Edelweißpiraten in Köln
Edelweißpiraten in Köln
Mit diesem Buch fing alles an und es war ein Produkt des Zufalls, oder soll ich sagen, eine Folge meiner Unzuverlässigkeit. Ich war zu spät in einem Hauptseminar zum Thema „Widerstand im Dritten Reich“. Es sollte der letzte für mein Staatsexamen noch fehlende Schein werden, zu dem ich aber eine Hausarbeit anfertigen musste. Als ich – wie gesagt, zu spät gekommen – etwas ratlos vor meinem späteren Doktorvater Prof. Günter Wollstein stand und ihn nach einem Thema für die Hausarbeit fragte, beschied er mich mit der lapidaren Antwort, dass alle Themen vergeben seien. Ich wollte gerade umdrehen, als ich etwas zaghaft fragte, ob ich ihm denn in der nächsten Sitzung ein eigenes Thema vorschlagen dürfe. Er bejahte und meine Laune hob sich beträchtlich.
Der Beginn des Wintersemesters 1978/79 war im Oktober und kurz danach las ich von einer Demonstration zu Ehren von jugendlichen Widerstandskämpfern, die sich im Dritten Reich „Edelweißpiraten“ genannt hatten. Einige von ihnen waren am 10. November 1944 vor den Augen einer schaulustigen Menge von der Gestapo öffentlich erhängt worden. Nachdem ich bei der Demonstration war, hatte ich mein Seminarthema, das auch angenommen wurde. Aber es wurde mehr als das. Es war meine Eintrittskarte in den spannenden Beruf des Journalisten und Historikers, der sich fortan an der Scharnierstelle zwischen Geschichtswissenschaft und einem interessierten Publikum für mich auftat: Radio, Fernsehen, Bücher, Zeitungsartikel, Internet und schließlich Podcasts. Dabei hat mir dieses Buch auch jede Menge Ärger eingebracht. Neben dem Vorwurf ein von der DKP – der kommunistischen Partei Deutschlands – gesteuerter Auftragsschreiberling zu sein, musste ich anhören, ich entwendete Akten aus Archiven, um sie anschließend meistbietend zu verkaufen. Als der Vorwurf der linksextremen Interessenssteuerung nicht mehr reichte, wurde ich kurzerhand zu einem von Rechtsextremen finanzierten Möchtegern-Historiker gemacht. Manchen dieser Vorwürfe musste ich gerichtlich begegnen, anderes habe ich auf sich beruhen lassen.
Im Kern drehte sich der Streit um die Frage, was die Edelweißpiraten in Ehrenfeld gemacht haben und wie man dieses Verhalten zu bewerten habe: Als widerständige Handlungen oder als Kriminalität. Es war schwierig, bei dieser Frage eine gemeinsame Antwort zu entwickeln, weil keine Seite bereit war, der anderen Glauben zu schenken. Daraufhin verstiegen sich einige dazu, den Jugendlichen die Zugehörigkeit zu den Edelweißpiraten abzusprechen. Dadurch – so die Absicht – sollte das Ansehen der „tatsächlichen“ Edelweißpiraten, von denen es an Rhein und Ruhr viele gegeben hat, in Ehren gehalten werden. Mitunter wurde es auch gewalttätig, manche meiner Veranstaltungen musste unter Polizeischutz stattfinden. All das waren die unappetitlichen Begleiterscheinungen einer Diskussion, die nicht nur aber zuerst in Köln geführt wurde: Gab es Widerstand oder unangepasstes Verhalten der „normalen“ Bevölkerung im Dritten Reich? Bekamen die vielen Tausend
Zwangsarbeiter, die in den Städten untergebracht waren, Hilfe von der Bevölkerung? Gab es 1944 in Zeiten der totalen Katastrophe eines totalen Kriegs noch so etwas wie Menschlichkeit und nachbarschaftliche Hilfe oder kämpfte jeder für sich allein ums Überleben? Und schließlich: War das Verhalten der fünf Jugendlichen in dem schwer zerbombten Kölner Stadtteil Ehrenfeld nun kriminell oder Ausdruck von widerständigem Verhalten?
Ich habe immer die Auffassung vertreten, es war von jedem etwas dabei. Den überzeugten Nazis konnte man nur im Stillen oder mit Gewalt begegnen, eine öffentliche Auseinandersetzung konnte es unter den Bedingungen einer Diktatur nicht geben. In diesem Zusammenhang hat die Ehrenfelder Gruppe, zu denen auch Erwachsene gehört haben, die schon in der Weimarer Republik straffällig geworden waren und somit das Attribut „Widerstandskämpfer“ für sich nicht in Anspruch genommen haben dürften, ein herausragendes Beispiel geliefert: In den Kellerräumen einiger zerstörten Häuser wurden zwei jüdische Frauen über mehrere Tage versteckt und mit Lebensmitteln versorgt. Drei Wochen nachdem die Mitglieder der Ehrenfelder Gruppe hingerichtet worden waren, zitierte der leitende Ermittler, Kriminalkommissar Kütter, die beiden Frauen Ende November 1944 zu sich und fragte, ob sie für die Unterbringung Geld bezahlt hätten. Die Antwort: sie hätten es versucht, aber man habe das Geld nicht angenommen. Welchen Beweises bedarf es noch, um zu erkennen, dass bei aller Kritik an einzelnen Verhaltensweisen, zumindest hier ein edles Motiv bei den hingerichteten Mitgliedern der Ehrenfelder Gruppe aufscheint.
Den beiden Frauen hat es leider nichts genützt, sie wurden in das Lager für „Halbjuden“ gesteckt und kurz danach auf einen Todestransport geschickt.
Inzwischen sind Jahrzehnte ins Land gegangen, aber es vergeht kaum ein Jahr, ohne dass ich mit dem Thema konfrontiert werde. Die „Kölner Kontroverse“ hält an, immer wieder versuchen sich Hobbyhistoriker, Polizisten und andere daran, die Deutungshoheit über die Geschehnisse des Jahres 1944 zu erlangen. Ich hoffe nicht, dass es ihnen gelingt, denn eine pauschale Bewertung der Gruppe in „Widerstand“ oder „Kriminalität“ verbietet sich. Die Ereignisse spielten sich in einer „Gesellschaft in der Katastrophe“ ab, wie es der Historiker Bernd Rusinek treffend bezeichnet hat. Da ist es schwierig, Verhaltensweisen als kriminell abzutun, nur weil sie es heute zweifellos wären.