1848 - In 48 Kapiteln | erscheint im oktober 2022

1848 - In 48 Kapiteln | erscheint im oktober 2022

Von Philadelphia bis Wien 1776 – 1815

 

Die Geschichte der Revolutionen in Europa, von denen die Deutsche Revolution von 1848 eine war, begann eigentlich Ende des 18. Jahrhunderts im Nordosten des amerikanischen Kontinents. Dort hatten sich englische Siedler niedergelassen und im Auftrag ihres Königs dreizehn Kolonien gegründet. Um diese und viele andere Kolonien ging es zwischen 1756 und 1763 im „Siebenjährigen Krieg“. Er wurde zeitgleich in Mitteleuropa, Portugal, Nordamerika, Indien, in der Karibik und auf den meisten Weltmeeren ausgetragen. Frankreich und England waren darin verwickelt, weil beide um die koloniale Vormachtstellung in der Welt kämpften. Am Ende dieser globalen Auseinandersetzung, die mitunter auch „Erster Weltkrieg“ genannt wird, standen Frankreich und England vor einem Staatsbankrott. Die britische Krone wollte durch eine Besteuerung von Waren für die Kolonisten einen Teil der Kosten für deren militärischen Schutz decken, löste damit aber einen Aufstand in den Kolonien aus, der am 16. Dezember 1773 zur „Boston Tea Party“ und zum Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs führte. 

 

Als die Delegierten der dreizehn britischen Nordamerika-Kolonien in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania am 4. Juli 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten und sich damit von der britischen Krone lossagten, schrieben sie Geschichte. Denn zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurden bürgerliche Rechte und Freiheiten formuliert und garantiert: „Alle Menschen sind gleich geschaffen, der Schöpfer hat ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“[1] gehören. Diese unveräußerlichen Rechte finden sich in der französischen „Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“[2] vom 26. August 1789 ebenso wieder wie in dem von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen Katalog der „Grundrechte des Deutschen Volkes“[3] vom 27. Dezember 1848. Diese Verfassungen waren von den Gedanken der europäischen Aufklärung inspiriert. Jene geistesgeschichtliche Entwicklung hat rationales Denken und wissenschaftliches Erforschen dem Glauben an eine göttliche Schöpfung der Welt entgegengestellt. Mit dem neuen Denken rückten die Menschen und ihre Rechte in den Mittelpunkt des Interesses. Im Rückgriff auf die frühen Humanisten, die die Philosophie der griechischen Antike wieder entdeckt hatten, sollte der „Mensch das Maß aller Dinge“ sein. 

 

Die Aufklärer propagierten rationales Denken und forderten, jeden einzelnen Menschen in die Lage zu versetzen, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Auf die Frage, was denn eigentlich die Aufklärung sei, antwortete der Königsberger Philosoph Immanuel Kant 1784, „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Der Mensch, so Kant weiter, solle sich also seines Verstandes bedienen, um der Unmündigkeit zu entkommen. Absolutistische Herrscher des ausgehenden 18. Jahrhunderts schreckten angesichts solcher Aufforderungen hoch, denn ihre Herrschaft basierte auf dem Gegenteil des von Immanuel Kant geprägten Anspruchs der Aufklärung. Zwar war das neue Denken anfangs auf intellektuelle Zirkel beschränkt, aber aufhalten ließ es sich nicht mehr. 

 

In dieser Situation war nicht nur die britische Staatskasse wegen der vielen Krieg geplündert, sondern auch die französische. König Ludwig XVI. hatte die amerikanischen Aufständischen um George Washington gegen England unterstützt. Das französische Kalkül zielte auf eine globale Schwächung des Konkurrenten England und eine Stärkung der eigenen Position in Nordamerika ab. Dem Rivalen England eine Niederlage in Nordamerika beizubringen, war dem französischen König wichtiger als die eigenen Staatsfinanzen. Als Ergebnis des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs verlor England 1783 seine dreizehn nordamerikanischen Kolonien und Frankreich war nun endgültig bankrott. Zur Konsolidierung der Staatsfinanzen wollte der französische König Steuern und Abgaben erhöhen, musste sich dafür aber die Zustimmung der Generalstände einholen. Diese Generalstände repräsentierten den Adel, den Klerus und das Bürgertum und waren zuletzt 1614 nach Paris eingeladen worden. Die Versammlung der Generalstände widersprach zwar dem absolutistischen Amtsverständnis des französischen Königs, aber für Steuererhöhungen brauchte Ludwig XVI. die Zustimmung der Generalstände. 

 

Für den König war die Versammlung der Generalstände reine Formsache, zu der er per Gesetz verpflichtet war. Aber die Delegierten machten am 9. Juli 1789 aus ihrer Versammlung eine Verfassungsgebende Nationalversammlung und lösten damit die Französische Revolution aus. In den nächsten Wochen wurden die Monarchie gestürzt, die erste Französische Republik ausgerufen und der Revolutionsdreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ über Europa ausgerufen. Wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Verfassung von 1787 war auch die Französische Revolution eine Folge der Aufklärung. Nahezu wortgleich zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stellte die französische Nationalversammlung dies am 26. August 1789 mit der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ auch unter Beweis. Das Postulat der Gleichheit der Menschen und ihrer unveräußerlichen Rechte wurden in die französische Verfassung aufgenommen: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern.“ Damit waren zum ersten Mal in Europa die universell gültigen Menschen- und Bürgerrechte formuliert, auf die sich rund 60 Jahre später auch die Revolutionäre in Deutschland berufen sollten. 

 

Die Befreiung des Menschen aus den Zwängen absolutistischer Herrscher, die Trennung von Kirche und Staat und die Gültigkeit der Menschenrechte – diese Ziele unterstützten die meisten Europäer. Die Ideen der französischen Revolutionäre von einem starken Parlament, dem Ende des Absolutismus, dem Zurückdrängen des kirchlichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft und die von den französischen Revolutionären durchgesetzte Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Glaubensfreiheit machten vor keinem europäischen Land Halt. Die Vorstellung einer konstitutionellen Monarchie, in der der Herrscher an eine vom Parlament kontrollierte Verfassung gebunden war, traf auf nahezu ungeteilte Zustimmung, weil viele Bürger eine Veränderung der Verhältnisse wollten. Das 19. Jahrhundert war folgerichtig gekennzeichnet vom „Nation Building“, in dem zwischen 1830 und 1871 in Griechenland, Belgien, Frankreich, Deutschland und Italien konstitutionelle Monarchien entstanden. Aber die Entstehung der Nationalstaaten war begleitet von heftiger Gegenwehr des „Ancien Régime“. Beim Wiener Kongress 1814/15 hatten sich die „alten“ Monarchien Europas zu einem antirevolutionären Schutzbündnis zusammengeschlossen. Sie beriefen sich dabei auf ihre angeblich von Gottes Gnaden übertragene Macht und versicherten sich gegenseitigen Beistand, wenn ihre Macht durch Revolutionen ins Wanken geraten würde. Nationalen Bewegungen, die es überall in Europa gab, sagten sie den Kampf an. Mit der rigorosen Verfolgung Andersdenkender und Inhaftierung von Anhängern der nationalen Opposition in Deutschland läuteten sie das Zeitalter der Restauration ein, mit der die Machtverhältnisse der Zeit vor der Französischen Revolution wieder hergestellt und langfristig abgesichert werden sollten. 

 

Der Wiener Kongress hatte einerseits den Charakter einer „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, weil die Großmächte gemeinsame Verantwortung für Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent übernahmen. Andererseits verbarg sich hinter den Beschlüssen des Kongresses enorme Sprengkraft, deren Wirkung dramatisch unterschätzt wurde. Die nationalen Bewegungen in Europa waren mit den Ergebnissen des Kongresses nicht zufrieden und machten daraus auch keinen Hehl. Je länger der Zustand andauerte, desto mehr begehrten diese Bewegungen auf – erst in Belgien und Griechenland, dann in Polen und Deutschland und schließlich in Italien. In Deutschland empörten sich Angehörige der nationalen Opposition wie der Philosoph und Staatmann und spätere Gründer der Berliner Universität Wilhelm von Humboldt darüber, dass in Wien „kein Funken Gefühl für Deutschland“ zu spüren gewesen sei. Frankreichs Kalkül eines „Kleindeutschland“ ging durch die Gründung eines Deutschen Bundes unter preußischer und österreichischer Führung zunächst ebenso auf, wie sich Russlands Hoffnung erfüllte, eine weitere Großmacht verhindert zu haben, die sich gegen russische Interessen wenden könnte. Für den russischen Zaren Alexander I. war damit der Weg frei zu einer autoritären Herrschaft in Polen, das vom Wiener Kongress zwar wieder „hergestellt“, aber unter russische Hegemonie gestellt worden war. Die kleineren europäischen Völker hatten ohnehin grundsätzliche Bedenken gegenüber einem großen, ökonomisch wie militärisch mächtigen Deutschland. Für England zählte hingegen nur, dass Deutschland, egal wie es im Inneren organisiert sein würde, Russland im Osten und dem Erzrivalen Frankreich im Westen die Stirn bieten würde. Auf dieser Grundlage war 1815 die Gründung eines deutschen Gesamtstaates nur gegen den Willen der europäischen Mächte zu realisieren und deshalb utopisch. 

 

Darüber waren die Anhänger der deutschen nationalen Bewegung enttäuscht, weil sie sich von einer europäischen Nachkriegsordnung einen gemeinsamen deutschen Nationalstaat erhofft hatten. Aber die fünf Großmächte Frankreich, England, Preußen, Russland und Österreich einigten sich stattdessen auf die Gründung eines Deutschen Bundes. Dieser Bund verhinderte die Entstehung eines geeinten deutschen Staates und garantierte den Großmächten auch weiterhin politischen Einfluss auf die deutschen Länder in der Mitte des Kontinents. In Artikel 11 der „Deutschen Bundesakte“ vom 8. Juni 1815 wurde geregelt, dass sich die „Mitglieder des Bundes versprechen, sowohl ganz Deutschland als auch jeden einzelnen Bundesstaat gegen jeden Angriff in Schutz zu nehmen und ihre Besitzungen sich gegenseitig zu garantieren“. Keines der Mitglieder durfte „einseitig Waffenstillstand oder Frieden schließen“ und keine „Verbindungen eingehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Staaten gerichtet wären.“[4] Damit war zwar einerseits ein Sicherheitsnetz über die Mitglieder des Deutschen Bundes gezogen, aber jede Veränderung von Grenzen im Inneren des Bundes war damit genauso ausgeschlossen wie die gewaltlose Gründung eines deutschen Nationalstaates. 

 

Die europäischen Großmächte wollte den Status Quo vor der Französischen Revolution festschreiben und wenn nötig mit Gewalt aufrechterhalten. Deutschland war vor 1789 in viele kleine Territorien aufgeteilt und sollte es – wenn auch in einem gemeinsamen Bund vereint – nach 1815 bleiben. Das war weniger ein antideutsche, sondern vor allem eine antirevolutionäre und antinationale Politik der Großmächte. Sie garantierten zwar den Deutschen ihre Existenz in der Mitte Europas, verhinderten aber gleichzeitig einen deutschen Nationalstaat, der aller Voraussicht nach im Konzert der Großmächte eine ernstzunehmende Rolle gespielt hätte. Die Konsequenz dieser Politik zeigte sich rasch: Die Mitte des Kontinents war unruhig. In Polen und Deutschland waren die nationalen Töne nicht mehr zu überhören, Griechenland und Belgien strebten das Ende der osmanischen bzw. niederländischen Herrschaft an und aus Italien waren bald die Töne des Risorgimento nicht mehr zu überhören. 


[1] Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten gegeben im Kongress am 4. Juli 1776 (in einer Übersetzung aus dem Jahr 1849: www.verfassungen.net
[2] Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: www.conseil-constitutionnel.fr 
[3] Die Grundrechte des deutschen Volks vom 27. Dezember 1848: www.documentarchiv.de
[4] Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815: www.documentarchiv.de