Betrogene Generation


Betrogene Generation

 

Das Thema „Jugend im Nationalsozialismus“ hat mich viele Jahre begleitet. Waren es anfangs meine Altersgenossen, deren Verhalten in Zeiten einer Diktatur mich interessierte, kamen später weitere Aspekte hinzu, die eine Beschäftigung mit der Jugend im Dritten Reich sinnvoll machten. Warum erlagen die Jungen den „Verführungen“ des faschistischen Staates, mit welchen Angeboten lockten die braunen Machthaber die Kinder und Jugendlichen weg von ihren Eltern und hin zu „Hitlerjugend“ und „Bund deutscher Mädel“. Wie konnte es passieren, dass junge Leute stundenlang freiwillig und ganz offensichtlich begeistert in Reih und Glied marschierten, um irgendeinem der Parteioberen die „Ehre“ zu erweisen? 

Und andersherum, was waren die Gründe für jene jungen Menschen, die ausscherten und nicht mitmachten. Woher kamen sie, welche Motive hatten sie und was wollten sie erreichen. Warum haben sie so viel Risiko auf sich genommen, „nur“ um am Wochenende wandern und zelten zu können, ohne von der HJ überwacht zu werden. Jugendliches Leben unter den Bedingungen der Diktatur interessierte auch meinen Mentor Arno Klönne. Er war Professor an der Uni in Paderborn und ein Sozialwissenschaftler und Historiker von Rang. Wir haben uns bei unzähligen Treffen im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein kennen- und schätzen gelernt. Irgendwann entstand die Idee, die vielen Dokumente, die wir von staatlichen Stellen und von verfolgten Jugendlichen gesammelt hatten, zu veröffentlichen.  Herausgekommen ist eine Sammlung von 136 Dokumenten, die das Leben der jungen Generation während des Nationalsozialismus abbilden - soweit Dokumente das können. Dabei stellte sich heraus, dass der totalitäre Staat versuchte, wie in anderen Lebensbereichen auch, den Alltag der Jungen und Mädchen zu beherrschen. Sie sollten nur eine „organisierte Freiheit“ bekommen, die in Wahrheit das Gegenteil war: die totale Unfreiheit. Das begann in Schule und Elternhaus, ging weiter in der Zeit als „Pimpf“ oder „Hitlerjunge“ und mündete in einer Aneinanderreihung von Arbeitsdienst, Wehrpflicht und Militärdienst. „Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben“, hat Adolf Hitler gesagt und damit fataler Weise Recht behalten.  Aber das war nur die eine Seite. 

Die andere beleuchtete das Leben der Widerständigen. Sie sonderten sich ab, waren nur noch zum Schein oder um Ärger zu vermeiden in der Hitlerjugend und begaben sich in eine innere Emigration. Andere begannen mit zunehmender Dauer des Krieges Kritik an der Regierung zu üben, fühlten sich verfolgt und unterdrückt, weil ihnen untersagt wurde, ihre Freizeit eigenständig zu gestalten. Die Situation eskalierte. Während auf der einen Seite immer mehr Jugendliche renitent wurden, rüstete auf der anderen Seite der Staat auf. Mit dem Hitlerjugend- Streifendienst, der gegen Ende des Regimes quasi polizeiliche Vollmachten hatte, jagten Jugendliche aus dem einen Stadtteil Jugendliche aus einem anderen Stadtteil. 

Viele junge Leute wurden festgenommen, manche landeten vor dem Volksgerichtshof und mussten langjährige Haftstrafen absitzen. Andere nahmen Waffen in die Hand und lieferten der Staatsmacht bürgerkriegsähnliche Gefechte. In Köln-Ehrenfeld endete das Mitte November 1944 für fünf 16 und 17 Jahre alte Jugendliche, die Kontakt zu den Edelweißpiraten hatten, am Galgen einer öffentlichen Hinrichtung. 

Der NS-Staat musste mit zunehmender Dauer seiner Existenz immer mehr Aufwand betreiben, um die abweichenden Jugendlichen unter Kontrolle zu halten. Dieser personelle, bürokratische und auch finanzielle Aufwand fehlte an anderer Stelle. Deshalb trugen die Auseinandersetzungen, die sich in den letzten beiden Jahren des Regimes in nahezu jeder größeren deutschen Stadt abspielten, etwas zum Untergang des Dritten Reiches bei.