Ein Leben gegen den Strom


Ein Leben gegen den Strom

„Damit nicht alles vor die Hunde geht...“ 

Anfänge in der Bundesrepublik 1945 - 1955 

Im März 1945, als Köln von amerikanischen Truppen befreit wurde, lag die Stadt buchstäblich in Schutt und Asche. Teile der Altstadt waren zu mehr als 90 Prozent durch das alliierte Bombardement zerstört. Aus den Ruinen einer untergegangenen Zivilisation ragte mahnend der Dom heraus – die alliierten Bomberpiloten hatten das ehrwürdige Gotteshaus als Zielpunkt genutzt und deshalb einigermaßen unversehrt gelassen. Das öffentliche Leben war zusammengebrochen, die Menschen damit beschäftigt, ihr Überleben für die kommenden Tage zu organisieren. Es fehlte an allem und eine Aussicht auf Besserung konnten selbst die größten Optimisten nicht haben – zumal der Krieg in anderen Landesteilen noch keineswegs beendet war.  Mit den einrückenden Amerikanern kam auch der gerade 25 Jahre alt gewordene Mike Jovy als „Special Investigator“ der US-amerikanischen Militärregierung, die die Geschicke der Stadt bis Juli 1945 zu verantworten hatte, nach Köln. Er hatte turbulente Jahre hinter sich. Wegen „bündischer Umtriebe“ war er früh mit dem „Hitlerjugend-Streifendienst“ in Konflikt geraten, 1936 folgte die erste Festnahme. Damals war es noch glimpflich abgegangen, weil man ihm nichts nachweisen konnte. Drei Jahre später sah das anders aus, denn die Anklage vor dem Volksgerichtshof lautete „Vorbereitung zum Hochverrat“. In der Anklageschrift des Oberstaatsanwalts las sich der Vorwurf so: 

„Den Angeklagte Michael Jovy (...) klage ich an, vom Sommer 1938 bis zum Sommer 1939 im In- und Ausland fortgesetzt gemeinschaftlich miteinander und mit Anderen das hochverräterische Unternehmen, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt die Verfassung des Reiches zu ändern, vorbereitet zu haben, wobei die Tat darauf gerichtet war, zur Vorbereitung des Hochverrats einen organisatorischen Zusammenhalt herzustellen und aufrechtzuerhalten.“  Von den letzten sieben Jahren hatte Mike mehr als vier in Gefängniszellen verbracht (davon zwei Jahre in Einzelhaft), einige Monate im Bewährungsbataillon 999 überlebt und schließlich als Angehöriger eines Spähtrupps mit gezogener Pistole einen Unteroffizier gezwungen, mit dem gesamten Spähtrupp zu den Amerikanern zu desertieren. Viele Jahre wird er  mit „Makel“ eines Deserteurs zu kämpfen haben. Er wurde angegriffen von rechtsextremen Blättern2, die ihm vorhielten, auch noch andere zur Fahnenflucht überredet zu haben. Für Mike zählten diese Angriffe nicht, er hatte sich und seinen Kameraden vermutlich das Leben gerettet, denn militärisch hatten sie gegen die Alliierten ohnehin keine Chance gehabt. Später, als er sich schon im Auswärtigen Amt beworben hatte, kamen diese Vorwürfe wieder hoch.  Die Desertion ereignete sich am 1. November 1944. Zehn Tage später wurden in Köln – Ehrenfeld 13 Menschen öffentlich aufgehängt. Einige Hundert Schaulustige drängten sich um den Galgen in der Schönsteinstraße, um dem von den örtlichen NS-Behörden zur Abschreckung inszenierten Schauspiel beizuwohnen. Manche waren dazu gezwungen worden, andere kamen freiwillig. Unter den Ermordeten waren einige Zwangsarbeiter und Kriminelle sowie fünf Jugendliche, die in Kontakt zu den Edelweisspiraten in Köln standen. Ihnen wurde Wehrkraftzersetzung, Hochverrat, ein Mordanschlag und ein Mord sowie diverse kriminelle Handlungen vorgeworfen, die in den Augen der Gestapo und der Kölner Kriminalpolizei die öffentliche Hinrichtung „rechtfertigten“. Die Vernehmungen waren im Schnellverfahren durchgeführt worden, weil das Urteil schon vorher feststand und die Kölner ErmittlungsbehördenFahndungserfolgenachobenmeldenwollten. Während seiner Haftzeit im Zuchthaus Siegburg hatte Mike über Jean Jülich 4 (1929 – 2011) den Sohn eines Mitgefangenen Informationen über die Edelweisspiraten, die es in vielen Kölner Stadtteilen gab, erhalten. Mit Jean Jülich schmiedete er Pläne zur Flucht und zum bewaffneten Widerstand in Köln, die darin mündeten „die befreite Stadt den Alliierten zu übergeben.“ Als Mike von der brutalen Ermordung der Jugendlichen hörte, war er schockiert. Anfang der 80er Jahre setzte er sich für die Rehabilitierung der Ehrenfelder Edelweisspiraten ein. 

Von dem Plan, durch bewaffneten Widerstand Köln zu befreien und den Alliierten zu übergeben, schrieb er im Dezember 1946 in einem Brief an Karl Otto Paetel (1906 – 1975), einem ins Exil nach Paris geflohenen Journalisten,   der in den 30er Jahren zu den Vordenkern des „Nationalbolschewismus“ gehörte: „Ich glaube, dass wenn wir in den letzten Kriegsjahren genügende Führer für diese Jungen (die Edelweißpiraten) gehabt hätten, ja wenn man nur die Führer der bündischen Jugend vom Ausland irgendwie unterstützt hätte durch Waffensendung und politische Revolutionäre wieder nach Deutschland hätte zurückkehren lassen, es zumindest eine ernste Revolte im Rhein- und Ruhrgebiet gegeben hätte.“ Das waren mutige Gedanken eines 26-Jährigen, der um sein Überleben in der Kölner Trümmerwüste zu kämpfen hatte.  Kurz nach den Ereignissen in Ehrenfeld wurde Mike von der US-Armee als politischer Flüchtling anerkannt und unter den Schutz des Militärs gestellt. Vermutlich hat ihm dabei sein Kontakt zu Karl – Otto Paetel geholfen, der mittlerweile in die USA emigriert und als Hochschullehrer tätig war. Im März 1945 bekam Mike im „Civil Internment Camp“ (CIC), einem amerikanischen Internierungslager für potenzielle Kriegsverbrecher einen Job als Dolmetscher und gelangte anschließend mit der amerikanischen Armee nach Köln. Im Dezember 1945 fand er dank glücklicher Umstände und der tatkräftigen Hilfe der amerikanischen Kollegen des CIC seine Mutter wieder. Beide bezogen eine Wohnung in Winkelmannstraße in Köln – Ehrenfeld. Zur gleichen Zeit stellte er ein Entlassungsgesuch bei der amerikanischen Militärverwaltung, um zum Wintersemester 1945/46 das Studium der Geschichte, der Philosophie und des  Öffentlichen Rechts an der Universität zu Köln aufzunehmen. Aber er wollte nicht nur studieren, sondern auch wieder bündisches Leben in Köln organisieren. Deshalb gründete er Anfang 1946 die erste jungenschaftliche Gruppe, die etwas später in „Deutsche Jungenschaft e.V“ umbenannt wurde und im Bottmühlenturm am Kölner Chlodwigplatz zusammenkam. Schnell avancierte Mike zu einer wichtigen Figur innerhalb der nordrhein-westfälischen Jungenschaften, er firmierte als „Landesführer der Deutschen Jungenschaft“ und trat als solcher bei Veranstaltungen oder Meetings mit anderen Jugendführern auf.  Der Neubeginn in der deutschen Gesellschaft, die sich Ende der 40er Jahre aus der Schockstarre des Krieges zu befreien begann, war für Mike nicht einfach. Wie die meisten seines Jahrgangs hatte er ebenso prägende wie traumatisierende Erfahrungen während der NS-Zeit gemacht. Er war über viele Jahre mit Attributen wie Volksfeind, Hochverräter oder Deserteur stigmatisiert worden. Das hörte mit dem Ende des Krieges nicht einfach auf, er galt weiterhin als Außenseiter, was in gewisser Weise für ihn auch zutreffend war. Denn seine vermutlich wichtigste Prägung hatte er durch sehr enge Kontakte zu Karl – Otto Paetel erhalten. Paetel agierte im Umfeld von Ernst Jünger (1895 – 1998) und anderen „Sozialrevolutionären“ und musste 1935 fliehen – zunächst nach Prag, dann über Schweden weiter nach Paris und 1940 schließlich in die USA. Paetel hatte die Monatsschrift „Die sozialistische Nation“ gegründet, mit Ernst Niekisch (1889 – 1967) und Harro Schulze – Boysen (1909 – 1942) von der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ zusammengearbeitet und viele illegale Bündische mit seinen Schriften und Gedanken versorgt. 

Im Mittelpunkt der Gedankenwelt Karl – Otto Paetels stand das „Nationalbolschewistische Manifest“, das auch seine jugendlichen Zuhörer faszinierte, die ihn in seinem Pariser Exil besuchten. Der Inhalt des Manifestes, über das er mit seinen jugendlichen Zuhörer diskutierte, hatte es in sich. Es begann mit einem „Bekenntnis zur Nation als schicksalsmäßiger Ausdruck volkhafter Gemeinschaft“. Dann folgte ein Plädoyer für „planwirtschaftlichen Sozialismus und Brechung der kapitalistischen Ordnung“. „Volk und Nation“ sollten in „organischer Wirtschaftsgliederung“ gebunden werden, „die Produktionsmittel (sollten) in den Gemeinbesitz der Nation überführt“ werden. Und schließlich plädierte Paetel in seinem „Nationalbolschewistischen Manifest“ für eine „artgemäße dem deutschen Menschen entsprechende Religiosität als Voraussetzung völkischer Einheit.“ 7 Das alles sollte in einer „Bündnispolitik mit der Sowjetunion“ und in einem „Klassenkampf der Unterdrückten“ gegen alle münden, „die das privatkapitalistische Dogma von der Heiligkeit des Eigentums vertreten.“ Dieses Gedankengebäude, auf das während der Zeit des Nationalsozialismus wegen „Staatsgefährdung“ die Todesstrafe stand, prägte den jungen Mike Jovy, der den exilierten Schriftsteller in den 30er Jahren öfters in Paris besuchte. 

Bei diesen Besuchen tauchte er ein in die „nationalrevolutionäre“ Gedankenwelt Paetels.
Paetel diskutierte mit den Jungen aus Deutschland über die politische Lage im „Dritten Reich“ und die erhofften gesellschaftlichen Entwicklungen nach der NS-Herrschaft. Mike verteilte die Schriften Paetels unter Gleichgesinnten in Deutschland, vermutlich nicht ahnend, welche Gefahr damit verbunden war. Vor dem Volksgerichtshof jedenfalls waren die Kontakte zu Paetel und dessen Schriften die wichtigsten „Beweise für die  hochverräterische Tätigkeit Jovys“. Der Oberstaatsanwalt fügte seiner Anklageschrift sowohl den Briefverkehr zwischen Jovy und Paetel als auch einige Ausgaben der „Schriften junger Nation“ und der „Kameradschaft, Schriften junger Deutscher“ von Theo Hespers und Hans Ebeling bei – allesamt Fundstücke nach einer Hausdurchsuchung bei den mit Mike Angeklagten. Es ist unschwer zu erkennen, dass er von den Gedanken Paetels tatsächlich überzeugt war oder ihnen zumindest während der NS-Herrschaft eine hohe Plausibilität einräumte. 

Auch nach dem Krieg standen beide wieder in engem Briefkontakt. Paetel übte auf ihn immer noch große Faszination aus, er beeinflusste das Denken und Handeln des jungen Bonners nachhaltig. Aus den Briefen, die Mike unmittelbar nach dem Ende des Krieges an seinen „K. O.“ schickte, lässt sich erkennen, dass die Faszination zeitlebens anhalten sollte und dass Mike sich viele Gedanken Paetels zu Eigen gemacht hatte. Über seine Versuche, „unsere Jungen politisch zu erziehen“, schrieb er an Paetel: 

„Ich glaube kaum, dass es eine Jugendbewegung gibt, die sich konsequenter gegen jede Diktatur wenden wird, die es ablehnt, sich für irgendeinen militärischen Schwindel, auf den die lieben Deutschen so oft und gern hereinfallen, einsetzen zu lassen. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist neben einem gesunden und guten Nationalbewusstsein eine Weltoffenheit und internationale Einstellung heranzuziehen, die sich in fruchtbarer Weise ergänzen.“ 

Seine Begeisterung für die neue Jungenschaft, deren nordrhein-westfälischer Führer er 1948 war, wurde gebremst durch die Enttäuschung über die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft. Manchmal, schrieb er an Paetel weiter, überlege er, „wie lange es wohl nicht dauern wird, bis man wieder festgesetzt wird“ und klagt, dass man sich „wieder nach dem zackigen Rhythmus von Preußens Gloria in verschiedenen Kreisen sehnt.“ Noch deutlicher formuliert er seine Skepsis über die politische Entwicklung in Deutschland bei der Debatte um eine mögliche Wiederbewaffnung. Diese Diskussion nahm eigentlich erst 1952 nach der Entscheidung, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft ins Leben zu rufen, Fahrt auf. Aber Mike schrieb schon im Oktober 1948: „Ich warte nur noch darauf, dass die stärker entbrannte Diskussion über die Wiedereinführung einer Wehrmacht in die Tat umgesetzt wird, dann reicht es mir völlig.“ Die Briefe aus dieser Zeit offenbaren einen jungen Mann, der voller Widersprüche war und zwar einerseits mit Zuversicht in die Zukunft blickte, andererseits aber auch reichlich desillusioniert wirkte. Das galt für viele der Generation, der zwischen 1920 und 1930 Geborenen. Sie alle hatten ihre wesentliche Prägung in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren, manche waren auch schon bewusste Zeitzeugen der widersprüchlichen Geschichte der ersten deutschen Republik gewesen. Diese Republik wurde am Ende ihrer Zeit auf der Straße zerlegt. Sie war gescheitert an den Startbedingungen eines „Friedensvertrages“, der den Keim des nächsten Krieges in sich trug. Sie konnte den Lügen um den verlorenen Ersten Weltkrieg und dem „Versagen der Heimatfront“ kein eigenes Narrativ entgegensetzen und je größer die Schwierigkeiten nach zwei extremen ökonomischen Krisen in den Jahren 1922/23 und 1929 bis 1932 waren, desto geringer wurde die Zahl derer, die das Wagnis einer deutschen Republik zu verteidigen im Stande waren. Unter diesen Bedingungen konnte die Weimarer Republik kein staatliches Konzept entwickeln, das genügend Akzeptanz gefunden hätte, diese deutsche Republik zu verteidigen. Und sie konnte die junge Generation nicht für sich gewinnen. 

In der komplizierten politischen Gemengelage der Weimarer Republik entwickelte sich aber das bündische Leben prächtig. Nicht nur Mike, sondern viele Tausend Jungen – und mitunter auch Mädchen – sahen im bündischen Leben eine attraktive Alternative zum tristen Alltag einer Gesellschaft, die am Beginn der 30er Jahre im Strudel von Straßenschlachten und radikalen politischen Auseinandersetzungen allmählich zu Grunde ging. Höhepunkt der bündischen Jugendkultur war dabei die Gründung der stilprägenden „deutschen jungenschaft vom 1.11.“ durch Eberhard Koebel-tusk. Da reines Mitläufertum für die meisten ausgeschlossen war, gab es für die in diesen bündischen Gruppen geprägten Menschen nach 1933 eigentlich nur zwei Möglichkeiten: In die Organisationen von Jungvolk und Hitlerjugend zu gehen oder ein mehr und mehr illegalisiertes bündisches Leben außerhalb der im Dezember 1936 zur alleinigen Jugendorganisation erklärten Hitlerjungend aufrecht zu erhalten. Für beide Wege gibt es eine Vielzahl von Beispielen. 

Eines davon könnte der Lebensweg von Mike sein. Im März 1946 beschrieb er in seiner Vita, wie er schon in „ganz jungem Alter Fahrten und Lager der katholischen Jugendbewegung“ mitgemacht hat. Wenn man bedenkt, dass der Anteil an der bündischen Opposition gegen die Hitlerjugend und später gegen andere staatliche Organe durch Jugendliche, die vorher in einem – meist katholisch - kirchlich geprägten Bund gewesen waren, signifikant hoch war,  dann ist seine resistente Haltung gegenüber den Anforderungen des NS-Staates wohl auch hierdurch erklärbar.  1946 schrieb er weiter, er sei als 12Jähriger 1932 dem „Neudeutschland“ beigetreten. Dieser durch den Jesuitenorden gegründete Bund setzte auf ein „neues“ und vor allem christliches Deutschland. In diesem Sinne wurden die „Schüler höherer Lehranstalten“ – und nur für die war der Bund gedacht – erzogen, geprägt und in gewisser Weise auch gegen die nationalsozialistische Ideologie imprägniert. Mike durchlief diesen prägenden Bund seit Anfang der 30er Jahre und hatte zudem ein Erlebnis zu verarbeiten, dass tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben muss:  „Ich weigerte mich wie viele meiner Kameraden in die Hitlerjugend  einzutreten, schon allein aus dem Grunde, dass die Nazis (...) meinen  verstorbenen Vater unrechtmäßigerweise auf übelste Art beschimpften“. Nach den Ausführungen des Oberstaatsanwalts beim Volksgerichtshof vom 16. April 1941 war Mike zwischen 1934 und 1936 im „Grauen Orden“, einem katholischen Bund, der trotz Verbot und Verfolgungen durch die staatlichen Behörden lange Zeit bündisches Leben aufrechterhalten konnte. Der Graue Orden stand exemplarisch für die besonders resistente Verquickung von katholischer Gedankenwelt - etwa eines Romano Guardini (1885 – 1968) - und jungenschaftlich-bündischer Lebensweisen. Für viele Mitglieder des „Grauen Ordens“, zu dem übrigens auch Willi Graf von der „Weißen Rose“ gehörte, war diese Prägung stark genug, um den Drohungen und später auch Verfolgungen des Staates und der Hitlerjugend zu widerstehen.