Von Anfang an Europa


Von Anfang an Europa

I.) EUROPA UND DIE ALTEN GRIECHEN
 

Vielen Europäern fehlt etwas: Eine gute Geschichte von ihrem Kontinent. Es müsste eine Geschichte sein, die ihnen von ihren Vorfahren und deren historischen Taten berichtet. Sie müsste erzählen, was sie erreicht und wofür sie gekämpft haben. Sie dürfte ihre Niederlagen und Enttäuschungen nicht verbergen, Katastrophen und Verbrechen nicht verschweigen. Eine Erzählung müsste es sein, die die Europäer stolz auf ihre Vergangenheit macht und ihnen eine Identifikation für den Kontinent gibt, auf dem sie gemeinsam mit vielen anderen leben. Dieses europäische Narrativ müsste vor ihnen einen Kontinent entstehen lassen, dessen außergewöhnliche Vergangenheit ihr gutes Leben in der Gegenwart ermöglicht. Vielen Europäern fehlt nämlich die Erinnerung an die Leistungen, Niederlagen und Fehler ihrer Vorfahren, durch die sie über Sprachen, Nationen und Traditionen hinweg erkennen könnten, dass sie Zeugen einer Epoche des Friedens und Wohlstands sind. Das europäische Narrativ ist, trotz vieler Katastrophen, eine Erfolgsgeschichte, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Europäischen Union gefunden hat. Diese EU ist trotz ihres dringenden und großen Reformbedarfs das Ergebnis einer mehr als 2500 Jahre andauernden gemeinsamen Geschichte der Völker Europas. 

Eigentlich sollten die Europäer stolz auf mehr als 70 Jahre Frieden und stetig wachsenden Wohlstand für die Mehrheit der Menschen sein, aber viele von ihnen kritisieren lieber die EU als Fehlkonstruktion und Quelle aller Probleme. Ob es die Finanz- und Schuldenkrise ist, eine verfehlte Flüchtlingspolitik oder die angeblich gewollt herbeigeführte Masseneinwanderung – Schuld ist immer die EU. Kaum eine Verordnung aus Brüssel entgeht dem Vorwurf der Gleichmacherei der doch ansonsten so unterschiedlichen europäischen Nationen. Gemacht würden diese Gesetze von unfähigen Bürokraten und willfährigen Politikern, die nichts als ihre (viel zu hohen) Diäten im Sinn hätten. Anstatt sich um die Sicherung des Wohlstands der europäischen Völker und die Abschottung gegen Flüchtlingsströme aus aller Welt zu kümmern, seien sie mit nichts anderem beschäftigt, als mit einer ungebremsten Verordnungswut das Leben der Menschen zu reglementieren. Am Ende einer solchen Politik stehe dann der europäische Suprastaat, der alle nationalen Identitäten hinwegfegen und stattdessen einen europäischen Brei aus den unterschiedlichen Nationen formen wolle. 

Diese EU-feindliche Rhetorik wird von manch einem Massenmedium unterstützt, deren veröffentlichte Meinung aber lediglich eine Ansammlung von Behauptungen und Vermutungen ist. Diese Medien täuschen damit eine Realität vor, die von vielen dann auch als eine solche wahrgenommen wird. Selbsterfüllende Prophezeiungen sind bewährte Arbeitsmittel von Stimmungsmachern, die die EU verächtlich machen wollen. Der amerikanische Soziologe William Isaac Thomas formulierte Ende der 1920er Jahre eine Art Grundgesetz der Soziologe, indem er feststellte: „Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind diese auch in ihren Folgen wirklich.“ Diese Erkenntnis hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt. Wenn über die Europäische Union nur schlecht geredet wird, dann werden immer mehr Menschen der Meinung sein, dass sie wirklich schlecht ist. Würde man ihnen sagen, dass die EU unbedingt schützenswert und gut ist, dann wäre sie es auch! Die EU ist eine gute Idee mit Fehlern. Sinnvoll wäre es die Fehler der guten Idee zu korrigieren, anstatt die gute Idee wegen der Fehler zu verwerfen! 

1.) Griechische Mythologie 

Um aus dem unverdient schlechten Image der EU ein berechtigtes gutes Image zu machen, können wir uns auf jene „alten Griechen“ berufen, die im Dunstkreis Athens, in Attika lebten. Sie saßen nach der Mühsal ihrer täglichen Arbeit an Herd oder Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten über die Vergangenheit und die Heldentaten ihrer Vorfahren, die es gar nicht gegeben hat. Sie hatten nämlich irgendwann erkannt, dass sie nicht wussten, woher sie eigentlich kamen, wer ihre Vorfahren gewesen sind, wie sie gelebt und was sie gemacht haben. Sie rätselten darüber, warum sie selbst auf der Welt waren und wie das alles mit der Natur zusammenhing, die sie umgab. Eine derartige Spurensuche betrieb der Philosoph und Dichter Hesiod, der vermutlich im achten vorchristlichen Jahrhundert gelebt hat. Er verlegte den Gründungsmythos der Griechen in die Zeit der Schaffung des Universums und machte sie damit zum Ursprung der Menschheit. Die heutigen Europäer verdanken Hesiod, der hauptberuflich Ackerbau und Viehzucht betrieb, eine Erkenntnis, die er am Beginn seiner „Werke und Tage“ beschriebe hat. Er habe seine Nachforschungen betrieben, „damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist; besonders aber soll man Ursachen wissen, weshalb sie gegeneinander Kriege führten.“ Die britische Althistorikerin Edith Hall bezeichnet das als „bahnbrechendes Manifest“ für den europäischen Kontinent, auf dem immer schon viele unterschiedliche Völker auf engem Raum gelebt haben. Von Hesiod kennen wir auch den Mythos der „Büchse der Pandora“, die alle Krankheiten und Widrigkeiten des Lebens sorgsam umschloss. Als man sie öffnete, entwich das Schlechte in die Welt und machte sie zu einem finsteren Ort. 

Hesiod dachte sich eine Abfolge von Zeitaltern aus, denen er bestimmte griechische Mythen zuwies. Im „Zeitalter der Heroen“ fand der „Kampf um Troja“ statt, dessen bekannteste Helden Achilles und Odysseus waren. Auf der Suche nach dem Sinn ihres Daseins erzählten die antiken Griechen ihren Kindern derartige Mythen, wir könnten das heute in den zahllosen Talkshows tun, die allabendlich über die Mattscheibe flimmern. Die Geschichten der alten Griechen berichteten von Heroen, von Gefahren, denen sie ausgesetzt waren und von übermenschlichem Mut, mit dem dieselben überwunden wurden. Die Jungen sollten die Helden bewundern, ihren Taten nacheifern und den Wertevorstellungen widerspruchslos Folge leisten. Das Erzählen dieser Geschichten war ein Instrument der politischen Bildung, denn auf der mystischen Grundlage der eigenen Vorgeschichte entwickelte sich die Identität der  Griechen zu ihrem Land und zu ihrem Gemeinwesen. Die griechische Mythologie erzählt uns heute von der Ideologie der Griechen, von ihren Zielen und den Vorstellungen, wie die Welt zu ordnen sei. Für die Griechen der Antike fungierte die Mythologie als Erklärung ihrer Herkunft, ihrer Sitten und Überzeugungen – und das obwohl es nicht einen einzigen Griechen je gegeben hat, der in der „Ilias“ von Homer so blumig beschrieben wird. 

Heldensagen und Götterwelt 

In Ermangelung einer anderen Erklärung verknüpften die antiken Griechen ihre Helden auch gleich noch mit den Göttern und schufen so einen Zusammenhang zwischen dem Olymp, wo sie den Göttervater Zeus und seine Nachkommen vermuteten, und der Erde, wo sie von den Launen der Götter abhängig waren. Sie erklärten sich den Zusammenhang zwischen den Menschen und der Natur, indem sie für alles eine Gottheit kreierten: für das Meer, die Wellen und den Wind; für die Jagd; für die Fruchtbarkeit oder für das Kriegsglück. Diese Gottheiten galt es zu besänftigen, ihnen kultische Opfer darzubieten und sich ihren Urkräften zu unterwerfen. Die alten Griechen hofften, mit einer positiven Verbindung zu ihren Göttern würde ihr beschwerliches und äußerst karges Leben auf der Erde leichter werden. Gleichzeitig transportierten die Heldensagen die eigene Herkunftsgeschichte in die damalige antike Gegenwart. Die Götter mussten positiv gestimmt werden und den Helden sollte man nacheifern. Das Streben, es den Helden gleichzutun, erklärt vielleicht den ungeheuren Mut, mit dem die antiken Griechen Gefahren begegneten und sie oft siegreich überstanden. Die Nachwelt verdankt dem Literaten Homer die Geschichte des sagenumwobenen Kampfs um Troja und den Bericht über die Abenteuer des Odysseus. Auch dessen Geschichten waren reine Erfindungen, aber er war trotzdem Vorbild für Tausende junger Griechen. 

In ihrer Geschichte über „die alten Griechen“ beschreibt Edith Hall die Wirkung des Odysseus auf die antike Welt der Griechen. Er war ein „tüchtiger Allrounder“ mit genügend Hirn- und Muskelschmalz, um alle Abenteuer zu überstehen. Er war ein „begnadeter Redner und erstklassiger Krieger“. Odysseus war „listenreich“, ein „ausgezeichneter Navigator und Schwimmer, ein idealer Pionier, Grenzbewohner und Siedler.“ Ihn zeichnete „diplomatisches Geschick, Geduld und Selbstbeherrschung“ aus, zudem konnte er in nur vier Tagen ein Floß bauen „vom Baumfällen bis zum Segelmachen“ – welch ein Schiffszimmermann! Und als ob das nicht alles schon genug wäre, war er auch noch ein begnadeter Bauer, Experte für Weinanbau und ein überragender Sportler. Natürlich hat dieser Teufelskerl auch beim anderen Geschlecht einen Stein im Brett. Die beiden „übermenschlichen Frauen, Kalypso und Kirke“, haben eine Affäre mit ihm, während die Göttin Athene es bei einem Flirt belässt und ihre schützende Hand über ihn hält. Gleichwohl schließt ihn die nicht minder attraktive, aber treue Ehefrau Penelope nach langen Jahren des Wartens liebevoll in die Arme. 

Derlei Geschichten gibt es in der griechischen Mythologie viele, sie werden ergänzt durch Erzählungen über die Götter und deren Gewohnheiten. Beides zusammen war den antiken Griechen eine hinreichende Erklärung für ihr Dasein und gleichzeitig Ansporn, so zu handeln wie ihre ausgedachten Helden. Sie waren Basis ihrer Identität und Richtschnur ihres Lebens, das sie in deutlichem Unterschied zu anderen Völkern sahen. Die Griechen waren stolz auf ihre Vergangenheit und Herkunft, obwohl es beides nie gegeben hat. Aber diese nie dagewesene Vergangenheit schenkte ihnen Geschichten von heldenhaften Kriegern, die in Sieg und Niederlage Größe zeigten. So sehr die Geschichten auch Fantasyromane waren, sie boten ihnen doch das Gefühl eine erfolgreiche Vergangenheit zu haben. Die Sagenwelt beschrieb einen gemeinsamen Stammbaum und verband sie mit der ethisch und moralisch vorbildhaften Welt der Götter. Die Gründungsgeschichte der Griechen und ihre Verbindung zu den Göttern verknüpfte sich zu einem narrativen Sammelsurium, das ihnen Halt und Sinnerklärung des Lebens zugleich bot. Dieser Gedankenmix löste positive Einstellungen zu sich und ihrer Rolle in der langen Kette der griechischen Heroen aus. Und daraus speiste sich ihr Einsatz für etwas, was ihnen wichtig war: Freiheit und ihre Vorstellung von einem selbst bestimmten Leben. Die griechische Mythologie und die Götterwelt schufen ein politisches Klima, in dem sich Demokratie und individuelle Freiheit entwickeln konnten. Dieser ideologische Hintergrund der archaischen Griechen erklärt ihren ausgeprägten Sinn für die Unabhängigkeit des Einzelnen, den starken Drang nach Freiheit und dem kaum zu bändigenden Forscherdrang. Nicht nur in der Philosophie, sondern vor allem auch in den Naturwissenschaften haben antike griechische Forscher oft die Grundlagen der modernen Wissenschaften gelegt. 

Mindestens ebenso erstaunlich wie ihre wissenschaftlichen Leistungen ist der ungeheure Mut, mit dem sich die antiken Griechen allem entgegenstellten, was ihre Lebensordnung hätte zerstören können. Der österreichische Kulturphilosoph Egon Friedell hat die Geschichte Griechenlands als die eines „einzigen großen Verwandtenmordes“ bezeichnet und damit die Kriege zwischen griechischen Städten oder Städtebünden gemeint, die schließlich um 300 v. Chr. zum Ende der „klassischen“ griechischen Antike und zum Aufstieg Makedoniens unter Alexander dem Großen führten. Aber die Griechen zogen nicht nur gegeneinander in den Krieg, sondern verteidigten sich auch gemeinsam gegen den übermächtigen Feind aus Persien, der Griechenland mehrfach erobern und in sein eigenes Riesenreich integrieren wollte. 


2.) Griechen gegen Perser 

Diese „alten“ Griechen hatten eine vage Vorstellung von Europa. Sie kannten den Mythos des Göttervaters Zeus, der sich in einen Stier verwandelt, das Vertrauen der phönizischen Königstochter Europa gewinnt und mit ihr nach Kreta schwimmt, wo er  sie in eine hübsche junge Frau zurück verwandelt. Herodot, ein griechischer Historiker aus Bodrum, der im fünften Jahrhundert lebte und uns mit den „Historien“ ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, hatte ein Bild von Europa, das in groben Umrissen der Realität entsprochen haben dürfte. Herodot kannte von seinen ausgedehnten Reisen Teile Asiens, die nordafrikanische Küste und einen Ausschnitt des europäischen Kontinents. Für ihn und seine Zeitgenossen war Europa aber weniger ein geographischer Raum, als vielmehr eine Vorstellung von Werten und Idealen. Dieses Europakonzept entstand im Kontext einer dramatischen und fundamentalen Auseinandersetzung mit dem asiatischen Gegenteil dieser Werte. Herodot berichtet von dem Konflikt zwischen Griechen und Persern, deren Reich 500 v. Chr. eine Weltmacht war. 

Das damalige Reich der persischen Achämeniden reichte von der kleinasiatischen Küste gegenüber dem griechischen Festland bis zum Hindukusch, nach Indien, zum Kaspischen und zum Schwarzen Meer und zur afrikanischen Küste des Mittelmeeres einschließlich Syrien und Ägypten. 

Die sehr unterschiedlichen Städte zwischen Sparta als Metropole auf dem Peloponnes und Athen, der mächtigsten Stadt des griechischen Festlands, waren dagegen ein Nichts! Griechen und Perser waren über den ältesten griechischen Stamm miteinander verbunden. Die griechischen Ionier siedelten seit Jahrhunderten an der Küste Kleinasiens. Sie gerieten etwa 550 v. Chr. unter persische Herrschaft, nachdem das Lydische Reich von den Persern unterworfen worden war. Die Lydier lebten an der kleinasiatischen Mittelmeerküste in der heutigen Türkei und hatten aus nicht bekannten Gründen Mitte des sechsten Jahrhunderts einen Krieg mit dem persischen Reich angefangen. Nach anfänglichen Erfolgen mussten die Lydier sich geschlagen geben und den Status einer persischen Provinz akzeptieren. Nach diesem Krieg befanden sich die Ionier mit einem Mal nicht mehr auf lydischem, sondern auf persischem Gebiet und mussten dem persischen König immer höhere Tributzahlungen leisten. Das führte 499 v. Chr. zum Ionischen Aufstand, bei dem die Ionier von einigen griechischen Stadtstaaten unterstützt wurde. Der Aufstand endete 494 v. Chr. in einem Desaster. Das persische Heer fiel in der kleinen Hafenmetropole Milet ein und zerstörte sie vollständig. Aus der bedeutenden Handelsstadt des östlichen Mittelmeers, der Umschlagplatz für Rohstoffe und Lebensmittel gewesen war, machten die Perser einen Schutthaufen. Für die Griechen in Kleinasien und auf dem Festland war das eine traumatische Erfahrung, die bei ihnen das Gefühl von Rache auslöste. Die Zerstörung Milets leitete die Phase der Perserkriege ein, die die Griechen in den kommenden Jahrzehnten führten. 


Aber auch die Perser sannen auf Rache für die Unterstützung des Aufstands der Ionier durch die Griechen des Festlands. Dem Racheschwur folgte die Tat des persischen Königs Xerxes. Er hatte 486 v. Chr. am Totenbett seines Vaters Dareios I. geschworen, Griechenland zu erobern und zu unterwerfen. Kurz darauf brach er mit dem größten Heer der Antike auf, um Griechenland zu überrennen. 100.000 Kämpfer auf Pferden und zu Fuß marschieren Richtung Athen. Um schneller voran zu kommen, ließ Xerxes den nach ihm benannten Kanal durch die Halbinsel Athos stechen und zwei Brücken über den Hellespont und den Fluss Strymon bauen. Angesichts dieser Bedrohung, die augenscheinlich nicht nur eine Bestrafungsaktion wegen der Unterstützung der Ionier, sondern auch eine Eroberung Griechenlands sein sollte, schlossen sich Sparta und Athen zusammen. Das Orakel von Delphi, das vor wichtigen Entscheidungen immer bemüht wurde, hatte verkündet, man solle sich „hinter hölzernen Mauern verteidigen“. Was konnte das anderes bedeuten, als eine Seeschlacht mit Holzboten zu führen und für die Bevölkerung eine hölzerne Schutzmauer zwischen Athen und Piräus zu bauen. Also wurde beides gebaut. Die Schlacht gegen die Perser sollte vor der rund 10 Kilometer entfernten Hafenstadt Piräus geschlagen werden: in der Meerenge zwischen dem Festland und der Insel Salamis. 


Thermopylen und Salamis 

Die erste Schlacht dieses Krieges an den Thermopylen am Golf von Malta hatte ein Heer der Spartaner verloren. Die Griechen hatten daraufhin die Städte und Dörfer Attikas verlassen und schutzlos den Persern preisgegeben. Xerxes brachte in hohem Tempo seine Truppen über Theben nach Athen. Die furchteinflößende Flotte hatte er zwischen dem griechischen Festland und der Insel Euböa, an Marathon vorbei ins Ägäische Meer vor die Insel Salamis geschickt – in Sichtweite zu Piräus. Die Ansammlung kleiner Schiffe, die seinen eigenen deutlich unterlegen waren, dürfte Xerxes nicht geschreckt haben. Schnell setzte er seinen Vorstoß nach Athen fort, aber das Geschehen in der Meerenge von Salamis nahm einen unerwarteten Verlauf. Denn anders als gedacht, siegten 480 v. Chr. die Griechen in der Seeschlacht von Salamis, weil sie mit ihren eilig gebauten kleinen und wendigen Booten in der Meerenge besser manövrieren konnten als die schweren Schiffe der Perser. Diese Schlacht, die wohl eine der bedeutendsten Schlachten der Antike war, hat große Bedeutung für Europa. Für den Althistoriker Christian Meier war sie gar ein „Zentralereignis in der abendländischen Geschichte, das mithalf die Zivilisationsgeschichte Europas eigenständig gegen die des Ostens zu behaupten.“ 

Und tatsächlich hätte die Möglichkeit bestanden, dass im Falle eines Sieges der Perserkönig Xerxes, dem Zeitgenossen Größenwahn und brutalen Charakter attestierten, nicht nur Griechenland, sondern vielleicht auch die gerade entstandene römische Republik auf der italienischen Halbinsel eingenommen hätte. Dann hätte er auch einen Zugang zu Kontinentaleuropa gehabt und die Geschichte unseres Kontinents wäre möglicherweise anders verlaufen. Dann wäre Europa geographisch korrekt möglicherweise heute das westliche Ende Eurasiens und hätte eine gänzlich andere Geschichte erlebt. Ob Herodot diese weitreichenden Möglichkeiten in Erwägung gezogen hat, ist zweifelhaft. Aber er hat den Kampf der tapferen Griechen stilisiert zu einem Kampf der Guten gegen das Böse, der Demokratie gegen den  Despotismus. Es war für ihn ein Kampf der Kulturen, in dem die Freiheit gegen die Knechtschaft verteidigt wurde. Vielleicht war Herodot inspiriert vom wohl berühmtesten Arzt des Altertums, dem in seiner unmittelbaren Nähe auf der Insel Kos geborenen Hippokrates. Der hatte eine Klimatheorie aufgestellt, in der er den zwar aggressiven aber freiheitsliebenden Europäern die eher kriegsbegeisterten Asiaten gegenüberstellte, die angeblich eine ausgeprägte Neigung zu Tyrannei und Gewaltherrschaft hätten. Durch derartige Abgrenzungen wurde aus der Verteidigung der eigenen Werte zum ersten Mal eine Identifikation mit Europa. Herodot markiert im fünften Jahrhundert vor Christus anhand des Kampfes der Griechen gegen die Perser eine bis heute gültige kulturelle Trennlinie zwischen Europa und Asien, obwohl beide Regionen Teile eines Kontinents sind und die Wurzeln Europas tief nach Asien reichen. 

Das hätte Herodot auch erkennen können, denn von den 1.500 griechischen Poleis lagen nicht wenige in Kleinasien. Etwa 1.300 waren rund um Mittelmeer und schwarzes Meer angesiedelt. Athen und Sparta, die beiden Metropolen lagen zwar am Westufer der Ägäis und somit auf europäischem Boden, aber die ebenso bedeutenden Ansiedlungen Ephesos, Milet, Rhodos, Halikarnassos oder Troja befanden sich an der Küste der heutigen Türkei. Über die kleinasiatischen Ansiedlungen kamen Kontakte zu den Kulturen des Vorderen Orients zustande, die anders als Herodot uns erzählt, hochentwickelt waren und Erhebliches zur Entwicklung der frühen griechischen Zivilisation beigetragen haben. So aber hat sich ein Vorurteil in den Stammbaum Europas eingenistet, das sich in unterschiedlichen Formen immer wieder gezeigt hat: Das „gute“ christliche Europa gegen das „faule und niederträchtige“ Asien, das den Europäern eine andere Kultur und eine andere Religion überstülpen möchte. Herodot war der Meinung, dass die ersten, die das verhindert haben, die antiken Griechen waren. Mit kleinen Schiffen verteidigten sie die Anfänge unserer europäischen Welt gegen die – wie sie meinten - persische Despotie. 

Einen solchen Wagemut könnten auch die Europäer gebrauchen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Stattdessen ist die Union der europäischen Völker zur Zielscheibe von Ängsten und Sorgen geworden, deren Ursachen ganz woanders liegen. Die Furcht vor den Auswirkungen von neoliberaler Politik und Deregulierung der Märkte ist gewachsen. Immer deutlicher werden auch die Gefahren und Konsequenzen einer ungebremsten Globalisierung und Digitalisierung sichtbar. Sie können jeden Einzelnen treffen und sind bis in die sozial abgesicherte Mittelschicht hinein geeignet, Abstiegsängste auszulösen. Die von diesen Ängsten betroffenen Menschen sorgen sich um ihren Arbeitsplatz, um die Ausbildung ihrer Kinder, um ihre Alterssicherung und die Hypotheken, mit denen sie ihr Eigentum finanziert haben. Sie erwarten einerseits Hilfe von der EU und richten andererseits ihren Zorn gegen sie, weil sie sie für unfähig halten, die Auslöser ihrer Ängste wirksam zu bekämpfen. Immer mehr Menschen sehen stattdessen in der  „Politiker-Clique“ den Grund allen Übels. Viele von ihnen laufen zu denen über, die schnelle und radikale Abhilfe versprechen. Populisten in allen europäischen Ländern lenken diese Enttäuschung geschickt auf die vermeintlichen Übeltäter in Brüssel und riskieren damit den sozialen Frieden auf dem Kontinent. Es wäre gefährlich, diese europafeindliche Entwicklung nicht ernst zu nehmen. Die Vorstellung einer zerstörerischen Europäischen Union findet nicht nur unter den Anhängern von rechtsextremen, europafeindlichen Gruppierungen immer mehr Zuhörer, sondern auch bei denen, die aus anderen Gründen unzufrieden sind und einen Sündenbock brauchen. Dabei war und ist die Europäische Union genauso wie ihr Vorläufer die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein Friedens- und Wohlstandsgarant, wie ihn der Kontinent bis dahin nicht gekannt hat. 

3.) Sechs Merkmale für Europa 

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Kontinent nach Grundsätzen organisiert ist, die nirgendwo besser hinpassen als nach Europa. Diese besonderen europäischen Eigenschaften sind die DNA des Kontinents, sie sind hier erdacht, erkämpft und erstritten worden. Millionen Männer und Frauen gaben ihr Leben, um beispielsweise Parlamentarismus und Demokratie, Menschenrechte und Verfassungsstaaten in Europa zu etablieren. So reformbedürftig die Europäische Union auch ist, sie ist das Beste, was die Europäer in ihrer etwa 2500jährigen gemeinsamen Geschichte je hinbekommen haben. Anstatt diese Erkenntnis zu negieren, sollten wir es den antiken Griechen gleichtun und dadurch Identität und emotionale Bindung der Europäer zu ihrem Kontinent herstellen, dass wir ein positives Narrativ über die Geschichte unserer Vorfahren verfassen. 

Europa braucht eine solche positive Herkunftsgeschichte. Aber anders als die Griechen der Antike wissen wir sehr genau Bescheid über die Geschichte des europäischen Kontinents. Deshalb ist das europäische Narrativ keine Sage, sondern eine mit historisch belegbaren Tatsachen gestützte Erzählung eines beeindruckenden Kontinents. Mit Ausnahme der Balkankriege am Ende des 20. Jahrhunderts erlebt Europa seit 1945 die längste Friedens- und Wohlfahrtszeit ihrer Geschichte. Das liegt daran, dass Lehren und Konsequenzen aus der Geschichte Europas gezogen worden sind. Anders gesagt: Aus der Vergangenheit ist eine Gegenwart geworden, in der die Europäer nach Prinzipien leben, die originär europäisch sind und hier erdacht und erstritten wurden. 

Individuum und Demokratie 

600 Jahre vor der Geburt von Jesus von Nazareth stellte der griechische Reformer Solon den Menschen in den Mittelpunkt der Politik und schuf damit die Maxime, dass die Politik für das Individuum und nicht nur für eine bestimmte Gruppe Menschen Gesetze zu machen habe. Nach Solons Reformen konnte im antiken Athen niemand  mehr wegen Armut seine persönliche Freiheit verlieren. Solon beendete die Schuldknechtschaft, die bis dahin einen Bauern und seine Familie traf, wenn er Schulden an seinen Gläubiger nicht zahlen konnte oder der gepachtete Boden nicht genügend Ertrag abwarf. Damit bekam das Individuum einen höheren Stellenwert als die Forderung eines Gläubigers und die Würde des Menschen sollte durch wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht angetastet werden können. Das derart emanzipierte Individuum sollte darüber hinaus in einer Frühform unserer Demokratie durch ein abgestuftes Wahlrecht auch am Gemeinwesen teilhaben können. Das war der Beginn einer Entwicklung, die im 20. Jahrhundert in Deutschland zum Artikel 1 des Grundgesetzes führte, in dem klar und einfach festgestellt wird, die „Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die staatliche Gewalt ist verpflichtet, sie „zu achten und zu schützen.“ Dieses für alle Individuen geltende Menschenrecht ist die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“, lautet der Artikel weiter, dessen Kern eben auf jenen griechischen Reformer zurückgeht, der den sozialen Frieden in Athen hergestellt hat. 

Verfassung und Recht 

Der zweite Grundsatz des europäischen Kontinents ist das Zusammenspiel von Verfassung und Recht. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Staaten Europas ähnliche Verfassungen und Rechtsordnungen gegeben. An vielen Stellen lassen sich Verfassungs- und Rechtsprinzipien erkennen, die auf zwei Errungenschaften der römischen Antike zurückgehen. In der Magistratsverfassung, die etwa 300 vor Christus beschlossen wurde, finden sich sowohl das Prinzip der Annuität, wonach es keine politischen Ämter auf Lebenszeit geben kann, als auch das Prinzip der Kollegialität, durch die eine ständige Kontrolle ebenso sichergestellt wie der Aufbau von „Seilschaften“ verhindert wird. In der modernen amerikanischen Verfassung begründen derartige Verfassungsprinzipien das System von „Checks and Balances“. Dadurch wurde die amerikanische Demokratie zu einem politischen System von Ausgleichsmechanismen, die seit mehr als 230 Jahren ein zu starkes Gewicht für eine oder andere Seite verhindert. Das „corpus iuris civilis“ aus der Zeit des oströmischen Kaisers Justinian in der Mitte des sechsten Jahrhunderts ist eine der wesentlichen Grundlagen des europäischen Rechtssystems. Die römische Gesetzessammlung half den Kaufleuten in Venedig am Beginn des 16. Jahrhunderts ihren weltweiten Handel vertraglich abzusichern. Das „corpus iuris civilis“ war die Grundlage für den Code Civil der Zeit Napoleons oder für das preußische Allgemeine Landrecht, das in Deutschland erst durch das Bürgerliche Gesetzbuch am 1. Januar 1900 abgelöst wurde. 

Einheit und Vielfalt
Das dritte Prinzip lautet Einheit und Vielfalt. Als der fränkische König Karl, der 

gleichermaßen von Franzosen und Deutschen als „Stammvater“ angesehen wird, am 15 

ersten Weihnachtstag 800 zum römisch-deutschen Kaiser durch Papst Leo III. in Rom gekrönt wurde, begründete er einen Nachfolgestaat des untergegangenen weströmischen Reichs. Er schuf einen ersten europäischen Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währung und einem gemeinsamen Rechtsraum. Die „karolingische Renaissance“ entwickelte eine gemeinsame Schrift und sorgte für die Verbindung der mittelalterlichen Welt mit der Antike, indem die Texte der griechischen Philosophen und Wissenschaftler in der neuen Schrift, der karolingischen Minuskel, abgeschrieben wurden. Ohne diese Verlinkung mit der Welt der Griechen und Römer wäre das heutige Wissen um die Antike und ihre Schriftsteller sehr viel geringer. Karl ließ außerdem das Christentum verbreiten und schuf damit eine religiöse Verbindung der Menschen untereinander. Gleichzeitig akzeptierte er die Gesetze der unterworfenen Stämme, wenn sie nicht den Interessen des gemeinsamen Reichs entgegenstanden. Eine Hauptstadt des Frankenreichs gab es nicht. Karl ritt von einer Pfalz zur anderen und regierte dezentral. In den Jahrzehnten nach seinem Tod entwickelte sich daraus in der Osthälfte – etwa der heutigen Bundesrepublik – der Föderalismus. Während der Westteil – also das heutige Frankreich – der römischen Tradition folgte und das Land von Paris aus regierte: Die Keimzelle des Zentralismus. 

Glaube und Religiöse Toleranz 

Schon während der Endphase des römischen Reichs, spätestens aber seit Karl dem Großen spielte der christliche Glaube in Europa eine überragende Rolle. Es war ein langer und schmerzhafter Prozess, der viele Millionen Opfer gekostet hat, bis aus dem Glauben auch die religiöse Toleranz erwachsen ist. Glaube und religiöse Toleranz kennzeichnen den europäischen Kontinent, in dem neben dem Christentum auch andere Religionen staatlichen Schutz und die Garantie der ungehinderten religiösen Betätigung genießen. Bevor es soweit war, einte das Christentum die Menschen unter dem Kreuz des Herrn und führte sie einerseits in viele grausame Kriege gegen andere Religionen. Andererseits aber entwickelte diese „Universitas Christiana“ in Klöstern und Kirchen, in Schulen und Krankenhäusern auch das soziale Europa. Ohne die Barmherzigkeit vieler christlicher Frauen und Männer, ohne deren großes soziales Engagement hätte der europäische Kontinent heute ein anderes Gesicht – und keinesfalls ein besseres. Über viele Jahrhunderte haben die Europäer gedacht, Gott lenke die Welt und die Menschen und brauche dazu einen Stellvertreter auf der Erde. Jenem Stellvertreter Petri, also dem Papst, stand die weltliche Macht zur Seite, ohne die er schutzlos gewesen wäre. So bildeten Gott, Papst und Kaiser ein Dreieck und die europäische Christenheit fühlte sich in dieser Ordnung geborgen. Aber diese Dreieinheit des alles lenkenden Gottes, des segnenden Papstes und der schützenden weltlichen Macht hat in Europa und anderen Teilen der Welt für Abgrenzung und Unrecht gesorgt. Die frühen Christen wandten sich von den Juden ab, als diese einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit den Christengemeinden in Palästina und Syrien erwirkten. Christliche Prediger begegneten diesem Beschluss mit dem absurden  Vorwurf, „die Juden“ hätten Jesus ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Radikaler und gewalttätiger Antisemitismus war die Folge. 

Der Glaube grenzte die Christenheit auch vom Islam ab. Jahrhundertelang plünderten und brandschatzten ihre Heere den Nahen Osten, wo es galt, Jerusalem aus der Hand der Muslime zu befreien. Die Abwehr des Islam kennzeichnete auch die europäische Politik im 16. und 17. Jahrhundert, weil die Heere des Sultans Wien und damit ganz Europa bedrohten. Als Gegenmaßnahme wurde eine Militärgrenze zwischen Europa und Asien gebaut, die heute von Ungarn und Österreich gegen afrikanische Flüchtlinge wieder aktiviert worden ist. Der Konflikt zwischen Christentum und Islam bestimmt auch heute noch einen Teil der Politik und deutet an, dass viele Christen dann ihre religiöse Toleranz zurückstellen, wenn sie sich von einer anderen Religion bedroht fühlen. Wenn der türkische Präsident Tayyib Erdogan als Sultan bezeichnet wird, dann soll das eine bewusste Anspielung auf die Belagerung Wien im Jahr 1683 sein. Damals wie heute – so wird suggeriert – geht es um die Zukunft des christlichen Abendlandes. Und damals wie heute spielt es keine Rolle, ob das Schreckensszenario eines islamischen Übergriffs der Realität entspricht oder nicht. Dieser Konflikt, der die religiöse Toleranz der Europäer herausfordert, findet an der einzigen Landverbindung Europas mit einem anderen Kontinent statt. Der Rest des Kontinents ist von Wasser umgeben und eignet sich bestens zur Definition einer eigenen Identität, der Südosten aber ist das Einfalltor für fremde Einflüsse, Religionen und Kulturen – das wurde und wird tendenziell als bedrohlich angesehen. 

Krieg und Diplomatie 

Europa war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts der Kontinent der Kriege. Aber am Ende von Kriegen musste Frieden geschlossen werden, der allen am Krieg beteiligten Staaten ein Überleben ohne Gesichtsverlust ermöglichen sollte. Das zu lernen, war ein schwieriger Prozess. Als es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahezu ununterbrochen Krieg gegeben hatte, begann 1648 beim Westfälischen Frieden die Diplomatie ihre bisweilen glänzende Karriere. Zum ersten Mal wurden Konfliktfelder voneinander getrennt und nach Lösungen gesucht, die sich nicht gegenseitig blockierten. Themen, die man nicht lösen konnte, wurden auf nachfolgende Konferenzen vertagt und später behandelt. Nur so war es möglich, ein Knäuel von vielen unterschiedlichen Problemen erst zu entwirren und dann zu lösen. So wurde auch beim Versailler Vertrag verfahren, der nur zu einem Teil dort verhandelt und unterschrieben wurde. Die übrigen Verträge heißen nicht umsonst „Vorort-Verträge“. Sie wurden in unterschiedlichen Pariser Vororten zum Teil erst 1923 unterzeichnet. Die europäische Diplomatie krönte sich selbst mit dem KSZE-Prozess, der am 1. August 1975 mit der Schlussakte von Helsinki das Ende des Kalten Krieges einläutete. Heute scheint die Diplomatie angesichts martialisch und rechthaberisch daherkommender Regierungschefs den Kürzeren zu ziehen. Langfristig aber wird sich  dieses Prinzip durchsetzen, weil die Erkenntnis, dass alles besser ist als Krieg, universelle Gültigkeit besitzt. 

Nationalismus und Nation 

Viele Jahrhunderte wurde Europa durch große und kleine Monarchien geprägt. Ihre Regenten herrschten bisweilen absolutistisch und von „Gottes Gnaden“. Nicht selten krönten sich narzisstische Persönlichkeiten selbst und schenkten anschließend den Wünschen oder gar Rechten ihrer Untertanen keine Beachtung. Die Befreiung von diesen Regentschaften erhofften sich die Europäer im 19. Jahrhundert durch die Errichtung von Nationalstaaten. Der Nationalismus symbolisierte ihre Sehnsucht nach Freiheit. Die Nation war Kristallisationspunkt der Suche nach Selbstbestimmung und einer Monarchie, die an eine liberale Verfassungen gebunden war. Beides hat den europäischen Kontinent nachhaltig beeinflusst. Heute wird suggeriert, mit der Rückkehr der Nationalstaaten kämen auch Sicherheit und Selbstbestimmung zu den Völkern zurück. Dabei übersehen die Befürworter dieser Renationalisierung, dass der ursprüngliche Grund für die europäischen Nationalbewegungen nicht mehr vorhanden ist: Es gibt keine despotisch regierenden Herrscher mehr, von deren Herrschaft sich eine unterdrückte Bevölkerung befreien müsste und deswegen hält das Konzept der Renationalisierung Europas keine Antworten auf globale Probleme des 21. Jahrhunderts bereit. 

Einer Renationalisierung steht auch die Erkenntnis entgegen, dass einige Nationalstaaten Urheber schweren Unrechts waren. Europas Großmächte und Nationen hatten über einen langen Zeitraum die Welthegemonie inne. Europäische Politik und Kultur verteilten sich über den Erdball. Auf dem europäischen Kontinent fielen Entscheidungen, die in anderen Teilen der Welt Konsequenzen nach sich zogen. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts beherrschten Europäer die Welt – in Gutem wie im Schlechten. Die Kolonialmächte ließen in ihren Kolonien die Ureinwohner für sich arbeiten oder rotteten sie aus, sie plünderten die Bodenschätze und kauften oder verkauften ganze Länder, wie es ihnen in den politischen Kram passte. Vom afrikanischen Kontinent ließen sie kaum einen Quadratkilometer übrig, der nicht einer europäischen Kolonialmacht gehörte. Die Folgen dieses Unrechts kann man bis heute erkennen. 

Aber auch im Inneren gehört Unrecht zur DNA der europäischen Nationen. Die Verfolgung Andersdenkender durch Inquisition und Scheiterhaufen oder antijüdische Pogrome bis zum Holocaust waren Kennzeichnungen schweren Unrechts, das im Inneren des europäischen Kontinents verübt wurde. Jahrzehntelang brannten in Europa die Scheiterhaufen, deren Flammen Häretiker, Juden, Hexen oder missliebige Personen Millionenfach vernichteten. Insbesondere der Zivilisationsbruch, den das nationalsozialistische Deutschland mit dem millionenfachen Mord an den Juden begangen hat, ist als deutscher Anteil in diese DNA eingebrannt.  Trotz dieser Unrechtsepochen, trotz Katastrophen und einer oftmals endlosen Kette von Kriegen haben die Europäer keinen Anlass, die Europäische Union grundsätzlich in Frage zu stellen, aber sie tun es doch. Anstatt mit einer positiven Geschichte den Kontinent als Hort der Vernunft und des Friedens zu preisen, wird die EU in Grund und Boden kritisiert und schlecht gemacht. Wir Europäer haben es geschafft, ein System friedlicher Konfliktregelung zu installieren, obwohl nirgendwo sonst auf der Welt, so viele unterschiedliche Staaten auf so engem Raum existieren wie in Europa. Wir haben die zwischenstaatlichen Beziehungen verrechtlicht, Konflikte werden nach Buchstaben von Verträgen und Abkommen geregelt, wir haben ein von allen akzeptiertes internationales Rechtssystem etabliert und wir haben die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt unseres Handelns gestellt. Ist das nichts? Zweifellos ist die Europäische Union dringend reformbedürftig. Wenn man sie aber Jahre lang schlecht redet und kein gutes Haar mehr an ihr lässt, dann wird sie in der Vorstellung der Betrachter auch irgendwann schlecht sein. Das sollten wir schleunigst aufgeben und ein positives Narrativ über unseren Kontinent verbreiten - er hat es verdient. Und dabei können wir uns ein Beispiel an den „alten Griechen“ nehmen, denen wir vermutlich unsere Existenz verdanken und bei denen unsere Reise durch die Geschichte Europas auch beginnt.