Die Genese Europas II
Die Genese Europas II
Reformation
Die Reformation ist das erste Kind der Neuzeit. Wie keine andere Bewegung ist sie Ausdruck einer Suche nach neuen Lebens- und Glaubensformen. Gleichzeitig ist sie aber auch noch stark geprägt vom gerade zu Ende gegangenen Mittelalter. Aufbruch und Bewahrung kennzeichnen diese religiöse Spaltung, die Europa die kommenden 150 Jahre in Atem halten wird. Die von Martin Luther (1483 – 1526) ausgelöste Reformation und die damit verbundene Begründung des Protestantismus hat am Anfang eine veränderte Kirche, aber keine Kirchenspaltung zum Ziel. Die neue christliche Lehre stellt den Menschen wie in der Lehre des Humanismus in den Mittelpunkt, will aber die römische Kirche dafür keineswegs abschaffen. Luther selbst will die Verweltlichung des Vatikans und der Päpste stoppen, aber ihren Sturz hätte er abgelehnt. Wie Renaissance und Humanismus ist auch Martin Luthers Reformation eine Antwort auf die Verrohung der Zeit und die Verweltlichung der römischen Kirche. Eigentlich ist es bis heute unvorstellbar, dass ein einzelner Mensch eine derart umwälzende, alle Schichten der europäischen Bevölkerungen erfassende Bewegung ins Leben rufen kann. Die von seinem Namen nicht zu lösende Reformation wird nicht nur einen verheerenden Krieg – wenn auch lange nach seiner Zeit – auslösen, sondern obendrein auch noch die Einheit des christlichen Glaubens ins Europa pulverisieren. Der Name Martin Luther ist mit einer der wohl nachhaltigsten Revolutionen in der Geschichte der Menschheit unauflösbar verbunden.
Martin Luther wird am 10. November 1483 im sächsisch-anhaltinischen Eisleben als zweiter Sohn einer Bergmannsfamilie geboren. Der kleine Martin besucht die Lateinschule am Ort, in der noch die strengen Lehrmethoden des Mittelalters vorherrschen. Er wird als stiller, äußerst begabter Schüler bezeichnet, der in allen Fächern gute Noten bekommt. Nach der Schule geht der inzwischen 17jährige Martin 1501 an die Universität in Erfurt, wo er sich als erstes mit den „sieben freien Künsten“ beschäftigt, zu denen unter anderen die Grammatik, die Rhetorik und die Logik gehören. Hier bekommt er sein intellektuelles Rüstzeug, vor dem sich später seine Kritiker fürchten werden. In Erfurt lernt Martin Luther die Lehre vom humanistisch „gebildeten Menschen“ kennen.
Wie die Künstler der Renaissance stellen die Bildungsreformer – wie etwa Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) – das Wohl des Menschen ins Zentrum ihrer Überlegungen. Der Humanismus wird in diesen ersten Jahren des 16. Jahrhunderts einerseits zur Ursache der beginnenden Veränderungen, während er andererseits aber auch ein Ergebnis dieser neuen Strukturen ist. Martin Luther profitiert von diesem Umstand und bekommt 1505 nach nur vier Jahren Studium mit dem Magister seinen ersten akademischen Abschluss. Eigentlich will er nun Jura studieren. Aber es kommt anders, denn zum Erstaunen von Familie und Freunden verkündet er am 2. Juli 1505 Mönch zu werden. Am Tag zuvor ist der junge Magister auf dem Rückweg von seinen Eltern in einen schweren Sturm geraten. Ein Blitz – so heißt es später - sei in seiner unmittelbaren Nähe eingeschlagen, worauf er verängstigt Schutz in einem nahe gelegenen Wald gesucht habe. Dort sei er von heftigen Sturmböen traktiert worden und habe daraufhin begonnen, in den bebenden Himmel zur Heiligen Anna, der Patronin der Bergleute, zu schreien: „Hilf Du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“ Martin Luther überlebt das Unwetter und sieht sich in der Schuld der heiligen Anna, der er in größter Not sein Leben versprochen hat. Sehr zum Ärger seines Vaters löst er dieses Versprechen auch tatsächlich ein, begibt sich zwei Wochen später in das Schwarze Kloster der Augustiner Eremiten in Erfurt und wird Mönch dieses Bettelordens. Nun bestimmen Fasten, Beten und Arbeit seinen Tagesablauf, der morgens um 3.00 Uhr mit dem ersten Stundengebet beginnt. Luther stürzt sich in seine neue Aufgabe mit der Begeisterung eines Novizen, wird zwei Jahre später zum Priester geweiht und hat von da an eine normale Karriere innerhalb der römischen Kirche im Blick. 1508 folgt er einem Ruf nach Wittenberg, wo er zum Hilfsprofessor ernannt wird. Ein Jahr später ist er Bachelor, 1511 reist er zum ersten Mal nach Rom und besucht den Vatikan und die römische Kurie. Ein Jahr später wird er zum Doktor der Theologie promoviert und erhält den Lehrstuhl der „Lectura in Biblia“ (Bibelauslegung). 1514 folgt der Provinzialvikar, zwischen 1515 und 1521 ist der Dekan der theologischen Fakultät der Universität Wittenberg. Ein Jahr später ist die erste Predigt gegen den Ablasshandel bezeugt. In Wittenberg beginnt eine Frage immer drängender zu werden: In welcher Verbindung stehen die Menschen eigentlich zu Gott?
Für die römische Kirche ist dieses Verhältnis geklärt: Da Christus gesagt hat, er wolle auf Petrus seine Kirche bauen, und der Papst dessen Stellvertreter auf Erden ist, gibt es eine direkte Linie von Gott zum Papst über Petrus, den ersten Nachfolger des Gottessohnes auf Erden. Der Papst legt deshalb die göttlichen Worte der Bibel aus und formuliert daraus Handlungsanweisungen oder Verhaltensprinzipien für die Menschen. Die Menschen selber sind danach über den Papst mit Gott verbunden. Die Menschen glauben an Gott oder Christus, dem Papst aber haben sie Gehorsam zu leisten. Martin Luther hingegen kommt zu einer Wiederentdeckung der Evangelien des Neuen Testaments, entwickelt daraus ein neues christliches Paradigma und setzt sich damit entscheidend vom Religionsverständnis des Papstes ab. Für ihn gibt es keine apostolische „Zwischenstation“, es besteht vielmehr ein direktes Verhältnis von Gott zu jedem einzelnen Christenmenschen. Für ihn zählt nur die Heilige Schrift („Primat der Schrift“), Jesus Christus („Primat Christi“) und die Gnade Gottes („Primat der Gnade und des Glaubens“). Wenn man dies konsequent zu Ende denkt, dann ist in diesem Gedankengebäude weder Platz für den Vatikan noch für den Papst. Aber so weit geht Luther zunächst nicht, gleichwohl Popularität und Anhängerschaft in rasantem Tempo wachsen. Es hat noch eines Schlüsselerlebnisses für Luther bedurft, um die direkte Konfrontation mit der römischen Kirche zu wagen. In der Klosterhierarchie weiter nach oben aufgestiegen muss der Wittenberger Mönch wegen eines Streites seines Ordens mit anderen Klöstern nach Rom. Was er dort zu sehen bekommt, entsetzt den frommen Luther zutiefst. Die Angehörigen der Kurie frönen einer exklusiven Hofhaltung wie weltliche Herrscher. Papst Leo X. (1475 – 1521) fehlt es an theologischer Fundiertheit. Sein Ausspruch, „da Gott uns das Pontifikat verliehen hat, so lasst es uns denn genießen“, zeugt in den Augen Luthers von verwerflichen moralischen Einstellungen des Papstes. Heilige Messen werden im Vatikan nicht aus seelsorgerischen, sondern aus finanziellen Gründen abgehalten, weil am Ende der Predigt ein prall gefüllter Klingelbeutel winkt. Von der Einhaltung des Zölibats kann im Vatikan auch keine Rede sein. Beschämt über den Zustand der Kurie in Rom kehrt Martin Luther nach Wittenberg zurück. Fortan steht er der römischen Kirche skeptisch gegenüber.
Der Ablasshandel
Seine Skepsis schlägt in Zorn um, als sich immer mehr Menschen seiner Kirchengemeinde in der Nachbarschaft durch so genannte Ablassbriefe ihr Seelenheil erkaufen. Scharenweise lassen sie ihr Geld beim Ablasshändler, weil der ihnen nach der Zahlung eines Geldbetrages die Absolution erteilt. Mit dem Spruch „wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“, verführen die Ablasshändler viele Christenmenschen zur Zahlung des Ablassgeldes. Einer der Ablasshändler ist Johann Tetzel (1460 – 1519), der seit 1506 in der unmittelbaren Umgebung Luthers seinem Tagewerk nachgeht. Man kann bei Johann Tetzel auf diese Weise nicht nur die eigenen Sünden tilgen, sondern auch die der Verstorbenen! Und wer lässt schon gerne – heißt es verlockend – einen nahen Verwandten im Fegefeuer schmoren? Tetzel verkauft Ablass für Sünden, die man erst in Zukunft begehen wird. Ablass wird auch für eine Vergewaltigung der Mutter Gottes verkauft, was Martin Luther zutiefst empört, zumal viele seiner Gemeindemitglieder nach der Ablasszahlung zu ihm in den Beichtstuhl kommen und zusätzlich die kirchliche Absolution verlangen.
Seit 1506 wird der „Peterablass“ in Deutschland eingetrieben. Leo X. braucht das Geld für den Neubau von St. Peter in Rom. Der Papst ist auf äußere Pracht ebenso bedacht gewesen wie auf den prunkvollen Ausbau des Petersdoms, der den Vatikan aber in arge Finanznöte gebracht hat. Die renommiertesten Künstler seiner Zeit beauftragt Leo X. mit der Gestaltung des Inneren der neuen Kirche. Raffael, Michelangelo und andere schaffen daraufhin Werke, die ihren Weltruhm begründen und den Vatikan zu einem faszinierenden Museum menschlicher Schaffenskraft machen. Aber die Finanzen des Heiligen Stuhls sind anschließend ruiniert. Um den Prunk bezahlen zu können, ist der Papst gezwungen, Ämter regelrecht zu verkaufen und durch den Vertrieb von speziellen Ablassbriefen das nötige Geld einzutreiben. Einer der eifrigsten Geldbeschaffer ist jener Johann Tetzel, der sich den Zorn des Wittenberger Mönchs Martin Luther zugezogen hat.
Am 4. September 1517 stellt Luther zunächst 97 Thesen vor, um einen Disput über die scholastische Theologie unter seinen Mitdozenten anzuregen. Im Oktober verfasst er weitere 95 Thesen, die direkt auf den Ablass Bezug nehmen. Am 31. Oktober 1517 schickt er diese 95 Thesen vermutlich in einem Brief an den Kardinal und den Papst und gibt sie außerdem einigen Anhängern zu lesen. Gleichzeitig verfasst er einen erzürnten Brief an Leo X., denn Luther ist der Auffassung, der Ablasshandel würde ohne das Wissen des Papstes, hinter dessen Rücken organisiert. In seinem Brief beschwert sich der Wittenberger Mönch über den Ablasshandel und schreibt, dass jeder Christenmensch, wenn er denn aufrichtig bereue, Anspruch auf die Absolution habe – auch ohne einen Ablassbrief. Nun ist der Stein ins Rollen gebracht und die Auseinandersetzung mit der römischen Kirche unvermeidbar. Vermutlich hat Luther das weder gewollt noch ahnen können, denn ihm geht es ausschließlich um die Reform der bestehenden römischen Kirche und nicht um die Gründung einer neuen christlichen Kirche.
Aus dem „Mönchsgezänk“, wie Papst Leo X. die Thesen Luthers zunächst bezeichnet hat, wird innerhalb kurzer Zeit ein religiöser Aufbruch, der in einer alternativen christlichen Religion mündet. Im Moment der Veröffentlichung seiner Thesen hat Luther eine Reformation oder gar eine Abspaltung von der römischen Kirche nicht im Sinn. 1517 ist er weder ein Reformator noch ein Revolutionär gewesen, sondern ein aufgeregter Mönch, der den Ablasshandel der römischen Kurie für Gotteslästerung gehalten hat. Aber als er beginnt dagegen zu kämpfen, macht der Druck des Papstes aus ihm nicht nur einen Reformator, sondern obendrein auch noch einen Revolutionär!
Am Vorabend der Reformation hat sich über Deutschland ein territorialer Flickenteppich mit etwa 250 weltlichen und geistlichen Grafschaften, Herzogtümern, Erzbistümern, reichsfreien Städten, Abteien, Fürsten- und Kurfürstentümern ausgebreitet. In den Grenzen des „Heiligen Römischen Reiches“ befinden sich außerdem das Königreich Böhmen, das Erzherzogtum Österreich und das Land der Eidgenossen, aus dem später die Schweiz entstehen wird. Jedes Territorium wird durch den jeweiligen Herrscher autark verwaltet. Es gibt nicht nur unterschiedliche Gesetze, sondern auch unterschiedliche Zölle und Steuern. Will ein Händler von Brüssel im Herzogtum Brabant seine Waren nach Prag im Königreich Böhmen bringen, muss er neun territoriale „Grenzen“ überqueren und wird – wenn er Pech hat – auch neun Mal von Zöllnern zur Kasse gebeten. Mehr noch: Es gibt oft genug unterschiedliche politische oder strategische Interessen zwischen den Territorialfürsten und dem Kaiser an der Spitze des „Heiligen Römischen Reichs“. Für Martin Luther sollte sich das als Segen erweisen, denn es stellt sich schnell heraus, dass ein Teil der Fürsten hinter ihm steht und ein anderer Teil ihn bekämpft.
95 Thesen, die die Welt verändern
Am 31. Oktober 1517 veröffentlicht Martin Luther seine Reformvorschläge. Sie beziehen sich fast alle auf den Ablasshandel und bestreiten die theologische Begründung dieser Praxis. An keiner Stelle findet sich ein Aufruf zur Abspaltung von der römischen Kirche, im Gegenteil der Papst wird vor den marktschreierischen Aktivitäten der Ablasshändler sogar in Schutz genommen. Als roter Faden zieht sich durch alle Thesen die Auffassung, dass eine direkte Beziehung zwischen Gott und den Menschen besteht und dass die vom Papst beanspruchte Mittlerrolle auch von jedem anderen Priester übernommen werden kann:
„Deshalb irren jene Ablassprediger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.“
„Deswegen wird zwangsläufig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht.“ „Wer glaubt, durch einen Ablassbrief seines Heils gewiss sein zu können, wird auf ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden.“
„Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrief.“
„Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und statt dessen für den Ablass gibt, kauft nicht den Ablass des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein.“ „Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.“
„Es ist irrsinnig zu meinen, dass der päpstliche Ablass mächtig genug sei, einen Menschen loszusprechen, auch wenn er - was ja unmöglich ist - der Gottesgebärerin Gewalt angetan hätte.“
„Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder sogar vor spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen.“
Ganz offensichtlich ist sich Martin Luther nicht bewusst, was er mit seinen Thesen anrichten würde, denn er vermutet, dass der Papst von den Methoden der Ablasshändler nichts weiß und dass er deren Verhalten infolgedessen auch nicht gutheißt. Aber der Papst denkt nicht daran, die Peterskirche „in Asche sinken“ zu lassen, obwohl ihm sehr wohl bekannt ist, dass sie „mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut“ wird. Die Kritik Luthers zielt also auf den Eckpfeiler der Finanzpolitik des Vatikans, denn ohne das Geld der Gläubigen droht dem Heiligen Stuhl die Insolvenz! Möglicherweise haben die Bischöfe in Rom und anderswo den Sprengstoff der Thesen unterschätzt oder nicht erkannt, jedenfalls reagieren sie zunächst gelassen und wollen mäßigend auf den rebellischen Mönch einwirken.
Derweil macht das Thesenpapier Luthers die Runde in Deutschland und die ersten Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Einige humanistische Gelehrte und Fürsten signalisieren Zustimmung, deutsche Kirchenführer hingegen reagieren mit zorniger Ablehnung. Der am meisten kritisierte Ablasshändler Johann Tetzel wünscht, Martin Luther auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen und steht damit an der Spitze derer, die nach radikalen Maßnahmen gegen den Rebellen aus den eigenen Reihen rufen. Luther macht alles noch viel schlimmer, als er ein Jahr später seine Thesen noch einmal präzisiert. Er wolle keinesfalls den Papst aus seinem heiligen Amt drängen, sondern lediglich einige Miss-Stände in der römischen Kirche beseitigen, schreibt er 1518 in der Hoffnung, den Ärger damit ausräumen zu können. In Disputationen versucht er seine Kritik an der römischen Kirche darzulegen, um klar zu machen, dass es ihm um die Beseitigung von Auswüchsen und Fehlentwicklungen geht. Aber die Kurie in Rom ist der Auffassung, es gebe keine derartigen Miss-Stände und eröffnet den Ketzerprozess gegen „das Mönchlein“ aus Wittenberg. Es drohen Inquisition und Tod!
In diesem Moment sind Martin Luther zwei lebensrettende Umstände zu Hilfe gekommen. Zum einen kann der Prozess nicht eröffnet werden, weil 1519 Kaiser Maximilian I. nach langer Regentschaft stirbt und das Land mit der Regelung der Nachfolge beschäftigt ist. Zum anderen unterstützen ihn einige Landesfürsten, die in der Auseinandersetzung um die Freiheit des Glaubens eine Möglichkeit sehen, den päpstlichen Einfluss auf die Politik in Deutschland zurück zu drängen. Damit gerät der Streit um den richtigen Glauben in den politischen Konflikt der Fürsten mit dem Kaiser und dem Papst. Zwar ruht das Verfahren gegen Martin Luther bis der neue Kaiser Karl V. (1500 – 1558) inthronisiert ist, aber der latenten Gefahr ist sich der Mönch aus Wittenberg bewusst gewesen. Erst jetzt kommt er unter dem ständig wachsenden Druck durch die in seinen Augen korrupte römische Kirche auf die Idee, sich gänzlich von Rom loszusagen.
1520 verfasst Martin Luther drei Schriften, die den Bruch mit der römischen Kirche dokumentieren. Zunächst wendet er sich an den „christlichen Adel deutscher Nation“ und bittet um Hilfe für „die Kirche“. In zwei weiteren Texten formuliert er seine Erkenntnis, dass durch die Taufe alle Christen gleich seien und dass deshalb keine Unterscheidung zwischen geistlichen und weltlichen Personen gemacht werden müsse. Im November 1520 erscheint der prägnanteste Text: „Von der Freiheit eines Christenmenschen.“ Er gipfelt in der auf den Apostel Paulus zurückgeführten Feststellung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Dieses Credo für die Freiheit des Glaubens und des Christen ruft nun den endgültigen Zorn von Papst Leo X. hervor, der die Bannandrohung ausspricht und Luther ultimativ auffordert, seine „Irrlehren“ zu widerrufen. Der vom Bannstrahl Bedrohte lässt sich aber vom päpstlichen Zorn nicht wirklich schrecken und übergibt unter großer Anteilnahme der Wittenberger Bevölkerung am 10. Dezember 1520 nicht nur das päpstliche Schreiben dem Feuer, sondern auch noch das Kirchengesetzbuch. Damit ist der unwiderrufliche Bruch mit der römischen Kirche vollzogen und der Entschluss gefasst, neben der römischen eine weitere Kirche ins Leben zu rufen.
Die päpstliche Reaktion kommt prompt. Als eine der letzten Amtshandlungen vor seinem Tod spricht Leo X. am 3. Januar 1521 den Bannfluch über Martin Luther aus. Damit setzt er Kaiser Karl V. unter Druck, der nun aufgefordert ist, den Schuldigen zu verhaften und ihn der Inquisition zu übergeben. Aber Karl V. steht einer Luther freundlichen Stimmung im Land gegenüber, die sich vor allem in Brandenburg und Sachsen ausgebreitet hat. Um diesem Dilemma zu entkommen, sichert Karl V. dem Rebellen freies Geleit zu und fordert ihn auf, am 18. April 1521 vor dem Reichstag in Worms zu erscheinen. Der Kaiser hofft, die Reise des Mönchs nach Worms würde ein öffentlicher Bußgang werden, aber das Gegenteil tritt ein. Als Martin Luther sich am 2. April 1521 auf den Weg macht, beginnt eine Triumphfahrt durch Deutschland. Wo er auch hinkommt, jubeln ihm die Menschen zu, fordern ihn auf zu predigen und bestärken ihn in der Absicht seine Lehre nicht zu widerrufen. Vom Jubel begleitet kommt er am 16. April 1521 in Worms an und trifft dort auf Kaiser Karl V., der das Problem mit dem abweichlerischen Mönch vollkommen unterschätzt hat und mit ganz anderen politischen Problemen beschäftigt ist.
Karl V.
Begünstigt durch eine Vakanz auf dem spanischen Thron ist Karl V. nicht nur König in Deutschland, sondern seit 1519 auch König von Spanien und seit 1520 „erwählter“ Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Karl verwendet diesen Titel nach seiner Königskrönung am 23. Oktober 1520 in Aachen mit Einverständnis des Papstes. Über dieses Riesenreich des Habsburgers Karl V. ist damals gesagt worden, es ginge „die Sonne niemals unter“. Das Reich umfasst neben Deutschland und Spanien, Burgund, die Niederlande, Österreich, Kastilien mit den dazugehörigen amerikanischen Besitzungen, Aragon mit Neapel und Sizilien, Sardinien sowie die Königreiche Navarra und Granada.
Dieses Reich ist natürlich der geostrategische Albtraum des französischen Königs Franz I. (1494 – 1547), der sich von allen Seiten durch den übermächtigen Karl V. umzingelt sieht. Deshalb steuert Franz I. einen politischen Kurs gegen die Habsburgermacht und wird so zum Hindernis für die Errichtung einer Weltherrschaft unter der Flagge Karls V., der seinerseits alles daransetzt, Frankreich kalt zu stellen. Dieser Konkurrenzkampf, der bis 1559 dauert, wird vor allem in Oberitalien ausgetragen und beansprucht die vollständige Aufmerksamkeit des Kaisers. Für die Auseinandersetzung mit den Thesen Martin Luthers, die er ablehnt, bleibt kaum Zeit. Karl V. hat nämlich noch ein Problem, denn an der südosteuropäischen Grenze des Heiligen Römischen Reichs stehen Heere der aggressiver werdenden Osmanen. Sie machen den Eindruck, als wollten sie erneut einen Versuch wagen, in Zentraleuropa Fuß zu fassen. Der Druck auf die österreichische Grenze nimmt zu, während weitere militärische Kräfte des Kaisers in vier deutsch-französischen Kriegen, die zwischen 1521 und 1544 in Oberitalien stattfanden, absorbiert werden. Auch in Spanien regt sich Widerstand gegen seine Herrschaft, so dass Karl V. mit seinen Gedanken vermutlich ganz woanders ist, als er nun beim Reichstag in Worms zum ersten Mal dem Mönch aus Wittenberg gegenübersitzt.
Karl V. empfindet sich als Wahrer und Beschützer der Einheit des christlichen Abendlandes und als christlicher „Universalkaiser“. Er strebt entsprechend die „Weltherrschaft“ an, die er unter dem Zeichen der Christen vereinigen und gegen äußere Feinde verteidigen will. Die Einheit der Christen ist für Karl unauflöslich mit der Autorität des Papstes und der römischen Kirche verbunden. Karl V. hat sich diesem heiligen Weltverständnis untergeordnet. Deshalb will er in Worms eindrucksvoll gegen Martin Luther vorgehen – so wie es der im Sterben liegende Papst Leo X. von ihm erwartet. Aber es kommt anders!
Martin Luther erscheint zweimal vor dem Reichstag, wo Karl V. ihn davon zu überzeugen versucht, einen Widerruf abzulegen. Aber getragen von der großen Unterstützung, die er auf der Reise nach Worms erfahren hat, lehnt das Wittenberger „Mönchlein“ diesen Wunsch ab. Solange kein Beweis gegen seine Thesen erbracht werden könnte, gebe es für ihn keinen Grund von seiner Lehre abzulassen, entgegnet er mutig dem Kaiser. Auf dessen Hinweis, dass der Heilige Vater in Rom seine Lehren verworfen habe, antwortet Martin Luther, dass er weder dem Papst noch den Konzilien Glauben schenke, da diese sich in der Vergangenheit schon häufiger geirrt hätten. Er glaube allein der Heiligen Schrift, weshalb er nichts zu widerrufen habe. Dieser Auftritt vor dem Reichstag zeugt nicht nur von seiner religiösen Überzeugung, sondern auch von seinem ungeheuren Mut, mit dem er seine Schriften verteidigt hat: „Die zweite Gruppe (von Büchern) greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich verstört hat. (...) Jedermann macht die Erfahrung, und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, dass päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, dass aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt (...) Mein Widerruf würde ihrer grenzenlosen, schamlosen Bosheit zu Gute kommen, und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken (...) Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen!“
Martin Luther beendet seine Ausführungen mit einem „Gott helfe mir, Amen!“. Er darf den Verhandlungssaal verlassen, weil der Kaiser ihm freies Geleit zugesichert hat. Als er durch die Tür hinausgeht, soll er die Arme in die Luft gereckt und gerufen haben: „Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!“ Aber Karl V. bricht sein Wort, indem er unmittelbar nach Prozessende über den aufsässigen Mönch die so genannte Reichsacht verhängt. Damit ist Martin Luther vogelfrei und der Verfolgung ausgesetzt. Jeder, der ihm jetzt in seiner misslichen Lage hilft, fällt ebenfalls unter die Reichsacht und bringt sich selbst in Gefahr. Nun kommt Luther die Zerstrittenheit und die Konkurrenz in deutschen Landen zu Hilfe. Der Kurfürst Friedrich von Sachsen (1463 – 1525) ist nicht nur ein Freund seiner Thesen, sondern auch ein erbitterter Gegenspieler von Karl V., mit dem er 1519 um die Nachfolge von Kaiser Maximilian I. konkurriert hat. Mit dem Einverständnis Martin Luthers lässt der Kurfürst ihn am 4. Mai 1521 „kidnappen“ und auf die Wartburg „verschleppen“. Als „Junker Jörg“ mit langem Haupthaar und Bart lebt Martin Luther nun unerkannt auf der Wartburg. Friedrich von Sachsen lässt Gerüchte über Luthers Tod verbreiten – gezielte Desinformationen und Falschmeldungen haben auch damals schon zum diplomatischen Repertoire gehört! In der Abgeschiedenheit der Wartburg bei Eisenach übersetzt Martin Luther in nur elf Wochen das Neue Testament ins Deutsche. 1522 wird seine Bibelübersetzung gedruckt – seither bekannt als die „Luther-Bibel“.
Bauernaufstände
Aber Luthers Thesen und die politische Auseinandersetzung mit ihm schlagen immer weitere Kreise. 1524 beginnen im Süden und in der Mitte Deutschlands die Aufstände der Bauern unter ihrem Anführer Thomas Müntzer (1489 – 1525). Thomas Müntzer ist einer der glühendsten Verehrer Luthers, aber radikaler als er. Er will die Reform der neuen Kirche schneller durchsetzen und agitiert deshalb kompromissloser. Mit dem Beginn des Bauernaufstands kommt es zum Bruch zwischen den beiden, was aber nicht verhindert, dass sich Bauern gegen den Willen des Reformators auf die Lehren Martin Luthers berufen und darin von Thomas Müntzer unterstützt werden. Martin Luther ist angesichts der Gewalt der Aufständischen entsetzt, nennt die Bauern „mordende und räuberische Rotten“, ruft zu deren Bekämpfung auf und wünscht ihnen den Tod an den Hals. Die radikalen Bauern sind nicht die einzigen, die von seinem Zorn getroffen werden. Obwohl er den jüdischen Ursprung des christlichen Glaubens durchaus kennt, verfällt Luther einem rüden Antisemitismus, der bei einem Mann wie ihm nur schwer begreiflich ist.
Gemäß der „jüdischen Kleiderordnung des 4. Laterankonzils“ (1213 – 1215) leben die Juden zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland unter erbärmlichen Umständen. Ihre Landesherren belegen sie willkürlich mit Abgaben und verweisen sie nicht selten des Landes. Viele Juden müssen in Ghettos leben und in manchen Gegenden ist das Tragen eines gelben Sterns vorgeschrieben. Eigentlich will Luther sie zum „rechten Glauben“ bekehren. Als er aber merkt, dass dies nicht gelingen kann, polemisiert er in einer wilden Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ in einer infamen Weise gegen sie. Man solle die „Synagogen verbrennen“ und die „Lügen der Juden“ aufdecken, schreibt er. Sie seien „unsere öffentlichen Feinde“, die, wenn sie könnten „uns alle gerne töten“ würden. Da sie Maria eine „Hure und Jesus ein Hurenkind“ nennen, solle man „sie nicht leiden, sondern vertreiben.“ Aber damit nicht genug. Die Juden seien elende Lügner und Bluthunde, man solle ihre Synagogen und Schulen in Brand stecken und ihnen den Talmud wegnehmen. Die Juden sollten „wie tolle Hunde gejagt“ werden, weil sie auf deutschen Landen nichts zu suchen hätten. Man solle ihnen ihr Geld abnehmen und sie „im Schweiße ihrer Nasen“ arbeiten lassen. Dieser finstere Antisemitismus ist die andere Seite des Martin Luther, der mit seiner Reformation zwar einerseits die christliche Welt auf den Kopf gestellt hat, andererseits aber in einem zutiefst unchristlichen Gedankengebäude verfangen gewesen ist.
Die Reformation, die sich nun über den ganzen Kontinent auszubreiten beginnt, ist aber nicht nur eine innerkirchliche Angelegenheit. Die Tatsache, dass die Menschen die monopolisierte Auslegung der Bibel und die damit verbundenen Anweisungen für das tägliche Leben nicht mehr widerspruchslos hinnehmen, zeigt ihre beginnende Emanzipation. Die Christenmenschen haben gelernt, kritisch zu fragen, nicht alles als „Gott gegeben“ hinzunehmen und stattdessen lieber ihren Verstand zu benutzen, um sich die Welt zu erklären. Die Reformation ist der Beginn eines europaweiten Prozesses, an dessen Ende die Trennung von Kirche und Staat steht. Die Wirkung der neuen christlichen Lehre ist enorm und findet in vielen Ländern Europas Nachahmer. Zunächst aber weiten sich 1525 die Bauernaufstände aus. Die Enthauptung Thomas Müntzers forciert die Wut der Aufständischen. Zwischen Goslar im Norden und dem Bodensee im Süden erheben sich nun militante Bauern, zerstören Klöster und Burgen und gewinnen einige Fürsten für sich – unter ihnen den wegen eines ihm zugesprochenen Schimpfwortes berühmt gewordenen Götz von Berlichingen (1480 – 1562). Nach drei vernichtenden Niederlagen folgt 1526 ein blutiges Strafgericht gegen die aufständischen Bauern, das mit dutzenden Todesurteilen endet und einmal mehr die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt.
Angst und Schrecken erleben auch die Menschen in Oberitalien, denn dort treffen die Heere des französischen Königs und des deutschen Kaisers aufeinander. In einer so genannten „heiligen Liga“ haben sich Frankreich, Venedig, Mailand und Florenz mit dem Papst zusammengeschlossen. Zu der erwarteten Schlacht aber kommt es wegen ausgebliebener Soldzahlungen nicht. Ein Teil der deutschen Landsknechte und spanische Söldner aus dem Heer Karls V. meutern und ziehen mordend und plündernd nach Rom. Viele der Landsknechte, die in Rom am 6. Mai 1527 einmarschieren, sind Anhänger Martin Luthers. Für sie ist die Plünderung der heiligen Stadt ein Akt der Rache am Papst, der in ihren Augen der Erzfeind des Reformators ist. Papst Clemens VII. (1478 – 1534) muss angesichts der marodierenden Banden durch einen unterirdischen Gang in die Engelsburg fliehen, von wo er hilflos dem schändlichen Treiben der Landsknechte zusehen muss. Nach einem halben Jahr Belagerung, die als „Sacco di Roma“ in den Geschichtsbüchern festgehalten ist, hat Rom nur noch halb so viele Einwohner. Nachdem die Befreiung des Papstes durch ein Heer der „heiligen Liga“ nicht gelungen ist, bekommt Clemens VII. seine Freiheit dadurch zurück, dass er ein üppiges Lösegeld an die Belagerer zahlt.