelischen Kirche waren es 5,95 Mrd. Euro. Davon bestreiten die beiden christlichen Konfessionen den Unterhalt ihrer Kirchenhäuser, sie finanzieren Kindergärten und Krankenhäuser und andere caritative Einrichtungen, für deren Nutzung sie aber dennoch Gebühren einfordern. Staatliche Gelder für Umbau, Modernisierungen und Neubauten kommen hinzu. Allein das Erzbistum Köln veröffentlicht auf seiner Homepage im Finanzbericht 2019 eine Bilanzsumme von über 3,9 Mrd. Euro. Das Immobilien- und Anlagevermögen wird mit mehr als 3,5 Mrd. Euro ausgewiesen. Da könnte man meinen, die Kirchen sind ausfinanziert und verzeichnen auch bei vermehrten Kirchenaustritten genügend Einnahmen, weil die ja an die steigende Einkommenssteuer gekoppelt sind. Aber weit gefehlt, denn Jahr für Jahr überweisen die Bundesländer zusätzliche Millionen. Diese so genannten „Staatsleistungen“ beliefen sich zuletzt auf 560 Mio. Euro und gehen zurück auf einen Friedensvertrag, der 220 Jahre alt ist.
Der "Erste Konsul" Frankreichs
1801: Europa steht unter französischer Hegemonie. Am 9. November 1799, dem 18. Brumaire VIII. des französischen Revolutionskalenders, hatte sich Napoleon Bonaparte an die Spitze des Staates geputscht, indem er das regierende Direktorium für abgesetzt erklärt und sich selbst als „Erster Konsul“ inthronisiert hatte. Napoleon ist ein Mann des Volkes und setzt den Kurs der Französischen Revolution fort. Die Revolution sei zwar beendet, lässt er verkünden, aber die Werte und politischen Errungenschaften des Umsturzes von 1789 würden nicht antastet. Das konnten die Franzosen am nächsten Morgen auf Flugblättern lesen, die im ganzen Land verteilt worden waren. Damit bleibt auch die Säkularisation in Frankreich unangetastet, das Kircheneigentum wird nicht zurückgegeben, Priester unterstehen auch weiterhin einer staatlichen Aufsicht und die Kirchen erhalten kein staatliches Geld. Die christlichen Herrscherhäuser Europas haben Frankreich deswegen isoliert. Die Monarchen in Preußen, Österreich oder Russland fürchten, dass der revolutionäre Dreiklang von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ über den Rhein schwappen und auch ihre Herrschaft „von Gottes Gnaden“ hinwegfegen könnte.
Europas Herrscher führen bis 1814 insgesamt sechs Koalitionskriege gegen Frankreich, von denen fünf mit einer Niederlage gegen die überlegene französische Armee enden. Erst der letzte Koalitionskrieg nach Napoleons gescheiterter Expedition gegen Russland brachte 1812 die Wende und gleichzeitig das Ende der französischen Vorherrschaft über Europa. Schon 1795 war es der französischen Armee gelungen, die linksrheinischen Gebiete der deutschen Fürsten zu besetzen und dem französischen Territorium anzugliedern. Im gleichen Jahr erkannte der preußische König Friedrich Wilhelm II. diese Annexion an und verzichtete obendrein freiwillig auf die preußischen Besitzungen am linken Rheinufer, weil er sein Augenmerk auf Gebietserweiterungen bei der dritten Teilung Polens zwischen Russland, Österreich und eben Preußen gelegt hatte. Zwei Jahre später akzeptierte auch der Kaiser Franz II. im Namen des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ in einem geheim gehaltenen Artikel des Friedens von Campoformio die Verschiebung der französischen Ostgrenze bis an das westliche Rheinufer. Damit war die Inbesitznahme der linksrheinischen Gebiete durch Frankreich ebenso vertraglich fixiert, wie die Idee, dass die enteigneten ehemaligen Besitzer dieser Gebiete mit rechtsrheinischem Kirchenbesitz entschädigt werden sollten.
Frieden von Lunéville
Diese 1797 in Campo Formio beschlossene „Säkularisation“ wird erstmals durch eine offizielle Entschädigungsvereinbarung im Frieden von Lunéville am 9. Februar 1801 bekannt. Mit diesem Frieden ist zum einen der zweite Koalitionskrieg gegen Frankreich beendet und der Frieden von Campoformio noch einmal bestätigt und zum anderen wird im lothringischen Lunéville eine vertragliche Vereinbarung getroffen, durch die die enteigneten deutschen Fürsten mit kirchlichen Ländereien und Besitztümern auf der rechten Rheinseite entschädigt werden. Im Februar 1801 einigen sich die Delegationen aber noch nicht auf konkrete Gebiete oder Gegen-stände der Entschädigungen, sondern überlassen diese Entscheidung einer außerordentlichen Reichsdeputation, die zwischen dem 24. August 1802 und jenem 25. Februar 1803 im Rathaus von Regensburg tagt, an dem die Reichs-stände und Reichsfürsten unter der Leitung des Prinzipalkommissars des „Immerwährenden Reichstags“ Freiherrn von Hügel den „Reichsdeputationshaupt-schluss“ verabschieden. Das ist nicht nur ein weitreichender, sondern auch der letzte Beschluss des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“, denn kurz danach treten die deutschen Fürsten dem französischen Protektorat namens „Rheinbund“ bei und veranlassen dadurch Franz II. die Krone des römisch-deutschen Kaisers niederzulegen und als österreichischer Kaiser Franz I. weiterzuregieren.
Aber zurück nach Regensburg, denn dort wird die Abfindung der weltlichen Fürsten durch Säkularisation – also Einziehung kirchlicher Besitztümer – und die Mediatisierung – also die Auflösung kleineren Herrschaften und deren Eingliederung in größere Territorien - beschlossen. Das Ergebnis der Säkularisation ist tiefgreifend: Bis auf das Erzbistum Mainz werden sämtliche geistlichen Fürstentümer aufgelöst und weltlichen Herrschaften zugeschlagen. Die Königreiche Bayern und Preußen und die beiden Herzogtümer Württemberg und Baden sind die größten Nutznießer der Beschlüsse im Alten Rathaus von Regensburg. Preußen bekommt 12.000 km², Bayern gar 14.000 km² hinzu und beide Staaten können 600.000 bzw. 850.000 Neubürger begrüßen. Am Ende sind, bis auf Mainz, alle geistlichen Fürstentümer aufgelöst und die meisten Reichsstädte und kleineren Territorien größeren Nachbarn zugeschlagen. All das geschieht unter dem Druck des französischen Kaisers Napoleon, der nicht nur den deutschen Kaiser schwächen, sondern neben Preußen und Österreich ein, ihm wohl gesonnenes, „drittes Deutschland“ ins Leben rufen will. Er will Europa bis zum Ural unter französische Dominanz bringen und dazu braucht er Bundesgenossen, die keine eigenen Großmachtspläne haben.
Entschädigung für die Kirche
Die deutschen Fürsten werden in Regensburg also entschädigt, nun müssen die beiden Kirchen ebenfalls entschädigt werden, denn ihnen geht vielfach die Existenzgrundlage verloren: Gebäude und Inventar, Kunstgegenstände oder Äcker und Viehbestand. Kunstsammler und Gelegenheitskäufer ziehen umher und kaufen auf, wofür es keine Verwendung mehr gibt. Unter ihnen ist auch der Kölner Priester und Kunstmäzen Ferdinand Franz Wallraf, dem es gelingt, umfangreiches Säkularisationsgut zusammen zu bringen. Nachdem er es testamentarisch seiner Heimatstadt vererbt hat, wird diese Sammlung der Grundstock des gleichnamigen Museums in Köln – dem Wallraf-Richartz-Museum. Um für Katholiken und Protestanten einen Ausgleich zu schaffen, legt der Reichsdeputationshautschluss fest, dass beide Konfessionen von jenen Ländern finanziell zu entschädigen sind, die einen Nutzen aus der Säkularisation ziehen. Als die 50. und letzte Sitzung der Reichsstände am 10. Mai 1803 beendet ist, steht die Höhe der Entschädigungen noch nicht fest, sie wird erst in den kommenden Jahren in „Dotationsvereinbarun-gen“ festgelegt. Für die Kirchen brechen schwere Jahre an, sie müssen sich neu organisieren, zahlreiche Bedienstete sehen einer ungewissen Zukunft in Armut entgegen. Die katholischen Diözesen werden reorganisiert und neu geordnet.
Gemäß den Beschlüssen des Reichsdeputationshauptschlusses erhalten die beiden Kirchen finanzielle Zuwendungen der deutschen Länder – „Staatsleistungen“, die mit wenigen Jahren Ausnahme seitdem Jahr für Jahr gezahlt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg gründet sich die Weimarer Republik, die am 14. August 1919 eine republikanische und demokratische Verfassung erhält. Die Mütter und Väter dieser Verfassung wollten die Möglichkeit schaffen, dass rund 120 Jahre nach dem Vertrag von Lunéville ein Ausstieg aus den „immerwährenden“ Staatsleistungen eröffnet wird. Also schrieben sie in Art. 138 der Weimarer Verfassung fest, dass die „auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landes-gesetzgebung abgelöst werden. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“ Da die Länder von der Säkularisation profitiert hatten, waren sie auch 1803 zur Entschädigung verpflichtet worden. Von dieser Verpflichtung sollten sie durch ein Gesetz des Bundes entbunden werden. Aber es blieb bei den Buchstaben auf dem Papier, umgesetzt wurde das Vorhaben nicht. Als im Januar 1933 die NSDAP in die Regierung gehievt wird, werden die Zahlungen bis 1945 kommentarlos eingestellt.
Staatsleitungen bis heute
Dabei hätte man es 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland eigentlich belassen können. Aber stattdessen übernimmt die junge Bundesrepublik die Verpflichtung, Staatsleistungen aus dem Vertrag von Lunéville und dem Reichsdeputationshauptschluss zu erbringen. Mehr noch: In Art. 140 GG steht wortgleich der Art. 138 der Weimarer Verfassung, der eine Ausstiegsmöglichkeit aus eben diesen Zahlungen anbietet. 72 Jahre sind seitdem vergangen und nichts ist geschehen. Dabei wäre es nicht so schwer, zu ermitteln, welchen materiellen oder ideellen Wert die säkularisierten Liegenschaften und Gegenstände am Beginn des 19. Jahrhunderts hatten, wie viel Geld seitdem an beiden Religionsgemein-schaften geflossen ist und wie groß eine dann noch zu begleichende Differenz-summe ist. Diesen Fragen nimmt sich seit einigen Monaten der Entwurf eines „Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen“ an. Dahinter steht die merkwürdige Koalition aus FDP, die Linke und Bündnis90/Die Grünen. Sie wollen eine „schiedlich-friedliche Ablösung“ erreichen, indem gesetzlich geregelt wird, dass binnen 20 Jahren die Staatsleistungen beendet werden. Dafür sollen sich Bund, Länder und Kirchen auf einen Gesamtbetrag einigen, der in maximal 20 Raten gezahlt werden soll. Und damit hat es sich dann.
BLOG | JANUAR 2021 | Entnazifiziert Euch
Entnazifiziert Euch
Eigentlich – so könnte man denken – sollte das Thema "Entnazifizierung" doch durch sein. Aber Sprüche vom "Fliegenschiss", der einer tausendjährigen, ansonsten erfolgreichen Geschichte nichts anhaben könnte, von "afrikanischen Ausbreitungstypen", die den "selbstverneinenden europäischen Platzhalter-Typ" verdrängen oder von einer „Umvolkung“, die angeblich im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt werde, belehren uns eines Besseren. Eine "Vergangenheit, die nicht vergehen will" stand als Überschrift eines FAZ-Artikels von Ernst Nolte am 6. Juni 1986 Pate für den darauf einsetzenden Historikerstreit. Dieser Streit ging um einen "kausalen Nexus" zwischen Bolschewismus und Faschismus und um die Einmaligkeit des Holocaust. Der Historikerstreit zeigte auf, wie wenig die Entnazifizierung nach 1945 gelungen war und wie wenig Sachkenntnis außerhalb der historischen Eliten an deutschen Hochschulen vorhanden war.
Alliierte Entnazifizierung
Die alliierten Sieger des Zweiten Weltkriegs hatten sich vorgenommen, die Deutschen zu entnazifizieren. Am Anfang starteten sie dieses Unterfangen auch schwungvoll, gerieten aber schnell in den Strudel des Kalten Krieges und ließen ihre guten Vorsätze zu Gunsten einer politisch-ideologischen Auseinandersetzung fallen. Das gilt für beide Seiten, denn sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands ist die Entnazifizierung gründlich danebengegangen. Hans Werner Richter, einer der Initiatoren der "Gruppe 47", schrieb kurz nach dem Krieg, dass in Deutschland eine "behördlich genehmigte Restauration" stattgefunden habe – ähnlich wie nach den napoleonischen Kriegen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Es lohnt also einen Blick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit zu werfen sowohl im autoritären Staatssozialismus der DDR als auch in der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Welt der Bundesrepublik.
Der Sozialdemokrat Paul Löbe propagierte während der ersten Sitzung des Bundestags am 7. September 1949 so eine Art westdeutsche Staatsräson: "Wir bestreiten keinen Augenblick das Riesenmaß an Schuld, das ein verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat. Aber die Kritiker draußen wollen doch eines nicht übersehen: das deutsche Volk litt unter zwiefacher Geißelung. Es stöhnte unter den Fußtritten der eigenen Tyrannen und unter den Kriegs- und Vergeltungsmaßnahmen, welche die fremden Mächte zur Überwindung der Naziherrschaft ausgeführt haben." Nach Löbe war es also eine kleine Gruppe von Verbrechern, die das eigene Volk unterjocht und ins Verderben geführt hat. Also waren auch nur wenige für die Verbrechen verantwortlich, die Mehrheit der Bevölkerung konnte nichts dafür und wusste auch von nichts. In dieser Gedankenwelt ließ es sich gut einrichten und leben. Aber es war ein Fake, dem das kollektive Bewusstsein aufgesessen ist. Es waren eben nicht nur einige wenige, sondern viele Millionen, die dem "Führer" Jahre lang zugejubelt und eine geradezu orgiastische Zustimmung signalisiert haben.
Sammelsurium-Programm der NSDAP
Das geschah, weil die NS-Propagandisten geschickt all das zu einem programmatischen Mix zusammenrührten, was im deutschen Volk spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorhanden war:
- Ein Antijudaismus, der beispielweise in den Verlautbarungen des Alldeutschen Verbandes schon 1890 verbal all jenes vorwegnahm, was das NS-Regime in die fürchterliche Tat umsetzen sollte.
- Die Suche nach dem Platz an der Sonne, den Reichskanzler Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 im Berliner Reichstag für die Deutschen reklamierte und damit der kaiserlichen Großmannssucht das Wort redete.
- Ein Antikommunismus, der Westeuropa seit der Oktoberrevolution 1917 erfasst hatte und durch die Revolutionsrhetorik aus Moskau ebenso angeheizt wurde, wie durch die Berichte über Gräueltaten an den russischen Kulaken oder während des "Holodomor" an der ukrainischen Bevölkerung.
Und dann war da noch der Ruf nach einer "wahren Volksgemeinschaft", die anders als die "kalte Gesellschaft" der Weimarer Republik angeblich die Belange des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt und eine wärmende Sorgfalt über sie ausbreitet. Ist diese "Volksgemeinschaft" nicht die Vervollkommnung des Sozialismus, dachten viele Arbeiter und schlossen sich freiwillig und gerne den braunen Kolonnen an, die im Gleichschritt durch Deutschlands Straßen trampelten, Lieder von "gefallenen Kameraden" sangen und dem politischen System der Weimarer Republik den Untergang schworen. Ist das nicht die Wiederherstellung der deutschen Nation, die sich nun zur Vorherrschaft über Europa aufschwingen kann, dachte das nationale Deutschland und zog sich das braune Hemd der "Bewegung" an. Ohne diese Freiwilligkeit von Millionen Menschen wäre das "Dritte Reich" nie über das Stadium des Wunsches hinausgekommen.
Obendrein lenkte die Propaganda der NSDAP den Zorn über die hohe Arbeitslosigkeit am Anfang der 30er Jahre, über das "Parteiengezänk" im Reichstag, über den "Schandfrieden von Versailles", über die Bedrohung durch die bolschewistische Sowjetunion und die Juden, die seit jeher an allem Übel schuld seien, auf ihren Frontmann Adolf Hitler. Er wurde zum Heilsbringer, er brüllte die Deutschen geradezu an und motivierte sie zu unglaublichen Taten. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung schrie lauthals "Ja", der Mann hat Recht, lasst uns diese Zustände abschaffen! Ihre Rufe wurden dankend aufgenommen und in eine mörderische Kampagne gegen all jene umgeleitet, die nicht ebenso laut und bedingungslos "Ja" geschrien hatten. Die Deutschen waren natürlich nicht alle Täter, aber eben auch nicht nur Mitläufer. Sie waren der Resonanzboden für das Unheil, sie trugen Hitler und Konsorten auf einer Welle der Begeisterung mindestens bis 1940, als der "Führer" von einem „Blitzsieg“ zum nächsten eilte und der Welt das Fürchten lehrte. Joachim Fest hat die Beziehung des "Führers" zu seinen Zuhörern mit einem Gottesdienst verglichen, in den die Menschen auf der Suche nach Halt und Erbauung gegangen sind. Was sie hörten, hat sie nicht geschockt, weil es ihren politischen, psychologischen und sozialen Prädispositionen entsprach. Auch wenn die übergroße Mehrheit der deutschen Zivilbevölkerung kein Blut an den eigenen Händen hat, ist sie doch Teil eines höchst verbrecherischen Systems gewesen. Darüber hat niemand gesprochen – weder im Westen noch im Osten. Und deshalb haben sich die Menschen auch nicht schuldig oder gar verantwortlich gefühlt. Im Gegenteil: Sie haben die Schuld auf wenige Täter abgewälzt, die man ja 1945/46 mit den Nürnberger Prozessen abgeurteilt hatte. Aber diese Prozesse waren keine Maßnahme der Entnazifizierung oder gar eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte. In Nürnberg wurden Schwerverbrecher von einem internationalen Tribunal zur Rechenschaft gezogen und in 22 Fällen zum Tode verurteilt. Sie waren persönlich verstrickt, hatten Befehle gegeben oder den Holocaust organisatorisch wie faktisch durchgeführt und haben dafür ein gerechtes Urteil empfangen.
Entnazifizierung von Nürnberg
Die Urteile von Nürnberg wurden zum Ersatz einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Aus dem Osten Deutschland tönte die stupide Rhetorik von einem "mit Stumpf und Stiel ausgerotteten Faschismus", während man im Westen nicht müde wurde zu betonen, dass ohne die Lehrer, die auch schon im Nationalsozialismus tätig gewesen sind, ganze Generationen von Schülerinnen und Schülern Blümchen mit "h" schreiben würden. Beides war ebenso verlogen wie politisch opportun. Der DDR-Regierung passte es in den ideologischen Kram, eine antifaschistische Rhetorik an den Tag zu legen, die jede Form von ernsthafter antifaschistischer Aufklärung und Bildung unmöglich machte. Die Regierung der Bundesrepublik konnte ihr Wirtschaftswunder nur vollbringen, wenn sie nicht allzu hart mit jenen umging, die für das Desaster des Jahres 1945 verantwortlich waren: Lehrer, Ärzte, Juristen, Soldaten und Beamte fanden wieder eine Anstellung, obwohl gerade sie das Rückgrat des nationalsozialistischen Staates gewesen waren. In der DDR wurde die Entnazifizierung vielfach umfunktioniert zu einer politischen Jagd auf Andersdenkende. Wer dem Sozialismus kritisch gegenüberstand, konnte leicht mit dem Vorwurf der NSDAP-Mitgliedschaft aus dem Weg geräumt werden. Im Osten ging es gleichermaßen um Entnazifizierung und um Säuberung der staatlichen Institutionen von missliebigen Personen. Andersdenkende verbrachte die sowjetische Besatzungsmacht in Speziallager, die unter der Aufsicht des sowjetischen Geheimdienstes NKWD standen. Neben über 120.000 Deutschen fanden sich dort knapp 35.000 ausländische Personen wieder, die zum großen Teil aus der Sowjetunion stammten und während des Dritten Reichs als "Fremdarbeiter" nach Deutschland verschleppt worden waren. Ihnen brachte der sowjetische Machthaber Stalin genauso viel Misstrauen entgegen wie vermeintlichen oder tatsächlichen Nazis, weil er glaubte, sie seien in Gefangenschaft zu Feinden des Sozialismus "umerzogen" worden.
Im Westen scheiterte die Entnazifizierung spätestens in dem Moment, als in der amerikanischen Zone mit dem Gesetz 104 "zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" die Westdeutschen für die Entnazifizierung allein verantwortlich gemacht wurden. Die Westdeutschen kamen ihrer Verantwortung aber nicht nach, weil sie sich lieber um Wiederaufbau und Integration in die westliche Werte- und Konsumgemeinschaft inklusive NATO kümmerten. Das kann man zwar verstehen, aber die Konsequenz muss ebenfalls benannt werden: Die Westdeutschen schlidderten ohne viele Zwischenstopps von der faschistischen Diktatur mit Massenmord und Weltkrieg in die westliche Glitzerwelt. Über den Osten senkte sich hingegen ein Vorhang des ideologisierten, geradezu stereotypen Umgangs mit der faschistischen Vergangenheit, der in einer ermüdenden Wiederholung des endgültig besiegten Faschismus mündete. Mit einer ernsthaften Entnazifizierung hatte all das nichts zu tun.
Vasallen auf beiden Seiten der Demarkationslinie
Auf beiden Seiten der Demarkationslinie wurden die Deutschen zu den treuesten Vasallen ihrer einstigen Kriegsgegner. Die DDR-Propaganda unterstellte dem Westen Revanchismus, der Westen denunzierte das "Pankow-Regime" als stalinistischen Frontposten und richtete sein Augenmerk auf den großen Bruder jenseits des Atlantiks. Wie einfach das ging, zeigt die Himmeroder Denkschrift, die im Oktober 1950 im Auftrag der Bundesregierung von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und Angehörigen der Waffen-SS ausgearbeitet wurde. Das Memorandum skizziert die Wiederbewaffnung und fordert die Westmächte auf, die "Diffamierung" der ehemaligen Angehörigen von Wehrmacht und Waffen-SS einzustellen. Ferner sollen als Kriegsverbrecher verurteilte Soldaten freigelassen, sämtliche schwebenden Verfahren eingestellt und für Wehrmachtssoldaten und Angehörige der Waffen-SS eine "Ehrenerklärung" abgegeben werden. Dieser schlichten Erpressung beugte sich erst am 23. Januar 1951 der NATO-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower, indem er den für die wiederbewaffnete Bundesrepublik benötigten Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der Waffen-SS einen Persilschein aus- und ihre Ehre wiederherstellte. Ein Jahr später wiederholte Bundeskanzler Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag diese Ehrenerklärung für die Soldaten der Wehrmacht und erweiterte sie – auf Nachfrage – auch auf Angehörige der Waffen-SS.
Mit einem Federstrich waren damit schwere Verbrechen, die durch Waffen-SS und Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg begangen worden waren, vom Tisch gefegt: Massenerschießungen, Exekutionen von Kommissaren der Roten Armee (gedeckt durch Hitlers berüchtigten "Kommissarbefehl" vom 6. Juni 1941, nach dem Stalins Politkommissare nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern umgehend zu erschießen waren), die Verantwortung für millionenfachen Tod sowjetischer Kriegsgefangener und schließlich die Beteiligung an der Shoah im Osten Europas. Auf dieser Grundlage konnte keine Entnazifizierung, die mehr als eine Worthülse war, gedeihen. Hüben wie drüben wuchsen Generationen heran, denen weder von ihren Eltern oder Großeltern, noch von Schulen oder Politikern eine sinnvolle Bearbeitung der jüngsten deutschen Geschichte angeboten wurde. Die Entnazifizierung war nie mehr als ein Lippenbekenntnis der Alliierten, dem sich viele Deutsche angeschlossen haben, aber allenfalls lückenhaft Taten folgen ließen. Anders ist der gesellschaftliche Drift nach rechts, die Wiederkehr autoritärer Denkmuster, die offenbar größer werdende Toleranz gegenüber rassistischen Äußerungen und die bei Demonstrationen offen zur Schau getragenen Renaissance nationalsozialistischer Ideen nicht zu erklären.
2020
BLOG | DEZEMBER 2020 | Jesus von Nazareth und Mohammed
Jesus von Nazareth und Mohammed
Wenn die Menschen gewusst hätten, was sich da vor ihren Augen abspielt, hätten sie vermutlich den Atem angehalten. Die einen lebten um das Jahr Null in den römischen Provinzen Syrien und Judäa, die anderen rund 600 Jahre später im Gebiet des heutigen Saudi-Arabien. Sie alle waren Zeugen des Wirkens der beiden wohl einflussreichsten Personen der europäischen und arabisch-afrikanischen Geschichte. Bis zum heutigen Tag prägen zwei Religionsstifter mehr als 2000 Jahre Geschichte der Menschheit. Jesus von Nazareth und Mohammed entwickelten eine Heilslehre, die sich nicht nur ähnlich ist, sondern auch auf dieselben Wurzeln zurückgreift. Und beide standen vor ähnlichen Problemen, als sie begannen, für die Armen und Unterdrückten ihrer Zeit eine Befreiungstheologie zu entwickeln.
Die Geburt des Jesus von Nazareth markiert den Beginn der abendländischen Zeitenwende, Mohammed erblickt um 570 das Licht der Welt. Beide gründen eine Religion, die sich auf „den einen Gott“ beruft. Der eine nennt ihn „Gott den Vater“, der andere „Allah“. Jesus von Nazareth war Jude. Die jüdische Heilige Schrift – das Alte Testament der Bibel – ist zu einer Zeit im Orient entstanden, als dort der Glaube an viele Götter verbreitet war. Mohammed lebte die ersten Jahre nach orientalisch heidnischen Ritualen. Als Leiter einer Handelskarawane lernt er dann aber christliche und jüdische Prediger und deren Religionen kennen. Wie Juden und Christen ist auch er fasziniert vom Glauben an nur einen Gott und stellt diese Idee über die in der arabischen Welt damals vorherrschenden heidnisch-polytheistischen Vorstellungen. Religiöse Verehrung wurde dabei einer Vielzahl von Göttinnen und Göttern oder Naturgeistern entgegengebracht, die in einer traditionell überlieferten Götterwelt lebten und von dort die Geschicke der Menschen lenkten.
Konflikte mit der Gesellschaft
Jesus und Mohammed stellten die herrschenden religiösen Vorstellungen in Frage und gerieten deshalb in schwere Konflikte – der eine in Palästina mit den Römern, der andere in Mekka mit der feudalen arabischen Gesellschaft. Jesus legte das christliche Fundament des Abendlandes, Mohammed schuf die religiöse Grundlage des Morgenlandes. Obwohl beide an denselben Gott geglaubt und ihn zum Mittelpunkt ihrer Religion gemacht haben, werden ihre christlichen und muslimischen Nachfolger im Namen Gottes und Allahs Jahrhunderte lang Millionen Menschen gegeneinander in Krieg und Tod schicken. Die Gotteskrieger des Abendlandes und die Dschihadisten des Morgenlandes haben in den letzten 1500 Jahren Europa, den Mittleren und Nahen Osten verwüstet und für eine tiefe Spaltung gesorgt, die Orient und Okzident scheinbar unüberwindlich voneinander trennt.
Der Frieden zwischen diesen beiden Religionen ist aber der Schlüssel zum Frieden in der Welt. Fanatisierte Krieges Allahs, brüllende Evangelikale in den USA und anderswo und die ebenso unerbittliche Inanspruchnahme des göttlichen Beistands bei kriegerischen Aktionen zeigen, wie religiöse Wut und Fanatismus gewalttätige Auseinandersetzungen auslösen oder zumindest befördern. Religiöse Toleranz und die staatlich garantierte Freiheit des Glaubens hingegen kennzeichnen den Weg zu einem friedlichen Miteinander. Dieser Weg zum Frieden ist weniger steinig, wenn man bedenkt, wie und für wen Jesus und Mohammed ihre Ideen entwickelt haben. In Jerusalem geriet Jesus wegen unterschiedlicher Interpretationen der Heiligen Schrift in Konflikt mit den Anhängern der frommen „Chassidim“ – Bewegung, mit den strenggläubigen Pharisäern und den Sadduzäern. Aber unbeeindruckt vom Ärger im eigenen Lager zog Jesus predigend zwischen dem See Genezareth im Norden Galiläas und dem Toten Meer im Süden Judäas von Dorf zu Dorf und erreichte einen hohen Bekanntheitsgrad.
Die Prophetenbiographie des Ibn Ishaq berichtet, dass Mohammed um das Jahr 610 durch den Erzengel Gabriel göttliche Weisungen erhalten hat. Ähnlich wie Jesus von Nazareth geriet Mohammed mit den Vertretern einer feudalen arabischen Oberschicht in Konflikt. Er sprach vor Viehhändlern und Handwerkern, klagte deren prekäre Lage ebenso an, wie er die feudale Struktur der arabischen Welt als Ursache der Misere seiner Zuhörer ausmachte. Auch Jesus stellte sich auf die Seite der Schwachen und Armen, versprach Gottes Hilfe und eine ausgleichende Gerechtigkeit im Paradies. Seine Jünger dachten sich Geschichten aus, die eine wundersame Heilkraft ihres Herrn schilderten: Er konnte Lahme gehend, Blinde sehend machen und Wasser in Wein verwandeln. Auch Mohammed bekam wie Jesus schnell Zulauf, weil er sich ebenfalls auf die Seite der Unterdrückten stellte und ihnen durch den Islam Besserung versprach.
Abgrenzung der Religionen
Aber Mohammed wollte den Islam vom Judentum und vom Christentum abgrenzen und berief sich dabei auf eine Legende vom Stammvater Abraham, der angeblich seine Konkubine in Mekka besucht und währenddessen in göttlichem Auftrag die Kaaba für diejenigen gesäubert haben soll, die dort den Umlauf machen wollten. 630 erklärte Mohammed diese Kaaba zum Heiligtum und wies die gläubigen Muslime an, sich während des Gebets nach Mekka zu verneigen und damit – von seinem damaligen Aufenthaltsort Medina betrachtet - Jerusalem den verlängerten Rücken entgegen zu halten. Dadurch dass Mohammed den Islam auf Abraham bezog, der vor der Offenbarung der Thora und des Neuen Testaments gelebt hat, war der Islam für die Muslime die „erste“ und vielleicht auch „originärste“ Religion. Und noch etwas sollte den Islam von den beiden anderen Religionen unterscheiden. Mohammed stellte sich in eine Reihe mit dem Stammvater Abraham und den Propheten Moses und Jesus. Von Christen und Juden wurde das als Anmaßung empfunden, weswegen sie ihn verspotteten.
Obwohl die drei Religionen sich auf ein und denselben Gott berufen, macht die Auslegung der Beziehung zu ihm den wohl substanziellsten Unterschied aus. Sowohl die jüdische als auch die christliche Religion und der Islam sind monotheistisch. Im Judentum gilt „die Einzigkeit“ Gottes, Jesus ist demnach „nur“ ein Rabbi oder ein jüdischer Wanderprediger, von denen es in Judäa und Syrien zu der Zeit viele gegeben hat. Die christliche Gemeinschaft hat sich hingegen beim Konzil von Nicäa 325 auf die Dreifaltigkeit („Trinität“) Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist geeinigt. Außerdem haben die römischen Kaiser Theodosius I., Gratian und Valentinian II. 381 mit dem „Dreikaiseredikt“ das auf dem Glauben an die Trinität beruhende Christentum zu einer vom römischen Staat geschützten Religion erhoben. Im Unterschied dazu gilt im Islam die „Einheit Gottes“. Der Koran lehnt die Trinität mit den Worten ab, die Muslime sollen an Gott und seine Gesandten, nicht aber „an Drei“ glauben.
Auch an ihrem Lebensende tut sich eine bis heute erschreckende Gemeinsamkeit zwischen den beiden Religionsstiftern auf. Als Jesus von Nazareth 31 am Kreuz von Golgatha stirbt, beginnt die Legende von der Schuld der Juden an seinem Tod. Fortan begleitet uns das furchtbarste Vorurteil der Geschichte der Menschen: Der Antijudaismus, der im 20. Jahrhundert zum blutrünstigen und massenmordenden Antisemitismus mutiert. Bis heute nehmen Christen in der ganzen Welt Juden in eine über Jahrhunderte dauernde Sippenhaft wegen der angeblichen Schuld am „Tod des Herrn“. Als Mohammed 630 Jahre später stirbt, fängt ein Streit unter den Muslimen an, der ebenfalls bis heute andauert. Für die sunnitische Mehrheit seiner Anhänger soll ein „Kalif“ vom Stamme Mohammeds für die Reinhaltung der islamischen Lehre sorgen und als politisch-militärischer Führer während des Dschihads – einem Krieg gegen die Ungläubigen - fungieren. Die Schiiten dagegen betrachten Ali, den Cousin und Schwiegersohn Mohammeds, als den einzigen legitimen Nachfolger Mohammeds und treten auch heute noch dafür ein, dass nur ein Familienangehöriger des Propheten dessen Nachfolge antreten dürfe. Sunniten und Schiiten befinden sich seit Jahrhunderten in einem blutigen Streit um eine von beiden akzeptierte Lösung dieser Frage – bisher ohne Erfolg.
Religionskriege
Muslime und Christen haben in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gegeneinander gefochten, weil sie sich gegenseitig als „Ungläubige“ denunziert haben. Millionen Tote gehen auf ihr Konto und noch immer ist die unterschiedliche Religion Antriebsfeder für Misstrauen auf beiden Seiten. Dabei könnte die Rückbesinnung auf den gleichen Ursprung ihrer Religionen islamistische Terroristen und radikale Christen davon abhalten, sich an die Gurgel zu gehen und dabei nicht selten den Dritten im Bunde – die Juden – offen oder hinter vorgehaltener Hand als Ursache allen Übels auszumachen. Der Streit der Religionen und das Beharren darauf, dass der eigene Glaube der einzig wahre sei, sind wesentliche Gründe für die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, sorgen in den USA für eine tiefe gesellschaftliche Spaltung zwischen weißen, radikalen Christen und muslimischen Einwanderern, denen pauschal charakterliche Minderwertigkeit unterstellt wird. Der „Islamische Staat“ will die Taten der Kreuzfahrer des 12. und 13. Jahrhunderts rächen und im Nahen und Mittleren Osten die durch europäische Kolonialmächte am Anfang des 20. Jahrhunderts gezogenen Grenzen (Jordanien, Libanon, Ägypten, Sudan, Libyen, Irak) revidieren. Es gilt den Teufelskreis zu durchbrechen, der sich aus religiöser Ablehnung und einem Mix aus rassistischen und sozialen Vorurteilen speist, um einen Weg einzuschlagen, der in der Befriedung von Gesellschaften und Völkern münden könnte. Dann wären wir im Einklang mit den beiden Religionsstiftern.
BLOG | NOVEMBER 2020 | Die Arabellion und der 30jährige Krieg
Die Arabellion und der dreißigjährige Krieg
Es mag weit hergeholt erscheinen, dennoch sind die Parallelen zwischen dem 30jährigen Krieg in Europa von 1618 bis 1648 und dem mittlerweile 40jährigen Krieg im Nahen und Mittleren Osten von 1980 bis 2020 kaum zu übersehen. Die mittelalterliche Welt des 16. und 17. Jahrhunderts war zerfressen von einem Religionskonflikt zwischen Protestanten und Katholiken. Weder der Augsburger Religionsfrieden (1555) in Deutschland, noch das Edikt von Nantes (1598) in Frankreich hatten Frieden zwischen den Konfessionen stiften können. Das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ war genauso gespalten wie Frankreich, wo protestantische Hugenotten in acht Kriegen regelrecht gejagt und vernichtet wurden.
Destabilisierung des Mittleren Ostens
Mit dem Sturz des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, endete 1979 nicht nur ein diktatorisches Regime im damaligen Persien, sondern auch die Zeit, in der eines der einflussreichsten Länder am Golf eine säkulare Politik verfolgte. Der schiitische Klerus war zwar nicht verboten oder aus dem Land gewiesen, spielte aber nur eine untergeordnete Rolle. Nach dem Sturz des im Inland verhassten und im Ausland umstrittenen Schahs von Persien kam am 1. Februar 1979 Ajatollah Chomeini aus seinem Exil in Paris zurück nach Teheran, zettelte eine Revolution an und errichtete eine islamische Republik unter der autoritären Regentschaft der Mullahs. Während sich der Iran in einen Gottesstaat verwandelte, regierte im Nachbarstaat Irak seit einem Putsch von 1963 die sunnitische Baath-Partei mit Saddam Hussein an der Spitze. Die sunnitische Minderheit hielt – mit der Macht des Staates und des Militärs im Rücken – die schiitische Mehrheit in Schach. Staatsdoktrin im Land an Euphrat und Tigris waren Säkularismus und vor allem ein Panarabismus unter irakischer Vorherrschaft. Der religiöse Streit zwischen Sunniten und Schiiten und der Kampf um die Hegemonie am Persischen Golf, dessen Anrainer die Welt mit Öl versorgen, waren Auslöser des ersten Golfkriegs, der am 22. September 1980 zwischen dem Iran und dem Irak begann.
Dieser acht Jahre dauernde und mit äußerster Brutalität geführte Krieg hinterließ einen nachhaltig destabilisierten geopolitische Raum im gesamten Mittleren Osten. Die beiden Schwergewichte zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf lagen ermattet und zerstört darnieder. Der Irak erholte sich schneller und provozierte mit der Annexion Kuwaits Anfang August 1990 den zweiten Golfkrieg, der unter US-amerikanischer Führung im Januar 1991 begann, mit der Befreiung Kuwaits und einer irakischen Niederlage sechs Wochen später endete. Vielleicht hätte sich die Lage in den Staaten des Mittleren Ostens stabilisiert, wenn eine neue und gerechte politische Ordnung – ähnlich wie in West-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – etabliert worden wäre. So aber berief sich die internationale Koalition auf das eng gefasste UN-Mandat, das keinen Regimewechsel im Irak, sondern lediglich die Befreiung Kuwaits vorsah. Die Befreiung Kuwaits war aber trotzdem weit mehr als das, denn fortan waren weite Teile des Mittleren Ostens in Händen von warlords und anderen Kriegsgewinnlern, die dafür sorgten, dass alle Versuche eine funktionieren Nachkriegsordnung aufzubauen, zum Scheitern verurteilt waren.
Destabilisierung der mittelalterlichen Welt
Eine ähnliche Destabilisierung kennzeichnete die kontinentale Mitte Europas zwischen dem Ende des 16. und dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Die Niederlande stritten seit 1568 für ihre Unabhängigkeit von Spanien; die christliche „Heilige Liga“ (Spanien, Venedig, Genua und der Vatikan) kämpfte 1571 gegen das muslimische Osmanische Reich, zwischen 1593 und 1609 zog auch die Habsburgermonarchie im „Langen Türkenkrieg“ gegen die Osmanen zu Felde, 1607 verursachten lokale, religiös motivierte Unruhen für zahlreiche Tote. In dieser politisch aufgeheizten Stimmung kamen 1608 der deutsch-römische Kaiser und die Reichsstände zu einem Reichstag in Regensburg zusammen und stellten fest, dass dieses Organ der Konfliktbereinigung zwischen Zentralmacht und Territorialfürsten nicht mehr funktionierte und somit das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ nicht mehr regierbar war. Gleichzeitig bewaffneten sich die Protestanten 1608 in der „Protestantischen Union“ und 1609 die Katholiken in der „Katholischen Liga“. Fortan standen sich schwer bewaffnete religiöse Gruppen gegenüber, die jeweils von weltlichen Landesfürsten unterstützt wurden. Das vorhersehbare Ergebnis dieser Entwicklung war ein Krieg um die Glaubensfreiheit, der sich 1618 nach einem innerböhmischen Disput und dem Prager Fenstersturz entzündete.
Wie im Mittleren Osten am Ende des 20. Jahrhunderts gab es im mittelalterlichen Europa religiöse Unruhen, der geostrategische Raum war destabilisiert und staatliche Strukturen waren weitgehend aufgelöst. 1618 führte das zu einem Religionskrieg, der nach dem Sieg des katholischen Kaisers in Böhmen eigentlich beendet war, aber durch hegemoniale Konflikte und Einmischung europäischer Großmächte wie Frankreich oder Dänemark und schließlich Schweden immer wieder angeheizt wurde. Ähnlich geht es seit 1979 im Mittleren Osten zu: Unter den Muslimen herrschte Streit zwischen Schiiten, Sunniten und Wahhabiten. Im Iran gab es nach der islamischen Revolution einen Verfassungskonflikt durch den religiösen und politischen Führungsanspruch der Mullahs in der islamischen Welt des Mittleren Ostens. Das führte einerseits zu einer weitreichenden Isolation des Iran im Westen und andererseits zu einem Bündnis mit dem mehrheitlich sunnitischen Syrien. Trotz internationaler Schwierigkeiten gelang es dem Iran, Stimmung für einen national-religiösen Aufbruch und für den Wunsch nach einem muslimischen Groß-Arabien zu erzeugen.
Der Frieden von Münster und Osnabrück
Hegemoniale Absichten hatte auch die katholische französische Monarchie, als sie während des 30jährigen Krieges in wechselnden Koalitionen – auch mit dem protestantischen Schweden – die Macht des römisch-deutschen Kaisers brechen wollte. Damit wurde aus dem Streit um die Religion ein europäischer Krieg um die Hegemonie über den Kontinent. Er wurde von außen mit Geld und Waffen befeuert und nicht umsonst eingeteilt in eine „böhmisch-pfälzische, eine dänisch-niedersächsische, eine schwedische und eine schwedisch-französische Phase“. 1648 unterzeichneten die Kombattanten in Münster und Osnabrück den „Westfälischen Frieden“ und beendeten damit das 30jährige Inferno, das - wie es der Berliner Historiker Herfried Münkler formuliert hat, eine „europäische Katastrophe und ein deutsches Trauma“ war.
Davon ist der Mittlere Osten noch weit entfernt, vielleicht weiter denn je. Nach wie vor mischen sich Staaten aus anderen Regionen der Welt in die Auseinandersetzung ein, die ihre eigentlichen Ursachen in den vielschichtigen Problemen der arabischen Staaten hat. Aber so lange Waffen geliefert und die Kämpfe durch immer neue geostrategische Absichten von außen angefeuert werden, geht der arabische Krieg weiter. Im syrischen Bürgerkrieg kämpft der Iran an der Seite des Machthabers Assad, die schiitische Hisbollah bekämpft sunnitische Einheiten, die lange von den USA unterstützt wurden. Russland greift militärisch auf Seiten Syriens ins Kampfgeschehen ein, weil sie auch zukünftig in dieser Region politisch und militärisch mitreden will. Die Türkei nutzt die Gunst der Stunde und zieht (mal wieder) gegen die Kurden zu Felde, die wiederum von den USA – immerhin NATO-Partner der Türkei - unterstützt wurden, weil sie gegen den von der US-Administration als Bösewicht ausgemachten syrischen Machthaber Baschar al Assad Widerstand leisteten.
All das hat mit der Arabellion nichts zu tun, all das löst kein einziges der innerstaatlichen Probleme in vielen arabischen Ländern und all das müsste bei einem „Westfälischen Frieden“ für den Nahen und Mittleren Osten, wie ihn Bundespräsident Frank Walter Steinmeier ins Spiel gebracht hat, gelöst werden. Bis dahin ist es ein verdammt weiter Weg. Man könnte die ersten Schritte machen, in dem man keine Waffen mehr an die Kombattanten liefert und ihnen jedwede militärische Unterstützung entzieht. Im Mittelalter vergingen zwischen der Einsicht, dass das Töten ein Ende haben muss, noch 4 Jahre, bis ein Frieden unterzeichnet wurde. Heute würde das sicher sehr viel länger dauern, aber irgendwann muss man anfangen, sonst geht es immer so weiter – von einer Arabellion zur nächsten.
BLOG | OKTOBER 2020 | Es begann mit Opium
Es begann mit Opium
Wir schauen heute mit Entsetzen nach Hongkong, wo unter den Knüppeln der chinesischen Polizei die Demokratiebewegung niedergemacht wird. Der Slogan, den sich einst der greise Deng Xiaoping ausgedacht hat, „Ein Land - Zwei Systeme“ ist das Papier nicht wert, auf dem er aufgeschrieben wurde. Die meisten Europäer protestieren, drohen China mit Konsequenzen und versichern den Hongkong-Chinesen ihre Solidarität. Dabei geht die Trennung der Halbinsel Hongkong von Festlandchina – und damit die Ursache des Konflikts - auf die europäische Kolonialgeschichte zurück, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte. Es waren britische Kolonialherren und britische Wirtschaftsinteressen, die China für viele Jahrzehnte in ein soziales und ökonomisches Desaster stürzten. Auch wenn man Premierminister Boris Johnson kaum so etwas wie ein schlechtes Gewissen unterstellen kann, hat ihn dieser historische Umstand vielleicht doch dazu gebracht, den etwa 350.000 Bürgerinnen und Bürgern Hongkongs, die einen „British National Overseas“ - Pass besitzen, eine „erleichterte Einbürgerung“ anzubieten.
Der Grund für dieses Angebot liegt knapp 200 Jahre zurück. Am Beginn des 19. Jahrhunderts stellten die Briten nämlich fest, dass ihre Handelsbilanz mit China defizitär war. Sie importierten feine Seide, Porzellan und Tee in großen Mengen nach England, verkauften aber kaum etwas ins Reich der Mitte. Um dieses Ungleichgewicht zu reduzieren, verfielen Händler und Kaufleute der britischen „Ostindien-Kompanie“ auf die fatale Idee, aus Bengalen, Teil der späteren britischen Kronkolonie Indien, große Menge Opium nach China zu exportieren. Als Ergebnis stiegen Drogenkonsum und soziale Spannungen in China. Die Behörden der kaiserlichen Regierung in Peking wollten dem Treiben durch Beschlagnahmungen und Verhaftungen der Drogenhändler entgegenwirken. Das provozierte Streit mit der britischen Kolonialmacht, die sich in diesen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Ausbreitung und weltweiten Macht befand.
Erster Opiumkrieg
1839 schaukelte sich dieser Streit zum ersten Opiumkrieg hoch, bei dem die Chinesen gegen die überlegene Militärmacht Großbritannien keine Chance hatten. Aber sie mussten nicht nur die Schmach einer verheerenden Niederlage einstecken, sondern im August 1842 auch noch den Vertrag von Nanking unterschreiben. Darin gewährten sie den Siegern freien Zugang zu ihren Pazifikhäfen in Shanghai, Xiamen, Fuzhou und Hongkong und akzeptierten die Senkung der Ex- und Importzölle auf den damals weltweit niedrigsten Satz von fünf Prozent. Aber damit nicht genug, denn Großbritannien sicherte sich in Nanking auch noch die „ewigen“ Besitzrechte an Hongkong. Der Opiumhandel blieb weiterhin illegal, was aber die britischen Händler nicht daran hinderte, den Saft der Mohnblüte auch weiterhin in großen Mengen nach China zu liefern und damit für eine steigende Zahl von Abhängigen zu sorgen.
Für China begann 1842 mit dem Vertrag von Nanking eine lange Zeit der kolonialen Fremdbestimmung. Man kann den Eindruck haben, dass die aktuelle Politik Chinas von diesem Trauma immer noch geprägt ist: Nie wieder Unterjochung, nie wieder Wehrlosigkeit gegen imperiale Ansprüche der westlichen Welt, stattdessen Ausbau der eigenen Wirtschaftskraft – leider mit kaum besseren Methoden als die der verhassten Kolonialherren des 19. Jahrhunderts. Damals bildete sich eine innerchinesische Opposition, die nicht nur die Briten rausschmeißen, sondern auch die konservative Politik am chinesischen Kaiserhof beenden wollte. Diese inneren Spannungen nutzten die Kolonialmächte ein weiteres Mal aus. 1856 begannen sie nach der Durchsuchung eines britischen Segelschiffs den zweiten Opiumkrieg, der zwei Jahre später mit einer weiteren Niederlage Chinas und dem Vertrag von Tianjin endete.
China und die Kolonialmächte
Nun musste China seine Märkte für europäische Kolonialwaren komplett öffnen, alle seine Häfen zur Verfügung stellen und den Europäern unbeschränkte Freizügigkeit in einem Radius von 50 Kilometern um seine Häfen gewähren. Überall wurden britische Gewichte und Maße eingeführt, der Importzoll auf 2,5 Prozent gesenkt und als offizielle Amtssprache englisch eingeführt. Überdies konnten christliche Missionsstationen fortan tun und lassen, was sie wollten und nach einer eigenen Gerichtsbarkeit leben. Als die chinesische Regierung sich weigerte, diesen Vertrag zu unterschreiben, nahm das Kolonialheer die Kämpfe wieder auf und zerstörte dabei die kaiserlichen Gärten – den „alten Sommerpalast“. Nun lenkten die Chinesen ein und unterschrieben am 18. Oktober 1860 die „Pekinger Konvention“, wodurch die Provinz Kowloon Hongkong und somit den Briten zugeschlagen wurde. Fortan wurden Hongkong und Kowloon zwar von Chinesen bewohnt, aber von Briten regiert und verwaltet.
Die Entfremdung Chinas von Europa und vor allem von Großbritannien steigerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal. Zunächst hatte Premierminister Winston Churchill gesagt, die Kontrolle über Hongkong und Kowloon nach dem Ende der Kampfhandlungen an China zurückzugeben. Als aber unmittelbar nach 1945 der „kalte Krieg“ begann und Churchill einer der schärfsten Kritiker Stalins wurde, zog er diese Zusage zurück: Hongkongs geostrategische Lage im Pazifischen Ozean mag die entscheidende Rolle gespielt haben. Churchills Wortbruch einte sogar die größten innerchinesischen Feinde: Die KP Mao Zedongs und die Guomindang von Chiang Kai-shek, dem späteren Gründer der Republik China (Taiwan). Egal ob Kommunisten oder Nationalisten, schrieb Chiang Kai-shek, kein Chinese könne eine Abmachung akzeptieren, „welche die chinesische territoriale und administrative Integrität verletzt“. Damit hatte er zweifellos Recht und nach der britischen Entscheidung war das Verhältnis der Chinesen zum Rest der Welt nachhaltig gestört.
Hongkong
Das änderte sich auch am 1. Juli 1997 nicht, als nach 15jährigen Verhandlungen die britische Regierung die Kontrolle über Hongkong und Kowloon an China zurückgab und die Einrichtung einer Sonderverwaltungszone verabredete. Auf 50 Jahre wurde den Bewohnern von Hongkong der Bestand ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnung garantiert: Ein Land – Zwei Systeme. Die Briten waren froh, sich dieser kolonialen Last entledigt zu haben, die Garantie von vielen Autonomierechten beruhigte ihr Gewissen und sie hofften auf die Vertragstreue der chinesischen Regierung. Seit einigen Jahren aber stellt sich heraus, dass es damit nicht weit her ist und Staatschef Xi Jinping macht keinerlei Anstalten, sich an das britisch-chinesische Abkommen zu halten.
Und damit stehen vor allem Großbritannien aber auch die EU vor einem Dilemma: Die britische Regierung sieht sich offenbar in der Verantwortung ihrer kolonialen Vergangenheit, in dem sie die Grenzen ein wenig öffnet. Der Johnson-Administration dürfte das allerdings zur Unzeit kommen, denn die ökonomischen Belastungen der von ihm miserabel gemanagten Corona-Krise und die Folgen seiner irrationalen Brexit-Strategie dürften Wirtschaft und Sozialsystem massiv strapazieren. Da sind mehrere Hunderttausend Bürgerinnen und Bürger Hongkongs sicher nicht jedem Briten willkommen. Aber auch die Staaten der EU sehen schlecht aus, wenn sie den Ereignissen in Hongkong kommentarlos zuschauen und gleichzeitig mit China große Geschäfte machen. Dabei steht die eigentliche Nagelprobe erst noch bevor, wenn China nämlich damit beginnt, die als „abtrünnig“ bezeichnete „Provinz“ Taiwan zu attackieren und die „Ein China“ – Politik durchzusetzen.
BLOG | SEPTEMBER 2020 | Amerika den Amerikanern
Es ist knapp 200 Jahre her, da trafen die Nordamerikaner eine außenpolitische Weichenstellung, an der sie viele Jahrzehnte festhielten. Jetzt erinnern sich offenbar viele Amerikaner wieder die Monroe-Doktrin vom 2. Dezember 1823. Die Amtszeit des 5. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, James Monroe, war einerseits geprägt von einer innenpolitischen Stabilisierung, nachdem durch den Erwerb der französischen Kolonie Louisiana und spanischen Kolonie Florida zwischen 1803 und 1819 eine erhebliche Gebietserweiterung der USA gelungen war.
Andererseits aber befanden sich die USA im Krieg mit Großbritannien. Monroes Vorgänger im Amt, James Madison, hatte die Blockade amerikanischer Häfen durch britische Kriegsschiffe beklagt, mit der die Seeblockade Napoleons gegen England beantwortet werden sollte. Amerikanische Waren konnten nicht mehr in das von Frankreich beherrschte Europa geliefert werden und die USA waren unfreiwillig in einen innereuropäischen Konflikt gezogen worden. Der nachfolgende amerikanisch-britische Krieg bescherte den Amerikanern die traumatische Erfahrung von plündernden und brandschatzenden britischen Soldaten in Washington. Aber es gab in den 20er Jahren zwei weitere Konfliktherde, die das Verhältnis der USA zum Rest der Welt veränderten.
USA und Europa
Zum einen liefen die Unabhängigkeitsbewegungen in den spanischen Königreichen Peru, Neugranada und Rio de la Plata (heute Peru, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Panama, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Paraguay) Gefahr von europäischen Großmächten gestoppt und rekolonialisiert zu werden. Und zum anderen drangen russische Siedler und Händler immer weiter in Gebiete Kanadas und Alaskas vor und beanspruchten sie für sich. Beide Konflikte berührten das Selbstverständnis der Amerikaner zu ihrem Kontinent und zwangen die USA dazu, ihr Verhältnis zu Europa und dem Rest der Welt zu definieren. In dieser Situation legte James Monroe einen fünf Punkte-Plan vor. Darin beschrieb er die zukünftige Außenpolitik seines Landes: Erstens werde man einer Rückeroberung der südamerikanischen Kolonien durch Spanien oder andere europäische Kolonialmächte nicht tatenlos zusehen. Zweitens sei eine Anerkennung der neuen geopolitischen Situation in Südamerika durch die gerade entstandenen unabhängigen Republiken nur eine Frage der Zeit. Drittens hoffe man auf eine einvernehmliche Lösung zwischen den ehemaligen Kolonien und ihren europäischen Kolonialmächten. Viertens versicherte er, dass die USA niemals eigene Kolonien anstreben werden. Fünftens formulierte er den Anspruch, dass die Amerikaner ihre Probleme ohne Einmischung fremder Mächte allein lösen können.
Damit hatte James Monroe so etwas wie zwei Sphären kreiert: eine amerikanische und eine andere, in der sich alle anderen Staaten wiederfanden. Gleichzeitig begründete er damit das Prinzip der Nichteinmischung der USA in europäische Konflikte und verkündete das Ende der Kolonisation des amerikanischen Kontinents. Sollten die Europäer dennoch versuchen, die unabhängig gewordenen Staaten Amerikas zu rekolonisieren, würde das automatisch ein Eingreifen der USA nach sich ziehen. Dieser „Panamerikanismus“ bestimmte fortan die Außenpolitik der Vereinigten Staaten Amerika.
Erster Weltkrieg
„Amerika den Amerikanern“ war die Parole, die sich in den folgenden Jahrzehnten etwa 1845 beim Eintritt der ehemals mexikanischen Gebiete Texas und Kalifornien in die USA oder 1895 beim Streit um die britische Kolonie British Guayana zeigte. Auf eine ernsthafte Probe wurde die Monroe-Doktrin gestellt, als die USA am 6. April 1917 in den Ersten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten eintraten. Das war ein klarer Bruch der Monroe-Doktrin und führte am Ende des Krieges zu einem folgenreichen Kuriosum. Basierend auf den Friedensplänen des 28. US-Präsidenten Woodrow Wilson gründete sich am 10. Januar 1920 in Genf der Völkerbund, ohne dass die USA den für sie reservierten Platz einnahmen. Die Mehrheit des amerikanischen Kongresses und auch der Bevölkerung wollten an der selbstgewählten Isolation festhalten und verzichteten freiwillig auf amerikanischen Einfluss bei weltpolitischen Entscheidungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das angesichts des Kalten Kriegs zwischen den westlichen Demokratien und der sozialistischen Welt der Sowjetunion anders. Die USA wurden – nahezu zwangsläufig - zu einer Supermacht, die in Westeuropa und vielen anderen Ländern den Expansionsgelüsten der Sowjetunion entgegentraten. Die Monroe-Doktrin wurde abgelöst durch die Truman-Doktrin des 33. Präsidenten Harry S. Truman, der im März 1947 erklärte, dass „allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist“, Beistand gewährt werde. Damit begann die Rolle der USA als „Weltpolizei“, die weder auf das Völkerrecht noch auf die Wünsche der jeweiligen Bevölkerung Rücksicht nahm. So lange diese Politik als „Eindämmung“ der Sowjetunion („Containment-Politik“) deklariert wurde, ließen sich damit militärische Interventionen auf der ganzen Welt „begründen“.
USA und der Rest der Welt
Aber die USA haben einen sehr hohen Preis dafür gezahlt. Es gibt kaum eine amerikanische Familie, die keinen auf irgendeinem Schlachtfeld in Vietnam, Korea oder anderswo gefallenen Angehörigen zu beklagen hat. Als mit dem Ende der Ära Gorbatschow Anfang der 90er Jahre der Kalte Krieg beendet war, ließ sich ein auswärtiges Engagement nur noch mit einer vorherigen Attacke gegen die USA begründen. Der Anschlag vom 11. September 2001 und der Irakkrieg des 43. Präsidenten George Bush jun. war so ein Zusammenhang. Aber Bush jun. hatte große Schwierigkeiten, die Welt von dieser Mission zu überzeugen. Seither hat sich die amerikanische Außenpolitik verändert und ein Revival der Monroe-Doktrin ausgelöst. Die USA beschäftigen sich mit sich selbst und sehen den Rest der Welt in einer anderen, nicht – amerikanischen Sphäre. Die Distanz zu Europa wird seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer größer, die Freundschaft zu den einstigen Partnern im Kalten Krieg kühlt ab.
Seit einigen Jahren verlassen die USA internationale Abkommen, wie das Klimaübereinkommen von Paris, dem Ende 2015 bei einer Konferenz in der französischen Hauptstadt 195 Staaten beigetreten sind, oder die Weltgesundheitsorganisation, der die Trump-Administration Chinahörigkeit und Unfähigkeit vorgeworfen haben. In diese neue „Monroe“-Politik gehört auch die nicht erst von Donald Trump erhobene Forderung nach höheren deutschen Verteidigungsausgaben im Rahmen der NATO. Die USA hinterlassen mit dieser Politik ein weltweites geostrategisches Machtvakuum, das teilweise von China zum Beispiel mit der neuen „Seidenstraße“ gefüllt wird. Für Europa wird erst jetzt so richtig klar, dass das Ende des Kalten Krieges den Beginn der militärischen, politischen und ökonomischen Eigenständigkeit des Kontinents bedeutet. Das wird sich auch unter einem US-Präsidenten Joe Biden kaum ändern.