Wir Europäer


Wir Europäer


Zwischen Magna Carta und Französischer Revolution 

Während sich der Kampf um die Freiheit des Glaubens auf dem europäischen Festland abspielte, kamen von der britischen Insel zwei Entwicklungen, die Europa ebenso entscheidend geprägt haben wie der Kampf um die Religionsfreiheit. Die Vorgeschichte begann im April 1199, als der englische König Richard Löwenherz einer schweren Verletzung erlag. Sein Bruder Johann war bei der Aufteilung des väterlichen Erbes bis dahin leer ausgegangen, was ihm den einprägsamen Beinamen „Ohneland“ eingebracht hatte. Jener Johann Ohneland wurde als Nachfolger seines Bruders englischer König. Seine folgenschwere Regentschaft stand unter keinem guten Stern, denn außenpolitisch in einen Krieg mit Frankreich verwickelt, war die Innenpolitik durch einen schweren Konflikt mit dem englischen Adel bestimmt. Das Verhältnis zwischen Adel und König war schon seit langem gestört, weil Johanns Vorgänger das Land zwar mit einigem Geschick aber auch mit teilweise erschreckender Brutalität regiert hatten. Diesen Regierungsstil bekam auch die römische Kurie zu spüren, die nicht verhindern konnte, dass 1174 Heinrich II. die englische Variante des Investiturstreits für sich entschied. Der König durfte auch weiterhin kirchliche Würdenträger einsetzen und verhalf sogar dem königlichen Recht innerhalb der Kirche zum Durchbruch. Damit zog sich Heinrich II. den Zorn der britischen Kirchenmänner zu, was auch nun Johann Ohneland zu spüren bekam. Im Erzbischof von Canterbury hatte er seinen wohl ärgsten innenpolitischen Gegner. 

1209 wurde er auf Betreiben des Erzbischofs von Papst Innozenz III. exkommuniziert. Aber König Johann versöhnte sich mit dem Papst und begegnete einer drohenden Invasion Englands durch französische Truppen, indem er mit einem Heer auf dem französischen Festland erschien. Nach einer verlorenen Schlacht in Flandern am 27. Juli 1214 hatte er Glück, weil der französische König einen fünfjährigen Waffenstillstand gewährte und ihm auf diese Weise einen noch schlimmeren Gesichtsverlust ersparte. Diese Schmach war den englischen Adligen dennoch zu deftig. Sie zettelten einen Aufstand mit dem Ziel gegen den König an, diesen entweder abzusetzen oder ihn zu einer Unterschrift zu bewegen. 


Magna Carta I 

Angesichts des Protests, dem sich auch Teile der Londoner Bürgerschaft angeschlossen hatten, blieb Johann Ohneland nichts anderes übrig, als am 15. Juni 1215 mit seinem königlichen Siegel eine Urkunde zu bestätigen, die als „Magna Carta“ in die Geschichte Europas eingegangen ist und 63 Artikel umfasst. Zum ersten Mal war mit der „Magna Carta“ der bis heute gültige Grundsatz festgeschrieben, dass kein „freier Mann“ willkürlich verhaftet werden durfte. Die Festsetzung und die Eintreibung von Steuern bedurfte zukünftig ebenso der Zustimmung der Adligen wie die Rechtschutzgarantie für Freie und die Sonderrechte für die Londoner Bürgerschaft unantastbar waren. Zudem waren die in der „Magna Carta“ festgeschriebenen Grundsätze unveräußerlich, sie galten also für jeden Menschen und durften niemandem vorenthalten werden. Diese Urkunde, die erst in den kommenden Jahrzehnten ihre volle Wirkung entfalten konnte, wurde zur bedeutendsten Grundlage des englischen Verfassungsrechts. 

Es ist vermutlich nicht übertrieben in der „Magna Carta“ jene Urkunde zu sehen, die die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass sich erst auf der britischen Insel und später auf dem europäischen Kontinent mehr und mehr bürgerliche Freiheiten und Rechte durchsetzen konnten. Der Grundsatz, dass der König „ohne die allgemeine Zustimmung Unseres Reiches“ keine Steuern erheben durfte, erinnert nahezu wörtlich an eine politische Forderung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges am Ende des 18. Jahrhunderts: „No taxation without representation!“ – Keine Zustimmung zu Steuern ohne angemessene Vertretung im Parlament! Johann Ohneland hatte die „Magna Carta“ zwar unterzeichnet, aber der Ärger mit den Adligen und die Auseinandersetzungen mit seinem französischen Widersacher Philipp II. August blieben ihm trotzdem erhalten. Zudem war wegen der äußeren Bedrohung durch Frankreich das Zugehörigkeitsgefühl der englischen Barone zu ihrer Insel derart gewachsen, dass sie nun das Selbstbewusstsein hatten, die „Magna Carta“ zu verteidigen. Kein Widerruf des Königs und keine Nichtigkeitserklärung von Papst Innozenz III. konnte den „großen Freibrief“ mehr aus der Welt schaffen und die Bedeutung dieser europäischen Freiheitsurkunde schmälern. Die englischen Könige herrschten fortan nicht mehr willkürlich und von „Gottes Gnaden“, sondern waren zu einem Interessensausgleich zunächst mit den Adligen Englands und später auch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen gezwungen. Eine erste Frühform der „konstitutionellen“ Monarchie, also einer an die Verfassung gebundenen Monarchie, war geboren. Die Adligen hatten sich politische Partizipation erstritten, die sie fortan immer mehr erweitern konnten. Die 1215 entstandene „Magna Carta“ ist in abgewandelter Form Teil und Grundlage der heutigen Gesetze Großbritanniens. Gemeinsam mit der „Bill of Rights“ des Jahres 1791 ist sie die Basis aller Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika, deren Verfassung sich in weiten Teilen auf die in der „Magna Carta“ festgelegten Rechtsgrundsätze bezieht. Basierend auf dieser Urkunde entwickelten sich auf der britischen Insel erste Frühformen des Parlamentarismus. 1236 tauchte für die Versammlung der englischen Barone zum ersten Mal das Wort „Parlament“ auf. 1265 wurden auch Ritter niederer Ränge und bürgerliche Vertreter aus den Grafschaften und Städten zu einem „Parlament“ eingeladen. 1343 schließlich taucht zum ersten Mal der Begriff „House of Commons“ – das „Unterhaus“ - auf. 

„Petition of Rights“ und Habeas Corpus - Akte 

Aber trotz der festgeschriebenen Rechte für Adel und Bürgertum gab es immer wieder Versuche der englischen Könige, die „Magna Carta“ auszuhebeln. Willkürherrschaft und brutale Verfolgungsmethoden passten zwar in die Welt des Mittelalters, riefen aber bei den Menschen in England Empörung hervor, weil sie sich auf die „Magna Carta“ berufen konnten, deren Geist und Inhalt sie mit allen Mitteln zu verteidigen suchten. Besonders während der Herrschaft von Charles I. zwischen 1625 und 1649 war es um die Rechte der Bürger Englands manches Mal schlecht bestellt. Anfang Juni 1628 nutzte das Parlament aber eine günstige Gelegenheit, um die ihnen zustehenden Rechte nicht nur zu sichern, sondern auch noch auszuweiten. Charles I. hatte die Abgeordneten um Zustimmung für weitere Kredite gebeten. Die Parlamentarier signalisierten ihre Zustimmung unter der Bedingung, dass der König die „Petition of Rights“ unterschrieb. Sie sah vor, dass jede Art von Steuern und Abgaben vom Parlament beschlossen werden musste. Ferner durfte niemand willkürlich festgenommen werden, der König musste das Kriegsrecht aufheben und die gegen den Willen der Bürger in deren Häuser einquartierten Soldaten abziehen. Charles I. hatte keine Wahl: Wollte er die Kredite, musste er diese Urkunde unterzeichnen, was er am 7. Juni 1628 auch tat.  Die „Petition of Rights“ gehört ebenfalls in den Kanon bedeutender Rechtsurkunden, die bis heute nachwirken und die Verfassungen aller europäischen Länder beeinflusst haben. Aber mit der „Petition of Rights“ kam England keineswegs zur Ruhe. 

14 Jahre nach der Unterschrift des Königs brach auf der Insel ein blutiger Bürgerkrieg aus. Während auf dem Kontinent gerade der 30jährige Krieg seinem Ende entgegen ging, sorgte auch in England der Ruf nach Religionsfreiheit für Mord und Totschlag. Anführer der Revolte war Oliver Cromwell, ein ausgezeichneter Rhetoriker, dem es gelang, große Teile der Bürger hinter sich zu bringen. Im Januar 1648 besiegte sein Heer bei Preston königliche Truppen, wodurch die so genannten „Puritanische Revolution“ endgültig gesiegt hatte. Ein Jahr später wurde König Charles I. öffentlich enthauptet. Als sein Kopf in den Londoner Straßenstaub fiel, war der Startschuss für eine Entwicklung von großer Tragweite gefallen. Denn durch diese martialische Tat hatten sich die Briten nicht nur der Königsherrschaft entledigt, sondern im gleichen Augenblick England auch zur Republik gemacht. Das Oberhaus wurde nach Hause geschickt und der „Lordprotektor auf Lebenszeit“ Oliver Cromwell regierte das Land mit diktatorischen Vollmachten.  In den folgenden elf Jahren gab es in England weder einen König noch ein Oberhaus, das einzig entscheidende politische Gremium war das Unterhaus. Oliver Cromwell herrschte mit dem so genannten „Rumpfparlament“. Er unterdrückte jeden Widerstand mit teilweise außergewöhnlicher Brutalität, die 1649 auch nicht davor zurückschreckte in der irischen Stadt Drogheda mehr als 3500 Menschen hinrichten zu lassen. Dieser Mord an Soldaten, Zivilisten und Priestern gilt als ein historisches Menetekel, das noch heute die Beziehungen zwischen Irland und England belastet. Gleichwohl war die Herrschaft Oliver Cromwells nicht nur von Brutalität geprägt. Er lehnte die ihm mehrfach vom Parlament angetragene Königswürde ab und stärkte stattdessen den „Commonwealth of England“ („Gemeinwesen Englands“). Neben England gehörten diesem Commonwealth Wales, Schottland und Irland an. Als Oliver Cromwell am 3. September 1658 starb, trat sein Sohn Richard sein Erbe an. Aber er  konnte dem immer größer werdenden Chaos nicht Herr werden und musste unter dem Druck des Parlaments schon ein Jahr später wieder abdanken. 


Die Gunst dieser Stunde nutzte der Sohn des 10 Jahre zuvor öffentlich hingerichteten Charles I. Er kam ins Land zurück und wurde im Mai 1660 als Charles II. zum englischen König gekrönt. Wenig später zog der neue König in einer umjubelten Prozession in London ein und begründete eine absolute Monarchie nach dem Vorbild der französischen Könige. Aber seine Regentschaft war weniger von kluger Politik als vielmehr von Intrigen und Mätressenwirtschaft am königlichen Hof geprägt. Ihm werden mehr als 15 illegitime Kinder mit acht Mätressen nachgesagt, zahlreiche Skandale kamen hinzu. Seine Herrschaft war zudem von Willkür und ständigen Verletzungen der „Petition of Rights“ geprägt, was ihn in einen dauerhaften Konflikt mit dem Parlament brachte. Dort fanden heftige Debatten über willkürliche Verhaftungen, unbegründete Einkerkerungen und gegen ihren Willen verschleppte Gefangene statt. Derartige Verstöße gegen die „Petition of Rights“ sollten im Mai 1679 mit der so genannten „Habeas Corpus“–Akte beendet werden. Mit dieser nach dem lateinischen Anfang des mittelalterlichen Haftbefehls benannten Akte mussten die Angeklagten innerhalb von drei Tagen einem Richter vorgeführt werden, der die Haftgründe zu prüfen hatte. Ferner durfte kein Einwohner Englands zur Verbüßung einer Haftstrafe außer Landes gebracht werden. Der König stimmte dem Gesetz widerwillig zu. Die Macht der englischen Monarchie war durch die „Habeas Corpus“– Akte erneut an das Mitspracherecht des Parlaments gebunden. 

Glorious Revolution 

Mit der „Habeas Corpus“–Akte war ein Prozess angestoßen worden, der zehn Jahre später in der „Glorious Revolution“ endete. Ausgangspunkt dieser die europäische Geschichte prägenden Revolution war der immer noch nicht beigelegte religiöse Konflikt in England. Charles II. hatte bis zu seinem Tod 1685 dafür gesorgt, dass die unterschiedlichen Religionen nebeneinander existieren konnten. Zwar hatte das Parlament Ende 1679 mit der „Exclusion Bill“ festgelegt, dass niemals ein Katholik den englischen Thron würde besteigen dürfen, trotzdem herrschte eine relative religiöse Toleranz auf der britischen Insel. Der Nachfolger von Charles II., James II., bekannte sich jedoch offen zum Katholizismus, eiferte dem absolutistisch regierenden französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. nach und wollte eine groß angelegte Rekatholisierung der Insel durchsetzen. Dagegen stand die seit König Heinrich VIII. in England vorherrschende anglikanische Kirche, die sich 1534 deshalb von der römischen Kurie losgesagt hatte, weil Papst Clemens VII. sich geweigert hatte eine kinderlos gebliebene Ehe Heinrichs VIII. zu scheiden. James II. versuchte nun durch einige Toleranzedikte dem Streit die Schärfe zu nehmen, konnte allerdings nicht verhindern, dass im Parlament immer mehr Rufe laut wurden, man möge den Schwiegersohn des Königs, den Niederländer Wilhelm III. von Oranien, zu Hilfe holen. Der streng calvinistisch erzogene Wilhelm III. von Oranien war mit Maria, der Tochter des englischen Königs verheiratet. Ihre Hochzeit hatte weniger persönliche als politische Gründe gehabt. James II. wollte durch die Heirat seiner Tochter mit dem wichtigsten Führer der Protestanten jene Parlamentarier beruhigen, die eine Rekatholisierung Englands befürchteten. Nun aber kehrte sich dieser Plan gegen den König. Wilhelm III. von Oranien hatte sich einen Ruf als Militärstratege erworben und konnte dem verlockenden Angebot auf dem englischen Königsthron Platz zu nehmen, nicht widerstehen. Anfang November 1688 stach er in See und landete mit seinem Heer kurze Zeit später im Südwesten Englands. Die Truppen von James II. setzten ihm nur wenig Widerstand entgegen, so dass er schnell nach London vordringen konnte. 

Auf seinem Weg in die englische Metropole jubelte ihm die Zivilbevölkerung zu, zahlreiche Offiziere wechselten die Fronten und die Stimmung konnte in Erwartung eines baldigen Endes der religiösen Konflikte nicht besser sein. Da James II. fluchtartig das Land verlassen hatte und nach Frankreich geflohen war, wo er von Ludwig XIV. großzügig aufgenommen wurde, musste ein so genanntes Konventionsparlament einberufen werden, das Wilhelm III. von Oranien und seine Frau als Königspaar einsetzte. Aber erneut machte das Parlament seine Zustimmung von einer Unterschrift des Königspaars abhängig. Vor ihrer Krönung mussten Wilhelm und Maria am 26. Oktober 1689 eine Urkunde unterzeichnen, in der sämtliche Rechte des Parlaments und der Bürger Englands aufgelistet waren. Diese „Bill of Rights“ stand am Ende einer Jahre dauernden Auseinandersetzung zwischen dem Parlament und der englischen Krone. Ein Bürgerkrieg hatte das Land ins Chaos gestürzt, aber die Bürger haben sich am Ende durchgesetzt. Das Ergebnis der „Glorious Revolution“ war die an das Recht und die Gesetze des Landes gebundene „konstitutionelle Monarchie“, die in Großbritannien bis heute existiert. Die „Bill of Rights“ des Jahres 1689 und die darin ausdrücklich bestätigte „Habeas Corpus“ – Akte sind die wesentlichsten Grundlagen des modernen europäischen Verfassungssystems. Die Menschenrechtserklärung der französischen Revolution von 1789, die amerikanische Verfassung des Jahres 1791, die belgische Verfassung von 1831, die deutschen Verfassungen der Jahre 1849 und 1919 sowie das deutsche Grundgesetz von 1949 basieren auf der „Habeas Corpus“ – Akte. Diese gemeinsame Verfassungstradition zeigt, wie sehr sich die Völker Europas nicht nur durch kulturellen Austausch oder regen Handel gegenseitig beeinflusst haben, sondern auch durch Ideen, durch erkämpfte und den Regenten abgetrotzte politische Rechte und den daraus folgenden gesetzlichen Grundsätzen. Die 1689 festgelegten Rechte gelten bis heute: freie Wahl des Parlaments, das Recht der freien Debatte für Parlamentarier, Immunität für Abgeordnete, Steuererhebung nur mit Zustimmung des Parlaments und kein stehendes Heer ohne Zustimmung des Parlaments. Im Oktober1689 wurde das rechtliche Gerüst der parlamentarischen Demokratie aufgestellt, die als einzige, verpflichtende gemeinsame Basis aller Mitglieder der Gesellschaft die Aufforderung vorsieht, sich an die bestehenden Gesetze zu halten. 

Parallelität der Ereignisse 

Während in England die Macht des Königs eingeschränkt wurde, regierte in Frankreich der König mit allen nur vorstellbaren Machtbefugnissen. In beiden Ländern wurden im 17. Jahrhundert die Grundsteine für die Moderne gelegt. Der französische Absolutismus beendete die bürgerkriegsähnlichen Zustände mit den Hugenotten und die Fehden der Adelsfamilien. Der Merkantilismus als die Wirtschaftsform des Absolutismus sicherte dem Land einen wirtschaftlichen Aufschwung, bewirkte aber auch eine Verarmung der Bauern und deren Radikalisierung, was wenig später in der französischen Revolution mündete. Ungeachtet der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und der kaum nachvollziehbaren Verschwendungssucht der französischen Könige schuf das absolutistische System die Voraussetzungen für eine Blüte von Wissenschaft und Kunst. Das aufstrebende Russland, Österreich und etwas später auch Preußen wurden vom Absolutismus geprägt. In diesen Ländern erfolgte die Modernisierung des Staates durch von oben verordnete, teilweise erschreckend brutal durchgesetzte Reformen. Während das Motto hier „Alle Macht dem König“ lautete, hieß es in England „Alle Macht dem Parlament“.  Auf der britischen Insel regierte ein konstitutionelles Bündnis aus König und Bürgertum mit einem gesetzlich geregelten System von Rechten und Pflichten für beide Seiten. Der englische Parlamentarismus inspirierte die Philosophen und Denker des europäischen Kontinents, was sich bald in der „Aufklärung“ niederschlagen sollte. Zwei Revolutionen – 1775 in Amerika und 1789 in Frankreich – bezogen sich auf das englische Vorbild und verhalfen dem Parlamentarismus auch in diesen Ländern zum Durchbruch. 


Aufklärung: Es lebe die Vernunft! 

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts hatten Wissenschaftler viele neue Fakten gesammelt und Erkenntnisse gewonnen, die eine andere Sichtweise des Lebens notwendig machten. Physiker und Astronomen hatten entdeckt, wie Sonne, Mond und Sterne mit der Erde zusammenhängen. Naturwissenschaftler waren sich klar darüber geworden, wie der Mensch sich die Kraft des Wassers zu Nutze machen konnte. Die Seefahrt hatte fremde Kontinente erschlossen und damit die Vorstellung von der Erde, die eine Scheibe sein sollte, zunichte gemacht. Wenn diese Einsichten zutrafen, dann waren die bis dahin gültigen Erklärungsmuster der katholischen Kirche weitgehend hinfällig. Dann war auch die Suche nach Antworten auf Fragen, die das Leben und die Natur aufwarfen, eine Aufgabe des Verstandes und nicht des Glaubens. Nicht Glauben, sondern Wissen war die Maxime der Aufklärung. Durch Beobachten, Nachdenken und Experimentieren glaubten die Aufklärer Wissen anhäufen zu können, das in der Lage sei, Erkenntnisse über die Welt - und wie sie funktioniert - zu vermitteln. Damit wurde die Vorstellung, die Welt sei Gottes Schöpfung und funktioniere ausschließlich nach den von der katholischen Kirche festgelegten Regeln, ad absurdum geführt. Die Aufklärung stellte alles Bisherige in Frage, äußerte finale Kritik an religiösen Deutungsmustern und verwarf sie schließlich als falsch. 

Religionskriege, Ketzerprozesse, Inquisition und abgrundtiefer Hass zwischen Anhängern unterschiedlicher religiöser Auffassungen hatten in Europa traumatische Spuren hinterlassen und zumindest bei Intellektuellen den Glauben diskreditiert. Was sollte das schon für eine Religion sein, die Liebe predigt und jene umbringt, die ihr kritisch gegenüberstehen? Eine Religion, die nicht Liebe, sondern Hass hervorbringt, und eine Kirche, die die Menschen quält und verfolgt, waren für sie wenig glaubwürdig. Ihre Antwort auf diese niederschmetternde Erkenntnis war nach der Renaissance und der Reformation der dritte Angriff auf das Erklärungsmonopol der katholischen Kirche. Damit wird erneut deutlich, wie sehr Europa vom Christentum geprägt ist: Zum einen von der Religion und ihren Verhaltenskodizes und zum anderen von jenen Geistesströmungen, die die Menschen von den religiösen Zwängen zu befreien suchten, die sie in Unmündigkeit gehalten hatten. Das Christentum und die kritische Auseinandersetzung mit der real existierenden Kirche auf Erden sind zwei Seiten einer Medaille. Beide Seiten haben Europa entscheidend geprägt und schließlich zu einer strikten Trennung von Kirche und Staat geführt. Europas Grenzen verlaufen genau dort, wo diese beiden Phänomene prägend gewirkt haben: Christentum und Aufklärung. 

Dem Glauben an ein „Gottesreich“, in dem der Mensch für die erlittene irdische Schmach entlohnt werde, setzten die Aufklärer eine durch Logik und Verstand erklärte Welt entgegen. Der Mensch – so ihr Credo – würde durch Bildung und eigenständiges Denken zu einem mündigen Wesen. Je mehr Bildung und Wissen er in sich anhäufen könne, desto vollkommener werde er. Der durch Bildung mündig gewordene – also „aufgeklärte“ - Bürger habe als unveräußerliches Recht einen Anspruch auf Teilhabe an den politischen Entscheidungen der Gesellschaft. Wie in der Renaissance habe sich Politik an die Maxime zu halten, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und nicht mehr die Kirche oder die Pracht des Königs. Deshalb sollten Meinungsfreiheit und Toleranz die aufgeklärte Gesellschaft prägen und nicht ein „von oben“ verordnetes Denken. Ein neues Erziehungsprinzip sollte den freien und mit gleichen Rechten ausgestatteten Menschen zum Mittelpunkt allen Handelns machen. Jean Jacques Rousseau verband dieses Erziehungsideal mit dem Entwurf eines idealen Staates. Der von Verstandeseinsicht geprägte, also mündige Bürger – so seine Vorstellung – könne sich einem freiwillig entstandenen Gemeinschaftswillen unterordnen, ohne dass er dabei seine persönlichen Freiheiten aufgeben müsse. Dieser Gesellschaftsvertrag sei in der Lage den Bedürfnissen aller Menschen gerecht zu werden. Rousseaus Idee von dem „idealen Gemeinschaftswillen“ („volonté générale“) beeinflusste viele Philosophen seiner Zeit. 

Die „Deutsche Frage“ und Europa I 

Die Gedanken der Aufklärung verbreiteten sich rasch über die französischen Landesgrenzen hinaus. In Deutschland verschlangen Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel und später auch Karl Marx die Werke der französischen Aufklärer. Aber auch in Italien, Österreich, Preußen, Polen, Schottland oder England entstanden bedeutende Werke der Aufklärung. Manche übertrugen  den Gesellschaftsvertrag von Jean Jacques Rousseau auf Nationen. Könnten sich nach gleichem Muster nicht auch Staaten gründen, denen sich die Menschen freiwillig anschlossen, weil sie mehr Gemeinsames als Trennendes hatten? Besonders in Deutschland sahen manche Intellektuelle in diesem Gedankenspiel einen Ausweg aus der deutschen „Kleinstaaterei“. Die Anhänger eines deutschen Nationalstaates beklagten die Tatsache, dass die vielen Klein- und Kleinststaaten eine Nationenwerdung, wie sie sich jenseits der deutschen Grenzen abspielte, verhinderten. Während Europa von starken Nationen wie Frankreich, Österreich, Preußen, Russland und England dominiert wurde, waren in den deutschen Einzelstaaten im 18. Jahrhundert die Partikularinteressen wichtiger als die Belange einer gemeinsamen Zentralmacht. 

In Deutschland hat das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ niemals ein Nationalbewusstsein hervorrufen können, das über dem Lokalpatriotismus stand. 

So unsinnig es klingt, aber in Deutschland existierte ein Nationalstolz ohne Nation. Dieser Stolz bezog sich auf einzelne Territorien oder Regionen und nicht auf das Deutsche Reich. Für die Deutschen stand ihre lokale Territorialmacht im Vordergrund, mit ihr konnten sich die Menschen identifizieren und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Trotzdem war für einige Intellektuelle die Vorstellung eines geeinten Deutschlands ein lohnendes Ziel und sie versuchten, den Prozess des „nation building“ voranzubringen. Aber auch sie wussten nicht, wo Deutschland endete und wo es begann. Wer sollte Teil einer zukünftigen deutschen Nation sein? Gehörten alle Menschen „deutscher Zunge“ dazu? Über ganz Europa verteilt existierten Enklaven mit deutscher Bevölkerung: In der Schweiz, in Österreich, in den ungarischen Ländern und im zaristischen Russland. Sollten diese Menschen dazu gehören und wie sollte sich das mit dem Staat in Einklang bringen lassen, in dem diese deutschsprechende Bevölkerung lebte? Zwar standen die Vorbilder zur Gründung eines Nationalstaates rund um Deutschland als „Raubkopie“, wie Karl Marx es später ausdrückte, zur Verfügung. Aber es war nicht so einfach, diese Vorlagen auf die komplizierte deutsche Situation zu übertragen. 

Mehr als andere Staaten Europas ist Deutschland von seiner geopolitischen Lage bestimmt worden. Seit den Anfängen der Besiedlung des Kontinents zogen die Menschen durch das Land der Deutschen. Manche wanderten weiter, andere ließen sich nieder. Sie alle prägten Kultur und Sprache in der Mitte des Kontinents. Insofern war Deutschland immer schon „kosmopolitisch“ und von anderen Kulturen geprägt. Aber die deutsche Mittellage hatte auch für die Nachbarn eine erhebliche Bedeutung, denn sie wollten verhindern, dass ein mächtiger Staat die Mitte des Kontinents blockieren könnte. Insofern hatten sie ein Interesse an einem geostrategischen „Flickenteppich“ in Deutschland. Sie wollten die „deutsche Frage“ europäisieren und zu einem Gegenstand der internationalen Politik machen. 

Französische Revolution 

Diese intellektuellen Diskussionen verstummten aber ohnehin sehr bald, weil das Interesse auf ein europäisches Großereignis fixiert war, das den Kontinent ein weiteres Mal bis ins Mark erschütterte und nachhaltig prägte. Ausgelöst durch eine Hungerrevolte bei Teilen der französischen Landbevölkerung breitete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine vorrevolutionäre Stimmung in Frankreich aus. Bald machten aufklärerische Schriften die Runde, die der beginnenden Revolution gegen den in „Saus und Braus“ lebenden König Ludwig XVI. eine politische Dimension gaben. Überall im Land entstanden Debattierklubs, in denen über die Schriften von Diderot, Montesquieu oder Voltaire diskutiert wurde. Rationalität sollte zur Grundlage gesellschaftlichen Handelns gemacht und das „Reich der Vernunft“ gegründet werden. Der prunksüchtige König mit seinem ausufernden höfischen Leben avancierte schnell zum Hassobjekt der Menschen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, ihm dies auch unmissverständlich klar zu machen. Sie kam schneller, als sie dachten.  Ludwig XVI. plagten seit Jahren enorme Geldsorgen, die zum einen seinem verschwenderischen Lebensstil auf Schloss Versailles geschuldet waren. Der andere Grund war die Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in dem Frankreich an der Seite der Freischärler um George Washington siegreich gekämpft hatte. Aber die Schulden waren nur eine Seite dessen, was der Krieg in Amerika nach sich zog. Seine von den amerikanischen Schlachtfeldern zurückkehrenden Soldaten waren auch mit den Ideen der amerikanischen Revolution in Berührung gekommen. Dort hatten sich 13 Staaten im April 1775 gegen die englische Krone erhoben, ihre Selbstständigkeit gefordert und ein Jahr später die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. 

Zum ersten Mal waren darin die universellen Menschenrechte festgehalten worden: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit“. Ludwig XVI. war sich durchaus darüber im Klaren, dass derartige Gedanken auch in seinem feudal organisierten Staat kursierten. Aber seine finanzielle Not war derart groß, dass er sich am 5. Mai 1789 entschloss, die Generalstände, die seit 1614 nicht mehr getagt hatten, nach Paris einzuladen, um sich von ihnen die Erhöhung von Steuern und Abgaben genehmigen zu lassen. Die Delegierten der Geistlichen (1. Stand), des Adels (2. Stand) und der Bauern und Bürger (3. Stand) hatten sich kaum zusammen gefunden, als einige von ihnen den Spieß kurzerhand umdrehten und aus der vom König befohlenen Versammlung eine verfassungsgebende Nationalversammlung mit dem Ziel machten, die Monarchie durch eine Republik zu ersetzen. In Paris strömten bald darauf die Menschen auf die Straßen und machten die Revolution zu ihrer eigenen Angelegenheit. Es war nicht die Revolte einiger Delegierter, sondern der Aufstand eines Volkes gegen das herrschende System, das Frankreich und damit ganz Europa grundlegend veränderte. Nacheinander wurden die Privilegien des Adels abgeschafft, die Abgaben an die Kirche reduziert, dann das Kircheneigentum konfisziert und am 26. August 1789 die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte verkündet. Die Nationalversammlung stellte damit per Dekret alle Bürger des Landes gleich und verbriefte diese Gleichstellung in einer am 3. September 1791 beschlossenen neuen französischen Verfassung. 

In Europa sahen die Königs- und Fürstenhäuser dem revolutionären Treiben in Frankreich mit Entsetzen zu. Der deutsche Kaiser schäumte vor Wut, ließ sich aber aus diplomatischen Gründen nur zu einem Beileidstelegramm an seinen bemitleidenswerten französischen Amtskollegen hinreißen. Der preußische König Friedrich Wilhelm II. war einer der radikalsten Gegner von Aufklärung und Revolution, während die russische Zarin Katharina zum Kreuzzug gegen die Anarchie in Frankreich aufrief. Schwedens König sandte Truppen, England hielt sich aus den Vorgängen auf dem Kontinent heraus. Papst Pius VI. nannte die Ereignisse in Frankreich „gottlos“ und verdammte die Revolution, weil das Kirchengut beschlagnahmt worden war. Die Revolutionäre in Paris waren also von allen Seiten mit Gegnern ihrer Ideen umgeben. Bei den europäischen Herrschern war die Angst ausgebrochen, die Französische Revolution - und schlimmer noch ihr Schlachtruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ - könnte auch in ihren Ländern Anhänger finden. Ein „aufgeklärtes“ Europa, sorgte man sich in den europäischen Königshäusern, könnte die eigene Existenz gefährden. Ihre Sorgen waren berechtigt, aber aufhalten konnten sie die Revolution in Frankreich nicht mehr. 

Die unverhohlenen Drohungen europäischer Königshäuser, dem Spuk mit militärischer Gewalt ein Ende zu bereiten, ließen die revoltierenden Franzosen noch enger zusammenrücken. Von überall strömten die Menschen nach Paris, um „ihre“ Revolution zu verteidigen. Als der Herzog von Braunschweig, Karl Wilhelm Ferdinand, ankündigte, Paris in Schutt und Asche zu legen, stürmten aufgebrachte Bürger am 10. August 1792 das königliche Tuilerienschloss. An diesem „Sturm auf die Tuilerien“ war auch eine Gruppe Arbeiter aus Marseille beteiligt, die wie viele andere nach Paris marschiert waren. Als sie in Paris ankamen, hatten sie ein ziemlich blutrünstiges Lied auf den Lippen, mit dem sie sich auf ihrem weiten Weg in die Hauptstadt die Zeit vertrieben hatten. Die Pariser Bürger nannten das Lied die „Marseillaise“ und erhoben es zum Revolutionslied. Heute ist dieses Lied – in einer etwas weniger blutrünstigen Form - die französische Nationalhymne. 

Die Erinnerung an den Sturm auf die Bastille, mit dem am 14. Juli 1789 das berüchtigte Gefängnis an der Place Royal attackiert und die Gefangenen befreit wurden, und das Lied der Arbeiter aus Marseille sind Kernstücke des französischen Nationalbewusstseins, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit bewundernswerter Hingabe zelebriert wird. Die Erstürmung der Bastille und der Marsch der Arbeiter verkörpern die Französische Revolution und den Mut der Zeitgenossen, ohne den die Revolution gescheitert wäre. Das moderne Frankreich bezieht seinen Nationalstolz aus der Revolution des Jahres 1789, die nicht nur überall in Europa Anhänger fand, sondern auch gegen innere Feinde verteidigt werden musste. Die Feinde der Revolution ließen im Namen von Freiheit und Vernunft die Guillotinen aufstellen und Tausende angeblicher Konterrevolutionäre hinrichten. Vielleicht war die Bedrohung durch die Scharfrichter in den eigenen Reihen die größte Gefahr, der die Revolution ausgesetzt war. Aber auch dagegen haben sich die Aufständischen zur Wehr gesetzt und dafür gesorgt, dass die Französische Revolution weder am Widerstand der europäischen Mächte noch an den eigenen Unzulänglichkeiten gescheitert ist. Damit hat Frankreich dem europäischen Kontinent seinen für immer prägenden Stempel aufgedrückt. 

Napoleon 

Der am 15. August 1769 in Ajaccio auf Korsika geborene Napoleon Bonaparte hatte sich bei der Niederschlagung eines Aufstands von Königsanhängern im Oktober 1795 einen Namen gemacht. Ein Jahr später stieg er zum Brigadegeneral auf und wurde vom inzwischen in Paris regierenden „Direktorium“ mit einem Feldzug gegen Österreich beauftragt. Aber Napoleon beließ es nicht nur bei einem militärischen Sieg, sondern gab anschließend auch noch eine Kostprobe seines diplomatischen Geschicks. Denn den Frieden von Campoformio schloss er am 17. Oktober 1797 ohne Rücksprache mit dem Direktorium: Österreich musste die Lombardei und einen Teil der Niederlande abtreten und auf linksrheinische Besitzungen verzichten. Damit war der Rhein zur französischen Ostgrenze geworden, was seit Jahrhunderten das Bestreben der französischen Außenpolitik gewesen war. Unmittelbar nach Vertragsschluss gründete Napoleon mit der ligurischen Republik rund um Genua und der cisalpinischen Republik zwischen Mailand und Rimini die beiden ersten französischen Satellitenstaaten in Europa.  

Am 13. Dezember 1799 nutzte er seine immer stärker gewordene innenpolitische Position und inszeniert einen Militärputsch, an dessen Ende er eine republikanische Verfassung veröffentlichte, die ihn als „ersten Konsul“ für zehn Jahre mit diktatorischen Vollmachten ausstattete. Zwar war mit diesem Putsch die Französische Revolution beendet, ihre Ziele und Errungenschaften wurden aber nicht angetastet. Der erst 30jährige Napoleon senkte die Steuern, modernisierte die Verwaltung, ließ das erste Bürgerliche Gesetzbuch („Code Civil“) verfassen, schloss Frieden mit der katholischen Kirche und beendete das revolutionäre Chaos, das sich in Frankreich ausgebreitet hatte. Bald machte sich der Eindruck breit, dass Napoleon sich als Nachfolger Karls des Großen sah, der am Weihnachtstag 800 die Kaiserwürde durch Papst Leo III. erhalten hatte. Ihm - suggerierte Napoleon – sei es vorbehalten in die Fußstapfen des großen Franken zu treten und nicht die deutschen Kaiser, die immer noch das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ anführten. Napoleon mühte sich tatsächlich, den Eindruck aufkommen zu lassen, als sei die französische Republik das dritte Römische Reich. Er umgab sich mit „Senatoren“ und „Präfekten“, er selber war erster „Konsul“ – die Anklänge an das Römische Reich waren unübersehbar. Wie seine historischen Vorbilder baute auch er seine Macht konsequent aus, ließ innere Widersacher ausschalten und regierte bald wie ein Kaiser. In gewisser Weise war es konsequent, dass Napoleon sich am 18. Mai 1804 selbst zum französischen Kaiser krönte. Auf die Mithilfe des Papstes verzichtete er zu Gunsten einer prunkvollen Selbstinszenierung. Papst Pius VII. wurde zwar eingeladen, durfte der Zeremonie aber nur als applaudierender Gast beiwohnen. 


Europa den Franzosen! 

Auf dem europäischen Kontinent war Napoleon I. zweifellos der mächtigste Potentat, dem es in den folgenden Jahren gelang, ein französisch dominiertes europäisches Satellitensystem aufzubauen. Am 17. Oktober 1805 schlug er ein österreichisches Heer in der Nähe von Ulm. Am 2. Dezember 1805 folgte in Südmähren die „Dreikaiserschlacht“ von Austerlitz, bei der der französische und der österreichische Kaiser und der Zar von Russland anwesend waren. Der zweite Sieg binnen weniger Wochen ließ Napoleons I. Ruhm ins Unermessliche steigen. Der Frieden von Preßburg vom 26. Dezember 1806 bereitete Kaiser Franz II. eine weitere Schmach, denn Österreich musste Tirol und Vorarlberg an Bayern abgeben, während Venetien und Dalmatien an das neu geschaffene Königreich Italien angeschlossen wurden. Mit der eisernen Krone der Langobarden ließ Napoleon I. sich kurz darauf zum italienischen König krönen. Nun blieben noch Russland und Preußen als ernstzunehmende Konkurrenten auf dem Kontinent übrig.  Bevor Napoleon I. es mit diesen beiden Ländern aufnahm, regelte er die Verhältnisse vor der französischen Haustür und ordnete den territorialen Flickenteppich in Deutschland, indem er die deutschen Staaten in einem von Frankreich protektionierten „Rheinbund“ eingliederte. Die deutschen Staaten übernahmen weitgehend die französische Verwaltung und den „Code Civil“ und beendeten auf eine ziemlich unspektakuläre Weise die Existenz des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, das immerhin seit 1006 Jahren existiert hatte. In Wien nahm Franz II., der seit 1792 Kaiser dieses heiligen Reiches war, diese Entwicklung verbittert zur Kenntnis. Drei Wochen später legte er die Kaiserkrone nieder und regierte fortan nur noch in Österreich als Franz I. 

Der ihm ergebenen „Rheinbund“ war für Napoleon I. ein militärisches Aufmarschgebiet, von dem aus er die endgültige Flurbereinigung Europas starten konnte. Davon waren neben dem schon geschwächten Österreich vor allem Preußen und Russland betroffen. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. versuchte eine antifranzösische Koalition zustande zu bringen und verband dieses Ansinnen mit einem Ultimatum: Frankreich solle sich vom rechten Rheinufer zurückziehen und den „Rheinbund“ wieder auflösen. Aber Russland und Preußen waren dem französischen Heer nicht gewachsen, das ihnen am 14. Oktober 1806 in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt innerhalb eines Tages eine vernichtende Niederlage beibrachte. Anschließend zog Napoleon I. unter dem Jubel der Menschen in Berlin ein; der preußische König hatte sich in den äußersten Zipfel von Ostpreußen verkrochen und wartete darauf, dass der Emporkömmling aus Paris endlich wieder abziehen würde.  Napoleon I. war fast am Ziel: Auf dem Kontinent waren alle anderen Staaten entweder geschlagen oder hatten sich – wie Russland – auf seine Seite gestellt. Es fehlte nur noch die Unterwerfung Englands. Gemeinsam mit dem ebenfalls nach Großmacht strebenden russischen Zaren Alexander I. verkündete er am 21. November 1806 in Berlin eine Kontinentalsperre gegen England. Fortan fand zwischen England und dem europäischen Kontinent kein Handel mehr statt. Die  britische Insel sollte ausgehungert und als letzter noch verbliebener Konkurrent um die Macht in Europa geschwächt werden. Preußen und Österreich spielten im europäischen Machtpoker keine Rolle mehr, im Königreich Italien regierte Napoleon I. selber, die deutschen Länder des „Rheinbundes“ waren französisches Protektorat und Russland machte gemeinsame Sache gegen England. Um alle europäischen Küsten unter Kontrolle zu haben und die britische Insel wirkungsvoll abzuriegeln, marschierten französische Truppen bis 1810 in Portugal und Spanien, in den Niederlanden, in Norddeutschland und in den Kirchenstaat ein. 1810 stand Europa von Portugal im Westen über Spanien, die Balearen, Korsika und dem Königreich Italien im Süden, mit Kroatien, Österreich, dem Großherzogtum Warschau und dem Königreich Preußen im Osten sowie den Königreichen Dänemark und Norwegen im Norden unter französischer Hegemonie. Lediglich Russland, das an seiner westlichen Grenze von Finnland über Estland und Lettland bis nach Bessarabien reichte und von Tauroggen bis Galizien eine gemeinsame Grenze mit dem französischen Imperium hatte, war noch übriggeblieben. 

Befreiungskriege 

Angesichts dieser überragenden militärischen Erfolge hatte sich Napoleon I. vom Volkshelden zu einem Kaiser entwickelt, dessen Hofstaat und Verhalten dem der verjagten und exekutierten französischen Könige in Nichts nachstand. Selbstherrlichkeit und Arroganz hießen die Wegbegleiter, die nun immer stärker zu Tage traten und seinen Sinn für die Realität trübten. Napoleon I. nahm die zahlreichen lokalen Aufstände gegen seine Herrschaft kaum wahr. Er ignorierte auch den Zorn, der sich der französischen Herrschaft über Europa immer mehr entgegenstellte. Der Dichter Ernst Moritz Arndt, später Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung der deutschen Revolution von 1848, erklärte den Hass gegen Frankreich zu einer Religion der Anbetung des Vaterlandes. Das war sicher zu pathetisch, traf aber doch den Wunsch von immer mehr Menschen. Napoleon I. baute hingegen weiter auf sein militärisches Geschick und meinte, auch bald England in das von Frankreich dominierte Europa eingliedern zu können. Aber dieser Plan scheiterte, als der russische Zar die Kontinentalsperre gegen die britische Insel aus eigenen ökonomischen Zwängen aufgeben musste und die russischen Häfen für britische Waren öffnen ließ. 

Damit hatte Alexander I. den Zorn des französischen Kaisers auf sich gezogen, der sich im Juli 1812 umgehend mit einem gewaltigen Heer nach Moskau aufmachte, um den Zaren abzusetzen und auch noch Russland unter französische Kontrolle zu bringen. Nach einem transkontinentalen Gewaltmarsch stand das französische Heer Mitte September tatsächlich vor den Toren Moskaus, musste allerdings tatenlos zusehen, wie die Stadt auf Zarenbefehl in Flammen aufging. Wegen des bevorstehenden Winters ordnete Napoleon I. Ende Oktober 1812 den Rückzug an und tappte damit in eine von russischen Militärs sorgsam geplante Falle. Immer wieder griffen Partisanenverbände das in den russischen Weiten hilflose französische Heer an, das außerdem auch noch unter dem klirrend kalten Winter zu leiden hatte. Von den  600.000 Soldaten, mit denen Napoleon I. nach Russland aufgebrochen war, erreichten gerade noch 45.000 ihre Heimat: Eine vernichtende Niederlage, die den Mythos der Unbesiegbarkeit des Korsen zerstörte und das Ende Napoleons I. einleitete. 

Denn Napoleon I. verlor nicht nur eine Schlacht, sondern auch preußische Truppen, die er für den Feldzug nach Osten zwangsrekrutiert hatte. Deren Befehlshaber General York hatte am 30. Dezember 1812 einen Separatfrieden – die so genannte „Konvention von Tauroggen“ - mit der russischen Militärführung geschlossen und damit offenen Verrat am französischen Kaiser begangen. Der General schrieb einem Brief an König Friedrich-Wilhelm III. von Preußen. Darin forderte er ihn auf, die Gunst der Stunde zu nutzen und dem angeschlagenen Napoleon I. mit einem Koalitionsheer zu begegnen. Zwei Monate später antwortete der König mit dem legendär gewordenen Aufruf „An mein Volk“. Friedrich Wilhelm III. rief „Deutsche und Preußen“ zu den Waffen gegen Frankreich und machte klar, um was es ging: „Ehrenvoller Frieden oder ruhmvoller Untergang.“ Der Aufruf hatte die gewünschte Wirkung, weil gleichzeitig ein preußisch-russisches Bündnis bekannt wurde. Über das Land schwappte eine Welle der nationalen Begeisterung, patriotische Kaffeekränzchen wurden von Offiziersfrauen organisiert und goldene Eheringe gegen schmucklose Eisenringe getauscht, in die die Kriegsparole „Gold gab ich für Eisen! 1813“ eingraviert war.  Anfänglich schien das französische Heer nicht zu schlagen zu sein, aber die Zeit spielte gegen Napoleon I., der sein durch die Niederlage in Russland dezimiertes Heer schnell auffüllen musste. Während in Frankreich fieberhaft nach neuen Soldaten gesucht wurde, gelang es Preußen und Russland im August 1813, ein europäisches Bündnis mit England, Österreich und Schweden zu schmieden. 

Dieser Übermacht musste sich Napoleon I. in der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 geschlagen geben. Er floh nach Paris, ein Teil seiner Truppen desertierte. Als britische Truppen in Frankreich einrückten, um ihn festzunehmen, dankte er ab und ging ins Exil nach  Elba. Die Sieger diskutierten schon über die Nachkriegsordnung, als Napoleon am 1. März 1815 unter großen Jubel der Bevölkerung noch einmal nach Paris zurückkehrte. Dieses Mal handelten die Koalitionäre aber schnell und entschlossen: Sie stellten ein Heer zusammen und führten es in die Schlacht gegen Napoleon. Im nordfranzösischen Waterloo erlebte er seine – inzwischen sprichwörtliche - zweite Niederlage, musste erneut abdanken und wurde auf die kleine St. Helena im Südatlantik verbannt, wo er am 5. Mai 1821 verbittert starb.  Ziel der von Frankreich angezettelten europäischen Kriege war eine europäische Einheit unter französischem Protektorat. Aber Napoleons Versuch, den Kontinent unter die Hegemonie eines Staates zu zwingen, war gescheitert. Eine wie auch immer begründete europäische Einheit war mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen. Ein Staat alleine konnte nicht genügend militärische und ökonomische Stärke entwickeln, um gegen alle anderen Staaten langfristig zu bestehen: Einer allein war nicht stärker, als die anderen zusammen!