Die Genese Europas
Die Genese Europas
Die Polisgesellschaft
Die antiken Siedlungsgemeinschaften der Griechen sind die Poleis, kleine Orte mit kaum mehr als 2.000 oder 3.000 Einwohnern gewesen. Sie leben – meist bescheiden - weitgehend von Ackerbau und Viehzucht. Von diesen kleineren agrarisch strukturierten Siedlungen hat es auf dem griechischen Festland etwa 700 gegeben. Die Bauern bringen nach harter Arbeit ihre Erzeugnisse in die Stadt, wo sie auf guten Umsatz und ein ausreichendes Einkommen hoffen. Die größte Poleis ist Athen, sie die „Mutterstadt“ - die „Metropolis“ - und Namensvorbild für die Großstädte der Neuzeit. Dort leben im vierten vorchristlichen Jahrhundert etwas mehr als 30.000 Einwohner. In der gesamten Poliswelt sind es nicht mehr als 120.000. In der Zeit der Hochblüte Athens leben dort ca. 150.000 Menschen. Die Bewohner der „Poleis“ stellen eine religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Lebensgemeinschaft dar. Das Leben wird von der männlichen Bevölkerung bestimmt, Frauen haben bei den Diskussionen über die öffentlichen Angelegenheiten keinerlei Mitspracherechte. Sie sind ans Haus gebunden und mit der Erziehung der Kinder beschäftigt. Mitunter werden sie Priesterin oder Wahrsagerin und bekommen damit eine besondere Bedeutung. Die Frau im antiken Griechenland steht unter der Vormundschaft des Mannes. Falls dieser in einer der zahlreichen militärischen Konflikte ums Leben kommen sollte, nehmen Brüder oder Vater des Verstorbenen den Vormundplatz ein.
Die Polisgesellschaft ist Ausdruck des Wunsches nach Selbstverwaltung und Selbstregierung. Sämtliche Regeln, Pflichten, Rechte oder Privilegien gelten nur für freie männliche Bürger. Aber auch bei den Männern gibt es Einschränkungen: Um in den vollen Genuss aller Rechte und Pflichten zu kommen, müssen sie von Einheimischen abstammen. Zeitweise müssen sie über ein gewisses Vermögen verfügen, um neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht ausüben zu können. Die ersten „demokratischen“ Versuche in der griechischen Antike kann man also als eine selektive Form der Partizipation der männlichen Bevölkerung beschreiben.
Die Polisgesellschaft im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert ist aber auch Ausdruck eines unbändigen Freiheitswillens der Menschen. Sie wollen die Unabhängigkeit durch eigene Gesetze und eigene Institutionen erreichen. Für sie zählt „Autonomia“ mehr als alles andere. Das gilt auch für die eigene Wehrhaftigkeit. In der Polisgesellschaft besteht allgemeine Wehrpflicht, die mit der Pflicht verbunden ist, sich selbst auszurüsten.
Die Bewohner werden oft in Bruderkriege geschickt, die Griechenland zu einem dauerhaften Kriegsschauplatz machen. Trefflich wird die Geschichte „des alten Hellas als die eines einzigen großen Verwandtenmordes“ bezeichnet. Diese Einschätzung geht zurück auf den österreichischen Kulturphilosophen Egon Friedell. Der Krieg aller gegen alle, zwischen Dorf und Dorf oder Tal und Tal ist der Normalzustand, der bald eine erhebliche Schwächung bedeutet, denn auf Dauer lässt sich eine solche Selbstzerfleischung nicht kompensieren. Vor der Wehrpflicht kann sich kein Mann in der griechischen Polisgesellschaft drücken, ebenso wenig wie vor dem Grundsatz, dass alle Bürger der Polis vor dem Gesetz gleich sind. Man könnte hierin eine frühe Form der Rechtsstaatlichkeit erblicken, wenn diese Gleichheit nicht nur für den männlichen Teil der Bevölkerung gegolten hätte. Unantastbar ist auch der Grundsatz, dass es Privateigentum an landwirtschaftlich nutzbarem Boden gibt. Damit soll – zumindest in der Theorie – die ökonomische Unabhängigkeit der einzelnen Bauern erreicht werden. Aber die Realität ist anders, denn oft müssen Bauern wegen Kriegseinsätzen ihre Felder brach liegen lassen oder können sie nur schlecht bewirtschaften. Das antike Griechenland kennt persönliche Insolvenzen, die oft mit Verarmung oder sogar Leibeigenschaft der einst freien Bauern endet. Aber so lange der Ertrag stimmt, können die Bauern über ihr Land verfügen, es beleihen oder vererben.
Während Griechenland sich in einem permanenten Kriegszustand befindet, verfassen die Dichter und Denker in den Metropolen der Antike jene kulturellen Wurzeln, die bis heute auf dem europäischen Kontinent ihre Wirkung zeigen. Sie gehören nach wie vor zum klassischen Bildungsgut Europas. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die meisten Menschen der griechischen Antike das Leben mühsam und der Ertrag ihrer Ernten kärglich gewesen ist. Viele Tausend Kleinbauern leben in Abhängigkeit vom Grundherrn, der ihr Land aufgekauft oder es im Zuge der Überschuldung der Bauern als Gegenwert bekommen hat. Die Bauern plagen sich Tag für Tag mit den Widrigkeiten der Landbestellung. Überliefert sind die Lebensverhältnisse des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts von Hesiod (ca. 710 – 660), der in dieser Zeit in Askra gelebt und seinen Lebensunterhalt mit der merkwürdigen Kombination aus Ackerbau und Schreiben verdient hat. Sein Werk überliefert die Lebens- und Denkweisen jener Zeit. Hesiod schildert das hoffnungslose, an Arbeit und Enttäuschungen reiche Leben der Bauern, die sich nur durch ihren unerschütterlichen Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit über die Widrigkeiten des irdischen Lebens hinwegtrösten können.
Aus seinem Werk lässt sich heute schließen, welche Vorstellung die Griechen von der ihnen bekannten Welt gehabt haben. In der Abhandlung „Theogonie“ beschreibt Hesiod vor allem den östlichen Mittelmeerraum und Kleinasien – also die Ägäis und den heute zur Türkei gehörende Teil Asiens, der im Norden vom Schwarzen Meer, im Nordwesten vom Bosporus, im Süden vom Mittelmeer und im Westen eben von der Ägäis begrenzt wird. Das westliche Mittelmeer ist ihm ebenso bekannt wie die Donau und die Alpen. Weiter nördlich reicht sein Wissen nicht. Aber immerhin: Die ersten Umrisse Europas sind durch ihn überliefert.
In den meisten Städten Griechenlands stellen adlige Familien die höchsten Beamten, den obersten Feldherrn sowie die Gerichts- und Finanzbeamten. In Athen sind sie im „Areopag“ versammelt, einem Adelsrat, der die oberste Staatsaufsicht stellt und für die Rechtsprechung zuständig ist. Die Angehörigen des Demos – also des Volkes – besitzen insofern ein Mitspracherecht, als sie zur Volksversammlung Zutritt haben und dort auch reden dürfen. Sklaven, Männer aus anderen Städten und Frauen kommen nicht in den Genuss dieser ersten Form der Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten - sie stehen außerhalb der politisch-rechtlichen Ordnung der attischen Gesellschaft.
Die politische Führung liegt in Athen in den Händen des griechischen Adels. Aber mitunter reißen Tyrannen die Macht an sich und verschlimmern damit das soziale Elend der Kleinbauern noch. Zwar erlangen sie vordergründig durch soziale Versprechungen das Vertrauen der Menschen, aber ihre Alleinherrschaft dient nicht dem Wohl des Volkes. Dennoch ist es vorgekommen, dass Tyrannen die Unzufriedenheit der Bürger und inneren Unruhen für sich haben nutzen können, um mit Hilfe von Söldnern ihre Gegner aus der Stadt zu verjagen.
Sparta
Athen und Sparta sind die klassischen Gegenentwürfe der griechischen Antike gewesen. Auf der einen (attischen) Seite sind die ersten Versuche eines auf Ausgleich bedachten sozialen Gemeinwesens (mit teilweise dramatischen Auswüchsen!) zu beobachten. Auf der anderen Seite steht eine Gesellschaftsordnung, die den militärischen Belangen unterstellt ist. Die Erziehung der Kinder wird den Eltern in Sparta weitgehend genommen, der Nachwuchs wird schon in jungen Jahren auf ein militärisches Dasein vorbereitet und mit sieben Jahren von den Eltern getrennt. Die sprichwörtliche „spartanische“ Erziehung muss ihrem Namen alle Ehre gemacht haben. Zeitgenössische Kritiker versteigen sich zu der Behauptung, die Gesetze Spartas seien mit Blut geschrieben worden. Aber auch diese Kritik kann nicht übersehen, dass es Sparta gelungen ist, trotz einer relativ geringen Einwohnerzahl eine Zeit lang zur bedeutendsten Militärmacht des Peloponnes zu werden.
Wichtigstes Merkmal in Sparta ist das Königtum, in dem der Herrscher weitgehende Vollmachten innehat. Eine spartanische Besonderheit ist das Doppelkönigtum, durch das eine gegenseitige Kontrolle sichergestellt werden soll. Auf dem Papier sind beide Könige gleichrangig, in der Praxis aber hat immer einer der beiden ein Übergewicht. Beide Amtsinhaber können die Macht des jeweils anderen nicht aufheben, sondern allenfalls Gegengewichte schaffen oder Ausgleichsmaßnahmen ergreifen. Heiratspolitik zum Zweck der Ämterhäufung oder der Interessenbündelung ist verboten, da das Doppelkönigtum und der Wunsch nach zwei Königshäusern in der Bevölkerung stark verankert sind.
Kontrolle üben die auf ein Jahr gewählten Ephoren aus. Sie sind so etwas wie oberste Staatsbeamte, die die Beschlüsse der Könige zu kontrollieren haben. Die Macht der Könige und ihre Position stellen sie jedoch nicht in Frage. Unstimmigkeiten zwischen diesen beiden „Verfassungsorganen“ werden durch gegenseitige, monatlich zu erneuernde Schwüre eingedämmt: Die Könige verpflichten sich, ihr Handeln in Einklang mit den Gesetzen zu bringen (!), die Ephoren schwören im Gegenzug die Königsherrschaft zu bewahren.
Das bringt eine gewisse Stabilität in die gesellschaftliche Ordnung Spartas, die angesichts der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Peloponnes auch durchaus sinnvoll ist.
Die Ephoren haben umfangreiche Aufgaben, ihre Stellung in der spartanischen Gesellschaft ist bedeutend. Ihnen untersteht die „Sittenaufsicht“, das Buß-, Verhaftungs- und Anklagerecht, die Kontrolle über Fremde, das Kapitalstrafrecht über niedere soziale Gruppen – die Periöken und Heloten. Sie wachen über die heidnisch- religiösen Rituale, denen in Sparta große Bedeutung zukommt. Sie haben zudem diplomatische Aufgaben, sie sind für die Mobilmachung zuständig und beraten die Militärführer. Die Ephoren begleiten die Könige auf Feldzügen, sie kontrollieren deren Befehle und Entscheidungen, dürfen aber nicht eingreifen. Falls bei den zahlreichen Feldzügen etwas schiefgelaufen ist, können sie nach dem Ende eines Feldzugs Anklage erheben. Ferner gibt es einen Ältestenrat, die „Gerusia“, der ebenfalls als Kontrollinstanz dient und gleichzeitig der Oberste Gerichtshof in Sparta ist. Der „Gerusia“ gehören neben 28 „Gerontes“ (Männer über 60 Jahre) die beiden Könige qua Amt an.
In der Volksversammlung sind die wehrfähigen spartanischen Vollbürger versammelt. Diese Versammlung ist neben Königtum, Ephoren und Gerusia die vierte Säule der Verfassung Spartas. Sie muss regelmäßig einberufen werden, kann aber keine eigeninitiativen Vorschläge machen, sondern lediglich Anträge, die vorher von den Ephoren eingebracht worden sind, ablehnen oder ihnen zustimmen. Abstimmungen erfolgen durch Zurufe und nicht durch die Auszählung von Stimmen. Aber: In der spartanischen Volksversammlung steht die Wiege des heute noch gebräuchlichen „Hammelsprungs“. Bei strittigen Entscheidungen stellen sich die Angehörigen der Volksversammlung in zwei Gruppen auf, wodurch das Stimmenübergewicht deutlich wird, heute geht man durch unterschiedliche Türen.
Die spartanische Gesellschaft ist streng hierarchisch, die einzelnen Schichten sind voneinander abgeschottet, dennoch gibt es Durchlässigkeit. Eine „soziale Mobilität“ ist gewährleistet. Ganz oben auf der sozialen Leiter stehen die Vollbürger, die Spartiaten. Sie genießen alle politischen Rechte, sind passiv wählbar, üben wichtige Ämter aus und besetzen die wichtigsten militärischen Positionen. Darunter stehen die Periöken. Sie sind zwar ebenfalls Spartaner, haben aber keine politischen Mitwirkungsrechte. Periöken kommen aus den ländlichen Gegenden um Sparta und sind von der spartanischen Militärmacht unterworfen worden. Sie leisten Heeresdienste und können in der militärischen Hierarchie aufsteigen, aber aktive Teilhabe am öffentlichen Leben in Sparta ist ihnen verwehrt. Daneben gibt es die Hypomeiones, die die grundsätzliche Möglichkeit haben den Status des Vollbürgers zu erlangen. Viele von ihnen sind verarmt, müssen ihren Grundbesitz verkaufen und haben auf diesem Wege ihren ursprünglich besseren Status verloren. An der untersten Stelle stehen die Heloten. Das sind Sklaven, die als Staatsbesitz betrachtet werden und keinerlei Rechte besitzen. Mit einer Ausnahme: Sie müssen sich ständig zum Waffendienst bereithalten. Persönlich aber sind sie frei und dürfen sich in Friedenszeiten ohne Einschränkung in der Stadt bewegen. Sie spielen bei öffentlichen Entscheidungen ebenso wenig eine Rolle wie die Frauen, die ebenfalls kein Mitspracherecht haben.
Griechische Mythologie
In Sparta wie in Athen herrscht ein kultischer Götterglaube. Beide Städte sind mystisch-heidnische Gesellschaften. Religion oder besser gesagt der Glaube an die Götter bestimmt das öffentliche Leben und ist Entscheidungskriterium für Krieg und Frieden. Die Menschen der Antike sind auf der Suche nach ihrer Herkunft. Sie wollen wissen, warum sie auf der Erde sind, wie es nach dem Tod weitergeht und wer die Menschen, die Erde, die Tiere und die Luft zum Atmen erschaffen hat. In Ermangelung rationaler Alternativen entwickeln sie eine Götterwelt, die über die Menschen herrscht. Den „Zorn der Götter“ zu provozieren, ist eine schlimme Androhung. Über allen stehen Zeus, der Göttervater, und seine Frau Hera. Dahinter folgen seine Geschwister Poseidon (Gott des Meeres), Demeter (Göttin der Fruchtbarkeit) und Hestia (Göttin der Familie) sowie seine Kinder Pallas Athene (Göttin der Weisheit), Hephaistos (Gott des Feuers), Ares (Gott des Krieges), Aphrodite (Göttin der Schönheit), Hermes (der Götterbote), Apollon (Gott der Künste) und Artemis (Göttin der Jagd). Diese 12 Gottheiten haben ihren Wohnsitz auf dem Olymp und werden um Beistand gebeten bei der Jagd, im Krieg oder bei der Familienplanung.
Heloten
Die Menschen konstruieren sich auf diese Weise die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Einmaligkeit und sie erhoffen sich durch einen Verehrungskult Schutz durch die Götter. Aber es gibt auch Menschen, die posthum einen Gott ähnlichen Status erreichen können. Die Heroen haben in der spartanischen Welt große Bedeutung. Einer der Heroen ist Lykurg, der vermutlich gar nicht gelebt hat, sondern ebenfalls eine mystische Figur ist. Er soll der Legende nach die sagenhafte spartanische Ordnung geschaffen haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Königspaar Menelaos und Helena, die im Mittelpunkt des Trojanischen Krieges stehen – jedenfalls wenn es nach der griechischen Mythologie geht. Jener Kampf um Troja, der in Homers „Ilias“ teilweise geschildert wird, ist das zentrale Ereignis in der griechischen Mythologie.
Helena wird in dieser Legende durch Paris, den Sohn des trojanischen Königs Priamos zwecks Heirat entführt. Nach dieser ungeheuerlichen Tat vereinigen sich die Griechen und ziehen gemeinsam gegen Troja, um das ruchlose Verbrechen zu rächen. Aber auch nach zehn Jahren Belagerung ist kein Sieg der alliierten Griechen in Sicht. Auf Anraten des Odysseus bauen die Griechen ein überdimensionales Holzpferd, in dessen hohlem Innenraum sie die besten und tapfersten ihrer Krieger verstecken. Dann täuschen sie ihre Abreise vor und lassen das Holzpferd am Strand der kleinasiatischen Küste vor den Toren Trojas stehen. In der Stadt beraten die Trojaner und werden sowohl von der Wahrsagerin Kassandra als auch vom Priester Laokoon gewarnt. Aber ihre Warnungen werden in den Wind geschlagen, das Pferd in die Stadt geholt und die Niederlage von Troja besiegelt, denn die Soldaten klettern nachts aus dem Inneren des Pferdes, öffnen die Stadttore, lassen die wieder zurück gekehrten Griechen in die Stadt und stecken Troja in Brand.
Athen und Sparta sind streng patriarchalisch organisierte Gesellschaften. Dennoch ist der Gegensatz zwischen ihnen groß. Wenn die Europäer heute von Griechenland als „der Wiege der Demokratie“ sprechen, dann meinen sie Athen und die attische Demokratie und die griechische Philosophie - aber nicht das ganze Griechenland. In Athen und Attika werden erste Demokratieschritte erprobt, die trotz mannigfaltigen sozialen Problemen nicht zurückgenommen werden. Sparta ist eine Militärdiktatur. Athen entwickelt binnen weniger als 100 Jahren aus der Erklärung der politischen Gleichheit aller Vollbürger eine Form geradezu radikaler Demokratie, die auch im Angesicht massiver äußerer Bedrohung durch die Perser nicht aufgegeben wird. Sparta hingegen bleibt auch weiterhin eine Diktatur unter der Fuchtel der Militärs, die die Stadt und ihre Krieger zu weithin gefürchteten Gegnern machen.
Solon: Reform in Athen
Zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. wird Athen von sozialen Unruhen erschüttert. Die Angehörigen der Aristokratie fürchten um ihre Privilegien, sie sorgen sich vor sozialen Umwälzungen, selbst eine Revolution der weitgehend verarmten Bevölkerung scheint nicht mehr ausgeschlossen. Als gleichzeitig viele nicht-adlige, aber freie Bürger mehr Rechte in der politischen Mitbestimmung fordern, muss ein Kompromiss gefunden werden. Für die Oberschicht ist eine Revolution oder gar eine Militärdiktatur das größere Übel, also stimmen sie schließlich 594 v. Chr. der Wahl von Solon (640 – 560 v. Chr.) zum Archonten – dem höchsten Beamten in der Stadt – zu. Eine Reform aus seiner Hand kann nicht so schlimm sein, schließlich gehört Solon selbst dem Adel an.
Aber sie haben sich getäuscht, denn unmittelbar nach Beginn seiner Amtszeit löst Solon die seit 621 v. Chr. geltenden, sprichwörtlich „drakonischen“ Gesetze des Drakon auf und reformiert den Stadtstaat Athen. Zunächst werden die Bauern entschuldet, nicht ohne massiven Druck auf die Gläubiger auszuüben, der Entschuldung auch zuzustimmen. Dann werden Maße und Gewichte vereinheitlicht, wodurch Waren überall miteinander verglichen werden können. Heute nennt man das Markttransparenz. Anschließend verbietet Solon die so genannte „Schuldknechtschaft“. Das „Leihen auf den Körper“ ist bis dahin oft der letzte Ausweg für in Not geratene Bauern, bedeutet aber Sklaverei. Solon legt außerdem eine Höchstgrenze bei Grundbesitz fest und reformiert das Gerichtswesen.
Anschließend legt er eine Verfassung vor, die die Beteiligung aller vier Klassen in Athen festlegt. Die Klassen sind nach Einkommen – gemessen in Scheffel – aufgeteilt; in der ersten finden sich Großgrundbesitzer in der vierten Landarbeiter wieder. Sie haben unterschiedliche Stimmrechte: Gemeinsam wählen sie die Volksversammlung, die das alleinige Recht hat, die obersten Richter des Volksgerichts zu bestimmen. Die drei ersten Klassen dürfen den „Rat der 400“ wählen und die erste Klasse zudem über die Wahl der Archonten mitbestimmen. Die Volksversammlung entsendet 400 Männer in den „Rat der 400“. Da diese Funktion ein Ehrenamt ist, kann es nur von Reichen, also dem Adel oder der Oberschicht angehörenden Personen wahrgenommen werden. Wichtigste Funktion des Rates ist die Bestimmung der Archonten, den höchsten und wichtigsten Beamten in Athen. Der „Rat der 400“ schickt Vorschläge und Abstimmungsvorlagen an die Archonten, die teilweise aus der Volksversammlung kommen, teilweise von ihnen selbst. Schließlich gibt es den Areopag, der sich aus ehemaligen Archonten zusammensetzt. Der Areopag ist eine Art Oberaufsicht über die öffentlichen Belange Athens. Zudem obliegt dem Areopag die so genannte „Blutgerichtsbarkeit“, also Strafverfahren, die mit Tod oder körperlichen Verstümmelungen geahndet werden können. Areopag-Urteile sind unwiderruflich, haben also eine große Bedeutung. Später wird der Areopag entmachtet und auf sakrale oder heidnisch-religiöse Aufgaben beschränkt.
Solon gilt als einer der Wegbereiter der „attischen Demokratie“ – in der Antike hat er den Ruf einer der „sieben Weisen“ des Landes zu sein, aber es gibt nur wenige Überlieferungen über ihn, so dass man mit dem Urteil über sein Wirken vorsichtig sein sollte. Trotzdem hat er es zu Weltgeltung gebracht, denn er ist der erste, der in einer Verfassung den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Solon hat zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versucht, das Individuum zu emanzipieren. Er hat diese Idee in die Welt gesetzt und damit eine kulturelle Entwicklung angestoßen, die den Menschen und seine Lebenswelt zur Richtschnur des gesellschaftlichen Handelns macht. Der Mensch und sein Leben stehen im Mittelpunkt und nicht die Interessen der Machthaber oder jener, die sich die politische und ökonomische Pfründe bis dahin gegenseitig zugeschoben haben. Jeder Bürger soll teilhaben am Gemeinwesen, nicht nur einige. Dieser Grundsatz gilt bis heute für die europäische Verfassungsgeschichte. Aber so groß Solons Eifer auch ist, es bleibt festzuhalten, dass von wirklicher Gleichheit in modernem Sinne im Jahr 594 v. Chr. nicht die Rede sein kann. Die Reform des Solon gilt nämlich nicht für Frauen, Sklaven und Fremde. Ihnen werden pauschal sämtliche Rechte einer beginnenden politischen Partizipation vorenthalten.
Kleisthenes
Den Ruf, der Begründer der „attischen Demokratie“ zu sein, hat der um 570 v. Chr. geborene Kleisthenes (570 – 507 v. Chr.). Er ist schnell zum höchsten Beamten Athens geworden, gerät aber in die innerattischen Streitigkeiten über eine Tyrannei des Hippias (ca. 540 – 490 v. Chr.). Jener Hippias schickt Kleisthenes in die Verbannung, wo – der Legende nach - Kleisthenes das Orakel von Delphi bestochen haben soll. Der gekaufte Orakelspruch weissagt daraufhin, dass ausgerechnet der Spartanerkönig Kleomenes I. (um 500 v. Chr.) die Stadt Athen von der Tyrannei befreien müsse. Da die Wirkung eines solchen Orakelspruchs in der antiken Welt der Griechen seine Wirkung nicht verfehlt, hat also jener Kleomenes I. die Meute des Tyrannen vertrieben. Nach einigen weiteren militärischen Auseinandersetzungen kehrt Kleisthenes nach Athen zurück und startet 508 v. Chr. ein Reformprogramm. Man weiß nicht besonders viel über diesen Mann, der vermutlich ein Jahr nach dem Beginn Reformen gestorben ist. Jedenfalls hat er vorher die Stadt verlassen – freiwillig oder gezwungen ist unklar. Klar ist, dass er in Attika – also in Athen und in den umliegenden Regionen – die Gleichheit der Vollbürger eingeführt hat - die so genannte „Isonomie“. Dazu teilt Kleisthenes das Staatsgebiet Attikas in drei Teile. Diese „Demen“ sind in drei Regionen gegliedert: Stadt, Küste und Hinterland. Die Demen sind in jeweils 10 Unterbezirke aufgeteilt. So entstehen in jeder Region 10 „Phylen“, die in der Volksversammlung vertreten sind. Die Volksversammlung wiederum bestimmt per Los je 50 Abgesandte pro „Phyle“ in den dadurch entstehenden „Rat der 500“. Dieser Rat ist die attische Regierung, während die Volksversammlung zum „zentralen Entscheidungsgremium“ geworden ist, wie es der Althistoriker Wilfried Nippel in seiner 2008 erschienenen Abhandlung „Antike oder moderne Freiheit“ festgestellt hat. Durch die Gleichheit ihrer Stimmen werden alle Bürger Attikas an den politischen Entscheidungen ihrer Region gleichberechtigt beteiligt.
Die Reform zielt auf die Entmachtung des Adels und sorgt für eine Mischung der Bevölkerung. Die Reformen des Solon werden erweitert, die Unterscheidung in Bürger verschiedener Klassen aufgehoben und der Volksversammlung durch die Wahlentscheidung für Gericht und Regierung eine wesentlich größere Bedeutung gegeben. Im Urteil der Historiker ist die Reform des Kleisthenes die erste „proportionale Repräsentation einer Bevölkerung“. Und gleichzeitig ist sie auch eine Art Geburtsurkunde des demokratischen Europas, denn durch die Verfassungsreform des Kleisthenes 508 v. Chr. haben sich tatsächlich demokratische Strukturen in einer der Antike gemäßen Form durchgesetzt. Wahr ist aber auch, dass die Reform für Frauen ebenso wenig, wie für Sklaven oder Fremde gilt, die außerhalb der attischen Polis gelebt haben. Zudem ist die demokratische Organisationsform keineswegs unumstritten, denn Vertreter des Adels halten sie für eine „Herrschaft des Pöbels“ und sind stets auf dem Sprung, sie wieder abzuschaffen. Bedenkenswert erscheint auch der Einwand, die Reformen seien vor allem unter militärischen Aspekten entstanden, was in den Jahren dauerhafter Kriege nicht verwunderlich wäre. Das Losverfahren, das Kleisthenes bei der Besetzung des „Rats der 500“ einsetzt, soll die Einflussnahme reicher Familien ausschließen. Zudem wird ein Mal im Jahr ein Scherbengericht abgehalten. Dabei schreiben die Bürger einen Namen auf eine Tonscherbe und bezichtigen so den Genannten der beabsichtigten Tyrannei. Dieses Verfahren dauert mehrere Tage, so dass jeder die Gelegenheit zur Teilnahme hat. Kommen mindestens 6.000 Scherben mit dem gleichen Namen zusammen, kann derjenige für höchstens zehn Jahre aus der Stadt verbannt werden. Der zentrale Teil der Reform des Kleisthenes ist aber der Rat der 500. Er hat die Aufgabe die Regierung und die hohen Beamten zu kontrollieren. Dadurch dass der Rat durch Losverfahren zusammengesetzt ist, kann es nicht zu Absprachen oder zum Aufbau einer willfährigen Hausmacht kommen. Durch die Dreiteilung Attikas in die Regionen Stadt, Land, Küste ist gewährleistet, dass nicht nur reiche Athener das Sagen haben, sondern alle Schichten der attischen Bevölkerung beteiligt sind.
Themistokles
Nach den Reformen durch Kleisthenes betreten zwei Staatsmänner die Bühne Athens, die die Stadt nachhaltig verändern sollten. Der eine ist der Feldherr und Politiker Themistokles (525 – 459 v. Chr.). Er wird um 525 v. Chr. von einer Frau geboren, die keine Athenerin ist. Als Folge dieses Umstands ist Themistokles auch kein Bürger Athens – dazu bräuchte er beide Elternteile, die Bürger der Stadt sind. Die vollen Bürgerrechte bekommt Themistokles erst mit den Reformen des Perikles (490 – 429 v. Chr.). Schnell gelangt er in hohe militärische Ämter, wird unter anderem Stratege und muss den Kampf gegen die Perser organisieren. Die Perser sind den griechischen Streitkräften bei Weitem überlegen, so dass Themistokles den Ausbau der Flotte betreibt, um den Persern auf dem Wasser begegnen zu können. Der Flottenausbau hat zwangsweise eine Reform der Verfassung zur Folge, denn mehr Schiffe benötigen mehr Kämpfer an Bord als die Athener Bevölkerung stellen kann.
Die neuen Kämpfer kommen aus den Reihen der bis dahin rechtlosen „Theten“, die weder Vollbürger sind noch an der Volksversammlung teilnehmen dürfen. Sie sind Tagelöhner, werden nun zwangsweise rekrutiert und bekommen als Gegenleistung mehr Rechte. Gleichzeitig führt Themistokles auch bei der Auswahl der höchsten Beamten das Losverfahren ein, so dass auch auf dieser politischen Ebene der Schutz vor Bestechung und Patronage größer wird. Das Oberkommando der Streitkräfte wird auf ein zehnköpfiges Strategenteam übertragen. Das ist eine erstaunliche Entscheidung, denn anstatt auf die Erfahrung eines Feldherrn zu setzen, legen die Bürger Athens die Macht in die Hände von zehn Strategen, die von der Volksversammlung gewählt werden! Sie stimmen in der Volksversammlung über ihre militärischen Führer ab und entscheiden damit selbst über ihr Schicksal, das ohne Zweifel von den Fähigkeiten der Militärs abhängt. Das ist ein Schritt in Richtung einer „egalitären Demokratie“ gewesen, wie es der Historiker Erich Bayer formuliert hat. Jetzt gibt es echte Partizipationsmöglichkeiten für alle freien Bürger. Allerdings muss auch hier die Einschränkung gemacht werden, dass Frauen, Sklaven und Fremde von dieser Reform ausgeschlossen bleiben.
Perikles
Der zweite entscheidende Mann in Athen dieser Jahre ist Perikles. Er wird um 490 geboren, über seine Jugend ist wenig bekannt, aber er muss von Beginn an ein begnadetes Rhetoriktalent gewesen sein. Kaum eine Rede vor der Volksversammlung bringt nicht das von ihm gewünschte Abstimmungsergebnis. Zudem ist er der Bauherr des Athens, das in Teilen bis heute erhalten ist. In seine Amtszeiten als Stratege fallen die Auseinandersetzungen mit den Persern, der Machtkampf mit Sparta, der im Peloponnesischen Krieg endet und schließlich in den Niedergang der Hegemonialstellung Athens bewirkt.
Aber Perikles revolutioniert auch die attische Demokratie. Er führt Diäten ein. Damit wird jeder Bürger Athens in die Lage versetzt, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Diese bis heute so bezeichnete Bezahlung von „Politikern“ ist ein Quantensprung in der demokratischen Entwicklung, weil nun auch ärmere Schichten hohe und höchste politische Ämter einnehmen können. Gleichzeitig wird ein kostenloser Lese- und Schreibunterricht für alle Bürger eingeführt. Zweifellos kalkuliert er den zu erwartenden Popularitätsschub ein und hofft – nicht zu Unrecht – damit seine eigene Stellung in Athen zu festigen. Das gilt auch für das so genannte „Schaugeld“. Dieses Geld wird an Bedürftige gezahlt, wenn sie an öffentlichen Veranstaltungen – etwa philosophischen Diskursen – teilnehmen wollen.
Unter Perikles wird das attische Staatswesen zu einem Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat. Zumindest Teile der Bevölkerung erliegen den Verlockungen der Diätenzahlungen, die doch eigentlich zur Vollendung der Demokratie gedacht sind, und entfremden sich zusehends von produktiver Arbeit. Dieser nicht beabsichtigte Effekt, die stark kritisierte Finanzpolitik und die zunehmend rigider werdende Bürgerrechtspolitik sollten sich als verhängnisvoll für die Zukunft Athens erweisen. Denn mit der Einschränkung der Bürgerrechte radikalisiert sich die attische Politik zunehmend gegenüber jenen Menschen, die keine „Vollbürger“ sind. „Vollbürger“ ist nur, wer zwei in Athen geborene Elternteile vorweisen kann. Damit geht Perikles wieder einen Schritt zurück, denn diese Vorschrift hat es schon zu Themistokles Zeiten gegeben.
Sein Stern sinkt aber auch aus einem anderen Grund. Perikles gibt dauerhaft mehr Geld aus, als die Stadt einnimmt. Diese marode Finanzpolitik kommt vor allem wegen steigender Kriegskosten und wegen gewaltiger Bauvorhaben zustande. Perikles versucht sich zu verteidigen, verweigert die Rechenschaft gegenüber jenen, die Tribute an Athen zahlen müssen. Aber der Streit lässt sich nicht ohne weiteres beenden, dazu beinhaltet er auch zu viel sozialen Sprengstoff. Der einst unbestrittene Perikles verliert allmählich Rückhalt und Vertrauen in der Bürgerschaft. Gleichwohl lässt er die Akropolis erweitern und sie mit dem Tempel für die Göttin Athene schmücken. Er gibt die Initiative für den Bau des Parthenon, des Odeons und einiger anderer Prachtbauten. Athen wird in ein schimmerndes Festgewand aus kostbarem Marmor und anderen edlen Steinen gehüllt. Neben den Prunkbauten entsteht ein weiteres für damalige Verhältnisse erstaunliches Bauwerk: Um einen sicheren Verkehrsweg zwischen beiden Städten zu haben, wird eine sieben Kilometer lange Doppelmauer zwischen Athen und Piräus gebaut.
Aber angesichts der hohen Kosten und des Imageschadens, der sich für das nahezu insolvente Athen im restlichen Attika abzeichnet, zählt die Schönheit dieser Bauwerke bald nichts mehr. Auch die Tatsache, dass in der Regierungszeit von Perikles das Bildungswesen erheblich verbessert worden ist, die meisten Athener nun lesen und schreiben können und in riesigen Theatern mitunter Tage lang die Finessen zeitgenössischer Dramaturgie vorgeführt bekommen, hält man ihm nicht länger zu Gute.
15 Jahre, so lange wie niemand vor ihm, fungiert Perikles als Stratege. Er ist der militärisch Verantwortliche, der „erste Bürger Athens“, der die Geschicke der Stadt mit großem Erfolg gelenkt hat. Als er aber in zunehmende Bedrängnis gerät, bringt er Athen auf einen neuen außenpolitischen Kurs, der in einer Konfrontation mit Sparta mündet. Der Verlauf des Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta ist der Anfang vom Ende nicht nur des großen Reformers Perikles, sondern das Ende der Blütezeit Athens.
Perikles ist zweifellos einer der bedeutendsten Staatsmänner des antiken Athens gewesen. Er hat entscheidenden Anteil am Auf- und Ausbau der Demokratie, auf die sich heute noch die europäische Welt beruft. Einschränkend sei auf ein Zitat des griechischen Schriftsteller Thukydides (ca. 454 – 396 v. Chr.) hingewiesen, der den beeindruckenden Satz geprägt hat, die athenische Demokratie sei nur dem Namen nach eine solche gewesen, in Wirklichkeit habe es sich um die „Herrschaft des ersten Mannes“ gehandelt. Aber von jenem Thukydides ist auch überliefert, wie stark das Selbstverständnis der attischen Bevölkerung in jenen Jahren von zentralen Demokratiebegriffen wie Freiheit, Gleichheit, Selbstlosigkeit, Überparteilichkeit oder Weltoffenheit geprägt gewesen ist. Ein Ensemble von Werten, von denen die modernen europäischen Demokratien immer noch geformt werden.
Europas antike Wurzeln
Die Ursprünge der Demokratie liegen in Griechenland, genauer formuliert in der attischen Polisgesellschaft und dem von Athen dominierten Teil des griechischen Festlands. Das antike griechische Demokratieverständnis beruht auf der bis heute richtigen Einsicht, dass das Allgemeinwohl aus der aktiven Teilnahme der Bürger am Leben seiner Polis entsteht. Heute würden wir eher von der Zivilgesellschaft reden, die sich im öffentlichen Raum Gehör verschafft, wenn es um das Gemeinwohl geht – von der Umgehungsstraße bis zur Ampel vor einer Schule. Die moderne Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts ist weiterentwickelt – zum Glück, sonst wären Frauen und weniger Begüterte womöglich immer noch von ihr ausgeschlossen. Aber die Tatsache, dass durch die Solon’schen Reformen das Individuum in den Mittelpunkt gestellt worden ist, finden wir rund 2.000 Jahre später in der Renaissance, der Aufklärung und schließlich in unseren westlichen Demokratien wieder. Welch eine Nachhaltigkeit einer Idee!
Bildung steht bei den antiken Griechen hoch im Kurs. Wer gebildet ist, kann über die öffentlichen Angelegenheiten mitreden und mitentscheiden. Das hat sich über die Jahrhunderte fortgesetzt: Gebildete genießen immer hohes Ansehen. Damals wie heute sind viele Menschen bestrebt, sich weiter zu bilden, mehr Wissen anzuhäufen und über mehr Dinge Bescheid zu wissen, als es für die Bewältigung des eigenen Lebens vielleicht unbedingt notwendig ist. Im 15. Jahrhundert entsteht in Europa der Humanismus. Er wird sich ausdrücklich auf die griechische Antike berufen und in dem allseits gebildeten Menschen das Ideal schlechthin erblicken. Nur der gebildete Mensch sei in der Lage, lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein oder kulturelle Schaffenskraft zu entwickeln. Platons Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ wird die Leitplanke der Humanisten und vieler anderer Geistesströmungen werden.
Das gemeinsame kulturelle Erbe Europas aus der griechischen Antike ist eben auch die Erkenntnis, dass Bildung ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens ist. Jeder kann und sollte gebildet sein. Im Mittelalter ist es unter französischen oder deutschen Gelehrten wichtig gewesen, die lateinische und griechische Sprache zu beherrschen. Nur so haben sie von einer Universität zur nächsten wechseln können, weil sie gewusst haben, dass sowohl die Lehrer als auch die Studenten diese Sprachen beherrschen. Es ist durchaus schade, dass uns eine gemeinsame Sprache in Europa verloren gegangen ist – wie viel einfacher wäre dann ein Einigungsprozess unter den Europäern.
Dennoch hat Europa aus Griechenland eine ungeheure kulturelle Vielfalt geerbt. Auf ihr basiert alles, was nach dem Ende der griechischen Antike kommen soll. Insgesamt ist Europa von drei Kulturkreisen beeinflusst – oder aus ihnen entstanden. Der erste griechisch-hellenistische Kulturkreis hat sich nach den Feldzügen Alexanders „des Großen“ vom Balkan über das spätere oströmische Reich bis weit in den Orient hinein erstreckt. Der zweite ist der slawische Kulturkreis - meist islamisch geprägt und sowohl asiatischen als auch abendländischen Einflüssen ausgesetzt. Er ist bis heute in einigen südost- oder osteuropäischen Ländern zu bewundern. Der römisch- germanische Kulturkreis ist der dritte im Bund. Hier tritt das griechisch-römische Erbe an die Wiege Europas. Dieser Mix macht die Vielfalt Europas ebenso aus wie sie eine Klammer für alle Europäer bildet. Die Europäer sind Kinder dieser Kulturkreise, die in dieser Dichte und in diesem Reichtum nicht so oft auf der Welt anzutreffen sind. Die gegenseitigen kulturellen Verflechtungen, die sich daraus ergebenden besonderen Strukturen in Europa sind keineswegs Ausdruck des „alten“ – nahezu untergehenden Europas, wie es einmal der offenbar einseitig „gebildete“ amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld (1932) in gründlicher Unkenntnis der europäischen Geschichte gesagt hat. Im Gegenteil: Dieses Erbe ist der charakterisierende Wesenszug des europäischen Kontinents.